Am Freitagabend hat sich erneut, die sonst eher resignierte und politikmüde ungarische Jugend, friedlich vor dem ungarischen Parlament versammelt, um gegen das neue Überstundengesetz, das „Sklavengesetz“, wie es auch genannt wird, zu protestieren (siehe hierzu auch auf Pressenza).
Alle Oppositionsparteien von links bis extrem rechts haben gestern gemeinsam, nachdem das Gesetz vom ungarischen Staatspräsidenten János Áder unterzeichnet wurde, spontan zu einer Gross-Demonstration unter dem Slogan „Schäm dich, János“ aufgerufen.
Um 20 Uhr versammelten sich vor dem Parlament zigtausend Menschen in einer buntgemischten Menge, die mit Musik, Trommeln und kreativen Transparenten alles andere als einen resignierten Eindruck machten. Nicht wie bei früheren Protesten, wo man sich zwar nochmal aufbäumte, aber es jedem schon klar war, dass man erneut gegen die abgehobene und arrogante Politikelite der Regierungspartei FIDESZ verloren hatte. Gestern entstand der Eindruck, dass sich die Opposition erst gerade warmgelaufen hat, und mit viel Lust und Elan der antidemokratischen Regierung den gewaltfreien Kampf angesagt hat und dabei die Unterstützung der Jugend genießt. Ob die Protestbewegung einen ausreichend langen Atem haben wird, muss sich zeigen. Aber vielleicht kann sie sich dazu Schwung von der Protestwelle holen, die in mehreren europäischen Ländern angerollt ist (siehe auch Protestiert bald halb Europa?).
Das „Sklavengesetz“ erlaubt den Unternehmen in Ungarn die Arbeitnehmer zu jährlich 400 Überstunden zu zwingen und die Bezahlung bis zu 3 Jahren hinauszuzögern. Das kommt einer schleichenden Einführung der Sechstagewoche gleich und ist ein gutes Beispiel dafür, wie nahe sich Raubtierkapitalismus und nationalistische Regierungen sind. Oder präziser ausgedrückt, dass der Neoliberalismus vermehrt auf Rechtspopulismus und Neo-Faschismus setzt, um seine Interessen durchzusetzen, wie man auch außerhalb von Europa, unter anderem bei der Regierung Macri in Argentinien und Bolsonaro in Brasilien, beobachten kann.
Vom Parlament zogen die Demonstranten ins Burgenviertel hoch und versammelten sich vor dem Amtssitz des ungarischen Staatspräsidenten. Sowohl auf die Residenz wie auch auf das Parlamentsgebäude wurde übergroß die Schriftzeichen „O1G“ projiziert.
Der Schriftzug basiert auf einer Schimpftirade des ehemaligen Wegbegleiters und Freundes des Ministerpräsidenten, Lajos Simicska. Der ungarische Oligarch konnte unter Orbans Herrschaft ein Firmenimperium aufbauen, hat sich aber im Streit von ihm getrennt. Simicska’s öffentliche Aussauge über seinen ehemaligen Weggefährten „Orbán egy geci“, in der deutschen eher abgeschwächten Übersetzung „Orban ist ein Dreckskerl“, hat die Opposition kurzerhand als Hashtag O1G aufgegriffen und ist als Symbol des Protestes allgegenwärtig.
Fotoreportage von Reto Thumiger: