Von Hubert Thurnhofer

„Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens hat Konjunktur. Die Utopie kann aber schnell im Gegenteil enden“, schreibt Jan Michael Marchart in der Wiener Zeitung am 28.4.2018 unter dem Titel „Eine bedingungslose Falle“. Doch es geht um mehr als ein alternatives Sozialsystem und die „soziale Hängematte“. Es geht um Menschenrechte. Und es geht um Alternativen zum bestehenden Finanzsystem.

Scheinbar grundlos publiziert die Wiener Zeitung die Analyse von Jan Michael Marchart über eine „sozialromantische Utopie“. Denn es gibt keinen neuen Feldversuch und die erste Volksabstimmung der Schweizer zu diesem Thema liegt auch schon wieder zwei Jahre zurück. Doch: „Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens hat Konjunktur“. Damit konzediert der Autor aber, dass es um mehr geht als eine Utopie. Meine Gegenthese: das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist eine Realutopie!

Im Unterschied zur Utopie, die im richtigen Leben als nicht realisierbar gilt, ist die Realutopie nicht nur Fantasy, sondern denkbar und realisierbar. Thomas Morus hat Utopia auf einer abgeschotteten Insel angesiedelt, seine Utopie ist demnach ein geschlossenes System. Eine Realutopie muss natürlich offene Systeme fördern und kann nur dann zum Erfolg führen, wenn im bestehenden System die Weichen für das neue System gestellt werden. Eine Realutopie muss daher die alternativen Schienenstränge nach der Weichenstellung aufzeigen, denn mit Sicherheit entgleist der Zug, wenn er nach der Weichenstellung ungebremst auf das Abstellgleis fährt. Und dahin führt jede lineare Analyse, die hinter der Weiche keine anderen Ziele sieht als vor der Weiche.

Schon 1985 haben Lieselotte Wohlgenannt und Herwig Büchele das Buch „Grundeinkommen ohne Arbeit“ veröffentlicht. Das aufkommende Computerzeitalter und die fortschreitende Automatisierung der Industrie gaben damals Anlass zu Befürchtungen, dass sich eine Zwei-Drittel-Gesellschaft formieren werde. Demnach werde die Arbeit immer weniger und ein Drittel der Menschen werde früher oder später ohne Arbeit bleiben. Ein Grundeinkommen ohne Arbeit sollte deshalb absehbare soziale Unruhen verhindern.

Die meisten Analysen in Bezug auf die Schöne neue Welt von Industrie 4.0 und Internet 4.0 sind auf diesem Diskussionsniveau stehen geblieben. Sowohl Gewerkschafter als auch Neoliberale sehen das Grundeinkommen nur in linearer Abfolge von Arbeit, d.h. als Einkommenssicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit. Paradoxer Weise bewertet der Gewerkschaftsflügel das Grundeinkommen negativ, weil er die Arbeit mittlerweile als Menschenrecht des Arbeitnehmers sieht, während der neoliberale Wirtschaftsflügel offenbar dem durch Roboter ersetzten Arbeitslosen eine Grundsicherung zugesteht, denn nur so können die immer weniger Besserverdiener und Spitzenverdiener ihren Reichtum ungestört genießen.

Wohlgenannt/Büchele haben sich bald nach Publikation ihres Buches von der Formulierung „Grundeinkommen ohne Arbeit“ distanziert, da es um mehr geht, nämlich die Bedingungslosigkeit. Anders gesagt, es geht um den 1. Artikel der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Ich halte diesen Satz für eine der höchsten Leistungen der Zivilisationsgeschichte. Er ist aber bislang reine Utopie geblieben. Denn in keinem Rechtssystem kann er eingefordert oder eingeklagt werden. Anders gesagt: der Artikel 1 gilt bedingungslos, aber nicht unter den Bedingungen der real existierenden Gesetze.

Sicher ist „die Welt“ für das BGE noch lange nicht reif, aber in Europa halte ich es für umsetzbar – und zwar noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Wie Marchart einleitend richtig bemerkt: „Wir leben in einer Ära vielschichtiger Unsicherheiten.“ Konkret erwähnt er aber nur jene, die das Arbeitsleben verändern werden. Doch dabei geht er weder in die Tiefe, noch in die Breite. Um das Thema Arbeitswelt zu vertiefen müsste der Begriff „Arbeit“ der Realität des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Dazu unumgänglich ist die Auseinandersetzung mit dem Leistungsbegriff und der damit kausal verknüpften Entlohnung.

