„Leid und Herrlichkeit“ beginnt mit einer Szene, mit der Regisseur Pedro Almodóvar sich selbst zitiert: ein Mann steht in einem Schwimmbecken unter Wasser, auf dem Grund, verharrend, als wolle er nachdenken.
So stand schon einmal Juan in „La Mala Education“ da, abwartend, unter Wasser, verborgen und doch sichtbar. Es ist eine Art, die Zeit anzuhalten, die Gegenwart zu ignorieren und irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft zu hängen. Jemand versteckt sich, überlegt vielleicht sogar, ob er überhaupt wieder auftauchen sollte. Der da unter Wasser steht, heisst Salvatore Mallo, ist Filmregisseur, wie Almodóvar. Mallo ist an einem Tiefpunkt seines Lebens angekommen. Nichts Dramatisches, er ist nur müde.
Er, der jahrzehntelang von einem Film zum nächsten eilte, macht keine Filme mehr; statt dessen verbringt er die Tage in seiner hübsch eingerichteten Wohnung, schluckt Tabletten und lächelt nichtssagend, wenn alte Freunde sich um ihn sorgen.
Statt also die Gelegenheiten der Gegenwart weiterhin wahr zu nehmen, erinnert sich Salvatore scheinbar in Rückblenden an seine Kindheit bei seiner zärtlichen resoluten Mutter, die beim Wäschewaschen mit den anderen Frauen singt und mit ihm eines Abends an einem Bahnhof strandet, wo alle Züge schon abgefahren sind.
Doch die Handlung beginnt wohl erst wirklich, als ein alter Kult-Film von Salvatore zum 30jährigen Bestehen wiederaufgeführt werden soll. Der Ruhm hat Salvatore, wie auch Almodóvar, schon einen Platz am Kinohimmel gesichert. Er wird geliebt, verehrt und ausgezeichnet. Aber glücklich ist er nicht.
Er besucht den früheren Hauptdarsteller Alberto, mit dem er damals im Krach auseinander gegangen war, wegen dessen Drogensucht. Auch jetzt liegt wieder eine Rolle Alufolie zum Erwärmen von Kokain in der Wohnung des Schauspielers herum. Aber diesmal rauchen sie gemeinsam, Salvatore ist es jetzt egal. Erst vermutet man eine alte Liebesgeschichte, aber so wichtig war es nicht. Sie begraben lediglich den früheren Streit und verpassen gemeinsam grinsend die wichtige Cineasten-Veranstaltung. Eine fröhliche Mittelfinger-Geste Almodóvars in Richtung Ruhm.
Es stellt sich heraus, dass Alberto nur die erste von drei Stationen auf der mentalen Reise Salvatores in seine Vergangenheit ist. Drei Stationen – drei Männer. Diese Alberto-Episode greift in die nächste, als er auf Salvatores Computer eine Erzählung entdeckt, die nie veröffentlicht wurde. „Sucht“ ist ihr Titel, und dieser meint eine andere Sucht als die nach Kokain.
Alberto, begeistert vom Text, organisiert eine Lesung. Der nächste wichtige Mann in Salvatores Leben, Federico, ist bei dieser Lesung anwesend. So beginnt die nächste Station. Federico besucht Salvatore. In diesem einzigen nächtlichen Gespräch der beiden bei Tequila umreisst Almodóvar ihre Beziehung. Ist Federico die grosse wahre Liebe? Eher eine verzweifelte Leidenschaft, die „Sucht“ des schwulen Salvatore nach einem schönen Mann, der leider eigentlich nur Frauen liebt. Aber, auch das schafft die Zeit, Salvatore ist nicht mehr süchtig nach ihm. Die Frage Federicos, schon von der Tür her: „Soll ich noch hierbleiben und mit dir schlafen?“ wirkt herablassend. Nein, danke. Wohin geht die Reise des Films noch? Immer wieder werden die Rückblenden aus Salvatores Kindheit gezeigt.
