Es galt jahrhundertelang als eine Sünde, eine erheblich schwere noch dazu; so gravierend, dass Suizid heute noch in vielen Ländern als illegaler Akt geahndet wird. Doch, was bedeutet es, wenn der Suizid im Familienkreis oder im Umfeld passiert, und wir mit diesem Thema konfrontiert werden?
Ein ganz persönlicher Kommentar von Oliver Suchanek
Der Tod durch Suizid erscheint für die Angehörigen und das Umfeld oftmals sehr unerwartet, auch wenn die verstorbene Person bereits schon länger an psychischen Problemen litt. Man fragt sich, wie es letztendlich dazu führen konnte; man versucht die Gründe zu verstehen und ist damit konfrontiert sich mit der aufwühlenden und belastenden Zeit auseinanderzusetzen. Es herrscht Schock, Trauer, Wut, Scham und Schuld. Gedanken wie, ob sie die Tat nicht hätte kommen sehen oder gar verhindern können, begleitet vielen ihr ganzes Leben lang. Genauso beschäftigt man sich mit Stigmatisierung und der eigenen Suizidalität.
Vor einem Jahr befand ich mich unfreiwillig und „plötzlich“ selbst in der Rolle, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, als ich erfuhr, dass sich meine kleine, siebzehnjährige Schwester Ende August 2018 das Leben nahm. Ich wachte am nächsten Morgen mit mehreren verpassten Anrufen von vier Uhr morgens auf und einer Nachricht, dass ich unbedingt zurückrufen soll. Wenige Stunden später saßen meine Geschwister und ich versammelt in der erdrückende Stille im Wohnzimmer der Mutter. Ein surreales Gefühl. Die erste Woche nach diesem Tag war ich nicht mehr als eine emotionslose Hülle; vor allem wusste ich auch einfach nicht, wie ich darauf reagieren soll. Sie hatte keine Notiz hinterlassen und nichts getan, um irgendwelches Misstrauen zu erwecken.
Ich weiß noch, wie ich in den ersten zwei Monaten nach dem Schock mit einer ständigen Wut auf die Welt herumlief – nicht, weil sie sich umbrachte, sondern darauf, dass das Leben einfach so weiter ging, ohne für mich die Möglichkeit zu haben, für einen Moment innezuhalten, da die Ausbildung im September direkt weiterlief. Ich war besonders wütend auf mich selbst, dass ich ständig mit zwei wesentlichen Fragen herumlief: Kann ich einfach so erzählen, was passiert ist? Darf ich auf die Frage „Wie geht es dir?“ mit „Ich weiß es nicht, meine Schwester hat sich umgebracht. Und dir?“ antworten? Ich bin eine direkte und offene Person, und auch, wenn ich mit einigen Menschen darüber reden konnte, haderte ich dennoch mit den Zweifeln herum, darüber wirklich reden zu dürfen. Viel zu sehr schreckte ich vor dem Gedanken zurück, dass dies als eine verzweifelte Möglichkeit, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aufgefasst wird oder ich mit Ausgrenzung konfrontiert werden würde.
Schweigen ist Silber, Reden ist Gold
Neben Gefühlen wie Trauer und Schuld, löst Suizid oder ein Suizidversuch auch bei Menschen, die nicht direkt betroffen sind, Empfindungen wie Ärger, Ablehnung oder gar Unsicherheit aus. Nicht selten fühlen sich viele verunsichert und unbeholfen, wie man den Hinterbliebenen angemessen begegnen kann und zieht dem Schweigen den potentiellen Unannehmlichkeiten vor. Das hat zur Folge, dass sich viele Hinterbliebenen immer mehr zurückziehen und/oder tiefer in die Depressionen verstecken, so wie es auch mir passierte. Bis Ende November steckte ich in meinen Depressionen fest, ohne Aussicht auf eine persönliche Besserung. Gleichzeitig stand ich unter dem Druck, nichtsdestotrotz im Alltag zu funktionieren und in meiner Ausbildung nicht nachzulassen.
Wenn ich eines durch den Verlust meiner Schwester gelernt habe, dann ist es, dass es keine Regeln bzw. Richtlinien gibt, wie eine Suizid-Trauer aussehen soll und Trauer, allgemein, kein linearer Prozess ist. Endgültige Schlussfolgerung gibt es kaum. Wie trauert man um jemanden, der auch für seinen Tod selbst verantwortlich ist? Es gibt keine Anleitung, wie man sich verhalten soll, wenn ein jüngeres Geschwister, für das man sich immer verantwortlich gefühlt hat, beschließt, das eigene Leben zu beenden.
Wenn wir über Suizid berichten, geschieht dies oft im Zusammenhang mit Faktoren, die zu dem Ereignis geführt haben und wie es hätte verhindert werden können. Auch wenn wir diverse Warnsignale nach zwei Sekunden Internetrecherche herausfinden können, kann man sich darauf sehr unwahrscheinlich vorbereiten bzw. sich wappnen.
Es wird massiv unterschätzt, wie sehr einfühlsame Gespräche tatsächlich Leben retten können. „Wenn du etwas brauchst, dann kannst du dich ruhig melden“ – eine Floskel, die zwar durchaus aufrichtig von Herzen kommen mag, aber seien wir einmal ehrlich, die Chance, dass wir so ein Angebot annehmen, ist unglaublich gering. Zu oft weiß man einfach nicht, was man selbst wirklich braucht bzw. einem helfen könnte. Viel förderlicher ist es, konkrete Vorschläge von Aktivitäten oder Ablenkungsmöglichkeiten anzubieten – nicht nur, dass man dann das Gefühl hat, bei etwas erwünscht zu werden, erreicht es auch einen besonderen Effekt: Es zeigt, dass man sich konkrete Gedanken um die Person macht. Ich persönlich war auf die Fragen, wie „Hast du heute schon etwas gegessen?“ und „Was war dein Lichtblick in dieser Woche?“ viel eher zugänglich, als wenn man mich fragen würde, wie es mir ginge (Spoiler: Natürlich nicht gut). Sprich nicht, nur um die Stille zu füllen und denk nicht zu viel darüber nach, welche Reaktion die richtige sei. Versuch‘ nicht, das Problem zu beheben, da dies nicht möglich ist. Sei im Moment da, u m zu verstehen, wie sich die Welt der betroffenen Person verändert hat.