Arbeit ist für den Gewerkschaftsflügel bis heute Lohnarbeit. Wenn ich meine betagten Eltern betreue, ist das demnach keine Arbeit, wenn die gleiche Leistung eine Pflegekraft erbringt, ist es Arbeit. Als Unternehmer verbringe ich viele Stunden mit Kontaktpflege, Marketing und PR – grundsätzlich ohne Entlohnung und meist ohne Return on Investment. Dafür mit dem Privileg, 80 Stunden pro Woche arbeiten zu dürfen. Die anstrengendste Arbeit des vergangenen halben Jahres, die ich exakt am Tag der Arbeit zum Abschluss bringen konnte, war die Lektüre des „Kapital“ von Karl Marx. „Arbeit“ war das nur, wenn es mir gelingt, mit einem Vortrag darüber (das ist eine Angebot an den Gewerkschaftsbund und die AK!) einen Mehrwert zu generieren.

Tatsächlich sind Arbeitnehmer und Lohnempfänger mit regulären Kollektivverträgen heute im Vergleich zu den meisten Selbstständigen (und Scheinselbstständigen insbesondere im Pflegebereich) in einer privilegierten Situation. Wenn Flugzeugpiloten oder Lokomotivführer mit dem Vorwand des Streikrechts hunderttausende unbeteiligte Menschen gleichzeitig in Geiselhaft nehmen, so hat das nichts mehr mit „Arbeitskampf“ zu tun.

Piloten und Lokführer sind ein beliebtes Beispiel für das traditionelle System, das die Höhe des Lohns mit Leistung und Verantwortung argumentiert. Im Vergleich dazu müssen die Stewards nur aufpassen, dass sie den Flug- oder Fahrgästen keinen Kaffee auf die Hose schütten. Dass sie im Ernstfall auch für Security und Erste Hilfe zuständig sind, ist in den mittlerweile kärglichen Gehältern dieser Crewmitglieder sicher nicht eingepreist. Ganzheitlich betrachtet ist die Diskrepanz der Gehälter zwischen Vorständen einer Fluggesellschaft, ihren Piloten und ihren Gepäckträgern mit Sicherheit nicht mit „Leistung“ argumentierbar.

Das BGE könnte die Einkommensschere wieder schließen. Denn Koffer schleppen für einen Schandlohn während im gleichen Unternehmen Spitzengehälter mit Bonuszahlungen aufgefettet werden (nicht aufgrund der erbrachten Leistungen, sondern aufgrund der standesüblichen Verträge) – wenn das BGE nur diese Unsitte beseitigen würde, wäre es schon ein Erfolg. Wenn ich statt über eine namenlose Fluglinie über Amazon schreiben würde, hätte ich an der Stelle wohl auch die Zustimmung der Gewerkschaften. Was die wenigsten wissen: Amazon hat bereits eine eigene Flugzeugflotte, aber das ist ein anderes Thema. Das relevante Thema in Zusammenhang mit dem BGE lautet: Verteilungsgerechtigkeit.

Wer über Verteilungsgerechtigkeit spricht muss sich Gedanken über Umverteilung machen. Die übliche Form der Umverteilung läuft über das Steuersystem und über die Einrichtungen des Sozialstaates. Wenn Gewerkschafter ausgerechnet durch das BGE den Sozialstaat in Gefahr sehen, so ist das absurd. Natürlich kann nicht das BGE eingeführt und oben drauf noch der bisherige Sozialstaat mit allen bestehenden Einrichtungen, Regeln und Privilegien fortgesetzt werden. Die Frage nach der Finanzierbarkeit des BGE gehört zum Hauptargument der Kritiker. Doch diese Frage stellt sich auch ständig in Bezug auf das besehende Sozialsystem. Insbesondere zum Problem der Überalterung (bei gleichzeitig zu erwartender höherer Arbeitslosigkeit) hat das bestehende Sozialsystem keine Antworten!

Im Vergleich zur Frage nach der Finanzierbarkeit des BGE ist die Frage nach der Finanzierbarkeit der Banken kinderleicht zu beantworten. Banken sind systemrelevant und müssen daher finanziert werden. Das ist alternativlos. Punkt. Zum Grundeinkommen gibt es aber (noch) Alternativen, die heißen Mindestsicherung in Österreich und Harz IV in Deutschland. Und es gibt bereits Grundeinkommen für Teile der Bevölkerung – nicht bedingungslos, aber bislang gut bewährt: die Pensionen. Zur Erhaltung dieses Systems brauchen wir das BGE nicht, diese Idee ist daher noch nicht systemrelevant.

