Im Juli 2015 wurde Griechenland Opfer von EZB plus Eurogruppe und es wurde der europäischen Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass ein soziales Europa eine abstrakte Forderung bleiben muss, denn fortschrittliche Sozialpolitik war für überverschuldete Länder innerhalb des Euroraums nicht mehr möglich.

Sozialstaatlichkeit ist im Rahmen nationalstaatlicher Demokratie entstanden und die supranationale Technokratie Brüssels bedroht diese insbesondere in der südlichen Peripherie.

Die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel veröffentlichte 6 Monate vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 15.11.2018 im Tagesspiegel die Gastkolumne „Europa braucht einen radikalen Neubeginn“. Darin meint die Parlamentarierin, dass „von einer ursprünglichen Idee der Lissabon-Verträge, der Angleichung der Lebensverhältnisse“, kaum jemand mehr spreche. Politiker reden gern über den Geist der Verträge, um die Essenz eines positiven Abkommens zu unterstreichen, das vermeintlich nur nicht richtig umgesetzt werde. Aber kann es 2018 noch statthaft sein, das EU-Primärrecht unter Hinweis auf seine positiven Klauseln begreifen zu wollen?

An dieser Stelle sei erinnert an die Eurogruppe, die im Frühsommer 2015 traurige Medien-Bekanntheit erlangte während ihrer Erpressungen zur Entzweiung des Tandems Tsipras-Varoufakis: Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vor 9 Jahren hat dieses Gremium, bestehend aus den Finanzministern des Euroraums, erstmals auch einen formalen europarechtlichen Status erhalten. Spätestens diese Zäsur des Frühsommer 2015, die Entmündigung des griechischen Volks (siehe: El Eurogrupo contra Atenas: cronología de un golpe orquestado contra la democracia helena) offenbarte das antisoziale Wesen der EU, zumal die Degradierung Athens zu einem neoliberalen Krisenlabor direkte Auswirkung der Europäisierung der DM in Form des Euro war (vgl. auch: Stefan Hinsch/Wilhelm Langthaler: Europa zerbricht am Euro, 2016).

Wir sollten den Ursprung des Lissabon-Vertrags nicht vergessen: 2005 lehnten die Völker der Niederlande und Frankreichs das Referendum über einen EU-Verfassungsvertrag ab und dennoch wurde er inhaltlich grosso modo zwei Jahre später in Form des Lissabon-Vertrags recycelt. Aufgrund dessen ist jeglicher positive Bezug auf diesen Vertrag aus progressiver Perspektive entweder naiv oder bewusst irreführend.

Weiter schreibt die Gesetzgeberin Hänsel: „Doch anstatt diese sozialen Probleme anzugehen, setzt die EU-Führung auf noch mehr Deregulierung, Sozialabbau und Militarisierung.“

Die Militarisierung ist im von Hänsel so positiv zitierten Lissabon-Vertrag sehr konkret ausformuliert, de facto als neue gemeinschaftliche Zielbestimmung verklausuliert (ebenfalls übernommen aus dem 2005 gescheiterten EU-Verfassungsvertrag). Ein positiver Bezug auf das in der portugiesischen Hauptstadt unterzeichnete Vertragswerk erscheint daher zumindest für die Friedensbewegung fraglich.

Wie wäre in Anbetracht dieses Kräfteverhältnis ein „radikaler Neubeginn“, wie Hänsel ihn fordert, begreifbar? Radikal bedeutet ein Problem an der Wurzel zu packen. Hierzu gilt es, sich zunächst Klarheit über die Geschichte des europäische Einigungsprojekts zu verschaffen:

1. Maastricht und Vorgeschichte: EG

1990er: Ausdrückliche Verankerung des neoliberalen Konstitutionalismus im EUV (Vertrag von Maastricht). Es folgte der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedsstaaten. Grundlage dafür waren die Prinzipien der 4 in den europäischen Verträgen verankerten liberalen Grundfreiheiten: der Freiheit für Waren-, Kapitalverkehr, für Dienstleistungen und für Personen („Arbeitnehmerfreizügigkeit“).

Die Römischen Verträge von 1957 sind das solide Grundgerüst, welches bereits den Primat der Liberalisierung und die freie Konkurrenz eines kommenden Gemeinsamen Markts explizit vorsah. Denken wir auch an den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission (KOM), Walter Hallstein (den Staatsrechtlern bekannt wegen der antikommunistischen Hallstein-Doktrin), der bereits 1938 in Rom von Mussolini und Hitler offiziell die Zukunftspläne für ein faschistisches Europa zu entwerfen hatte; vor diesem Hintergrund erschließt sich die Kontinuität der deutsch-europäischen Griechenland-Politik: Stichwort gegenwärtige Schuldknechtschaft des griechischen Volks bei anhaltender Rekordarbeitslosigkeit aufgrund verordneter Austerität und gleichzeitigem Ausverkauf griechischer Infrastruktur u.a. an halbstaatliche deutsche Großunternehmen wie Fraport. Hallstein erwähnte bereits 1962 die Wirtschafts- und Währungsunion als Finalität der EG.

2. Die Wurzeln liegen nicht nur in der EGKS

Um den luxemburgischen Industriellen Mayrisch entstand 1926 das Europäische Stahlkartell. Der Vordenker der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1950 war der luxemburgisch-französische Robert Schuman, der es angesichts seiner prodeutschen Politik als ostlothringischer Abgeordneter während der Zwischenkriegszeit bis zum Migrationskommissar im ersten Kabinett von Maréchal Philippe Pétain (Juni 1940) gebracht hatte.

Der zweite EU-Gründungsvater, Jean Monnet, war Bankier in Kalifornien und Marionette der USA in Frankreich nach 1945; in Algier sogar US-Informant.