Die seltsame Höhlenwohnung, in die der kleine Salvatore mit den Eltern zog. Das eigentümliche Oberlicht als einzige Lichtquelle, die schmutzigen Wände, die noch nicht geweisst sind, kein fliessendes Wasser, der Vater nie da, weil er Geld verdienen muss. Eines Tages ist ein Mädchen aus dem Dorf mit ihrem Freund da, Albañil, ein junger Arbeiter. Sie beschwert sich, dass sie nicht einmal einen Liebesbrief von ihm bekommt, weil er weder lesen noch schreiben kann. Sie wird sich mit Salvatores Mutter handelseinig. Der achtjährige Salvatore bringt dem 21jährigen Albañil Lesen und Schreiben bei, und dieser weisst dafür die Wohnung der Mallos.
Das führt zur dritten, frühesten und wichtigsten Geschichte in Salvatores Leben, die ihn für immer verändern wird. Die zarteste Liebesgeschichte überhaupt, in der niemand von niemandem je etwas verlangt hat. Und in der beide nur etwas gegeben haben: Albañil kann fortan schreiben und lesen, und Salvatore hat jenes Bild, das Albañil einst von ihm gezeichnet hat: ein kleiner Junge liest in einem Buch im Oberlicht der Küche. Und die Erinnerung an einen Augenblick, den Salvatore nie vergessen wird.
Selten arbeitet ein Film nur auf einen einzigen Moment hin, schon gar nicht so sorgfältig und scheinbar beiläufig wie hier. Almodóvar ist jetzt schon eine Ikone nicht nur des spanischen Kinos, sondern des Weltkinos. Spätestens seit dem Film „Das Gesetz der Begierde“ (1987), dem ersten Film von Almodóvar, der in (West)-Deutschland lief, ist der offen schwule Filmemacher bekannt dafür, dass er seine Geschichten denen widmet, die er sehr gut kennt: Homosexuelle Männer und Frauen, Transsexuelle, Prostituierte, Drogenkriminelle. Dies bestimmt die Perspektive der Almodóvar-Filme, und das Kino verdankt ihm die Selbstverständlichkeit der Erzählung vom gesellschaftlichen Rand her, als würde sie sich mitten im Zentrum befinden.
Almodóvar erzählte von priesterlichem Missbrauch („La Mala Education“), innerfamiliärer Vergewaltigung, Flammentod und Auferstehung („Volver“), Geschlechtsumwandlung („Alles über meine Mutter“), Ganzkörper-Hauttransplantationen („Die Haut, in der ich wohne“), unstillbaren Leidenschaften („Zerrissene Umarmungen“), und immer wieder unglücklichen Liebesgeschichten, Lügen und Morden, und das alles mit starker erzählerischer Logik und grosser dramaturgischer Disziplin. Seltsam leicht sind Almodóvars Filme – und schmerzerfüllt zugleich. Die Übersetzung des spanischen Titels des aktuellen Films ist etwas beliebig geraten; genauer müsste er heissen: „Schmerz und Ruhm“.
Antonio Banderas, der einst bei Almodovar begann, dann nach Hollywood ging und später zurückkehrte zu seinem Lieblingsregisseur, spielt den sachte alternden Salvatore; Penelopé Cruz ist wieder eine fürsorgliche Mama wie in „Volver“, der kleine Salvatore wie alle Kinderrollen bei Almodóvar ernsthaft und verständig besetzt.
Einst aus der wilden Kulturbewegung Movida Madrileña der befreiten Jahre nach dem Tod des Faschisten Franco 1977 hervorgegangen, wurde der Aussenseiter Almodóvar ein Liebling der Festivals und Cinematheken. Dass diese Balance für den heute 70jährigen Almodóvar bestimmt nicht immer leicht ist, legt dieser Film nahe. Ganz an dessen Schluss erst deckt der Regisseur auf, was es mit den scheinbaren Rückblenden auf sich hat. Ein für Almodóvar typisches Spiel mit den Zeitebenen, mit Traum, Film und Realität. Denn wer weiss schon genau, wo da die Grenzen sind?
Der Beitrag von Angelika Nguyen wurde auf telegraph.cc erstveröffentlicht und unter Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz von unserem Medienpartner Untergrund-Blättle übernommen.