Das Banksystem dagegen ist systemrelevant. Nicht nur die EZB-Milliarden finanzieren die Systemerhaltung des Bankenapparats. Die Banken finanzieren sich auch selbst, indem sie ihr Geld vor allem in Finanzprodukte (also Konstruktionen von Banken und Fonds) investieren und möglichst wenig in die Realwirtschaft abfließen lassen. Die Blase ist längst unübersehbar, aber die Banker lassen sich gut dafür bezahlen, dass diese nicht platzt. Wenn sie aber platzt, und sie wird platzen, so wie jede Blase platzen muss – das wissen die meisten schon seit 2001, manche erst seit 2008 – dann könnte das BGE die Folgen dieser Katastrophen abfedern.

Hier kommt ein Aspekt ins Spiel, über den auch die Anhänger des BGE bislang noch wenig nachgedacht haben: ein alternatives Währungs- und Geldsystem. Mit alternativen Währungen (damit meine ich keine Kryptowährungen, die aufgrund ihrer Technologie nicht barrierefrei und aufgrund ihrer Konzeption nicht demokratisch sind) wird bereits experimentiert, doch noch niemand hat die Themen BGE und alternative Währung systematisch zusammen geführt.

Das BGE wird bislang vorwiegend als alternatives Sozialsystem diskutiert. Aber es braucht auch ein alternatives Steuersystem. Und es braucht Neubewertungen der gesellschaftlich relevanten Leistungen und die Umwertung antiquierter Begriffe und Einstellungen. Dazu stelle ich vier Thesen zur Diskussion:

1. Leistung bemisst sich am Wert für die Gesellschaft, nicht an den internen Usancen einer Branche.

2. Beruf kommt von Berufung – nicht von „Job“ und nicht von „Erwerbstätigkeit“.

3. Arbeit kommt von sinnvoller Beschäftigung für das Gemeinwohl, nicht von Lohnarbeit.

4. Geld ist nicht die Grundwährung eines Staates, sondern das Vertrauen seiner Bürger.

Ich frage mich oft, warum hochbezahlte Experten in den Nationalbanken nicht über Alternativen zum bestehenden Geldsystem nachdenken. Bestenfalls gibt es Überlegungen über die Frage ob der Euro den Dollar als Weltwährung ablösen kann oder ob der Euro im Gegenteil zum Scheitern verurteilt ist. Als ob die Währungsfrage die Essenz des Geldsystems wäre! Bei einem anderen Reizthema steigen sogar Wirtschaftsprofis auf die Barrikaden: sooft das Gerücht, wonach das Bargeld abgeschafft werden soll, in Umlauf gebracht wird. So, als würde es nach Abschaffung des Goldstandards noch einen prinzipiellen Unterschied machen, welche äußere Form das Geld annimmt.

Philosophisch betrachtet gilt die Formel: Geld = Vertrauen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auf Basis dieser einfachen Formel sollten die Nationalbanken – besser heute als morgen – damit beginnen, über Geldsysteme der Zukunft nachzudenken. Und in diese Überlegungen müssen die bisherigen Konzepte zum BGE einfließen.

Resümee: Es ist erfreulich, wenn wohlhabende Neoliberale den Lohnabhängigen ein Grundeinkommen zugestehen um in Folge der 4. Industriellen Revolution die Entwicklung eines Lumpenproletariats zu verhindern. Doch alle Arbeitsmarkt-Prognosen über Industrie 4.0 und Digitalisierung kennen wir schon aus den 1980er Jahren, als gerade die ersten Computer in die Büros geliefert wurden. Sie haben sich nicht erfüllt. Tatsache ist: es gibt immer Arbeit (die Frage ist nur, was man darunter versteht), aber es gibt nicht für jede Arbeit die angemessene Entlohnung. Das BGE wird den Druck auf Konzerne erhöhen angemessen zu bezahlen. Wer aber der Meinung ist, es sei wichtiger, alle drei Teile des „Kapital“ oder die kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ zu lesen, Kunstwerke zu schaffen oder Lieder zu komponieren, im Park Kastanien zu sammeln oder Beeren im Wald – der soll diese Möglichkeiten frei verwirklichen können. Dank Industrie 4.0 können wir uns das (zumindest in Europa) erstmals in der Geschichte leisten! Doch all das sind Luxusprobleme im Vergleich zum bevorstehenden Finanzcrash. Das BGE – ich wiederhole: in Kombination mit einem alternativen Geldsystem – ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit, die schlimmsten Folgen abzufangen.

 

Hubert Thurnhofer ist österreichischer Autor, Galerist, Querdenker und Philosoph.
Auf seiner Webseite www.thurnhofer.cc publiziert er unter anderem Artikel zu Gesellschaft, Kunst, Ethik und Moral.

 

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