Diese unheilvolle Kontinuität der EU-Gründungsväter ist auch etlichen Wissenschaftlern nicht völlig entgangen:

So hat Brüssel sich an seine eigene Geschichte kaum näher herangetraut als durch Kurzdarstellungen in Informationsbroschüren, die eher die hehren Ideale und aktuelle Integrationsergebnisse in den Vordergrund rückten.“ (Zitat Wim van Meurs, „Europa und die Eule der Minerva. Retrospektive und Krisennarrative der europäischen Integration“ aus ApuZ, Beilage von DAS PARLAMENT, v. 21.12.2015, S. 44).

Diesen Broschüren nach zu urteilen, scheint es tatsächlich so, als hätte sich eine Bankiersgeschichte in eine Geschichte der europäischen Wohltätigkeit verwandelt.

Ein EU-Neustart ist überhaupt nicht denkbar, da es sich bei der EU nicht um ein souveränes Völkerrechtssubjekt handelt, sondern um ein politisches System mit einem demokratisch kaum legitimierten bizephalen Parlament (Stichwort millionenteurer Wanderzirkus zwischen Strasbourg und Brüssel) – ein System, das niemals von allen Regierungen gleichzeitig neu gegründet werden kann: Art. 48 EUV sieht vor, dass alle Mitgliedsstaaten einer Veränderung des Lissabon-Vertrags zustimmen müssten. Dieses utopische Fernziel als Linker ernst zu nehmen, bedeutete der Brüsseler PR auf den Leim zu gehen! Auch die Illusionskünstler des Neustartdiskurses selber wissen, dass etwa die „Bürgerinitiative“ des Artikels II (4) EUV nur in vier Fällen alle Hürden genommen hat und diese 4 sämtlich von der KOM letztinstanzlich abgelehnt wurden, sodass keine einzige dieser Initiativen zum Tragen kam! Gregor Schirmer bezeichnet das politische System der EU daher zu Recht als „Zerrbild einer Demokratie“.

Zu einer tief greifenden Reform der EU wird es in absehbarer Zeit ebenso wenig kommen (Macrons Reformvorhaben, das französischen Forderungen seit den 1990er Jahren zur Einhegung der deutschen Wirtschaftsübermacht entspricht, zerschellte erneut, wie zu erwarten war, an deutscher Äquidistanz sowohl gegenüber Paris als auch gegenüber den südlichen Anrainern), geschweige denn ein vermeintlicher „radikaler Neubeginn“, dessen fehlende Basis die Autorin in der Berliner Tageszeitung selbst suggeriert, indem sie keinen Hinweis auf eine Umsetzung eines solchen hypothetischen reload der EU gibt.

Die Partei Die Linke vernachlässigt in ihren Verlautbarungen eine offensive EU-Kritik auf der realen politischen und historischen Grundlage und mit der notwendigen analytischen Tiefe. Erstes Resultat dieses Mankos: 2013 gründet sich die damals dezidierte Anti-Europartei AfD von Prof. Dr. Lucke.

Für DIE LINKE hingegen ist die EU ein offenes, veränderbares Projekt. Angestrebt wird eine „demokratische und soziale EU“. Angesichts der sowohl nach innen (Primat des freien Kapitalverkehrs) als auch nach außen (Russland-Feindbild von Anbeginn, da Osteuropa von Anfang an als von Brüssel zu erringende Gebiete aufgefasst wurden und RT ist folgerichtig vom Europäischen Parlament auf eine Stufe mit IS-Propaganda gestellt worden!) zutiefst liberalen bis rechtsgerichteten Grundlagen der EU die alten sozialpolitischen EU-Chimären zu bemühen, ist für eine progressiv sich gebende Politik fragwürdig. Wie der langjährige Brüssel-Kenner Andreas Wehr konstatiert, ist die Möglichkeit einer Weiterentwicklung der EU zu einer Sozialunion ein Trugschluss.

Das Ergebnis dieser Neustart-Rhetorik, die sich perfekt in die grün-zentristische EU-Finalitätsdebatte und ihre utopische EU-Staatswerdungsstrategie einfügt, ist heute landauf landab zu sehen:

Rechte Kräfte bekommen dadurch Aufschub, indem sie von Linken gemiedene Themen wie Souveränität und nationale Selbstbestimmung in den Fokus ihrer Politik setzen, wie mittel-osteuropäische Staaten mit rechtsnationalistischen bis völkischen Regierungen und in jüngster Vergangenheit die national-populäre Regierung Italiens gezeigt haben.

EU-Gläubigkeit versus nüchterne Analyse des Status quo

Verbreitet ist, nicht nur bei den Grünen, das Sublimieren der EU-Missstände im deutschen Diskurs zu beobachten. Insbesondere in der BRD werden nationale Gefühle regelmäßig sublimiert auf die supranationale Ebene gehoben, ja projiziert auf ein vermeintlich postnationales Niveau. Die real existierende EU hat jedoch, wie wir gezeigt haben, nichts mit den Broschüren gemein, welche Brüssel von sich verbreiten lässt, sondern wurzelt in selbiger brauner Vergangenheit!

Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Schulz sprach von „Frankenstein-Europa, in dem die Menschen das Gefühl von Entmündigung haben“ (Zitat vgl. FAZ v. 12.04.2016), da der demokratische, nationalstaatliche Rahmen der Souveränität schrittweise entkernt wurde, zu viele Hoheitskompetenzen auf die supranationale Ebene übertragen wurden. In jedem Fall ist diese Analyse, auch wenn deren Autor keine entsprechende Schlussfolgerung zieht, realistischer als jene, die seit Jahrzehnten von manchen zentristischen Illusionskünstlern propagiert wird, die „Lebe das soziale Europa!“ skandieren. Insbesondere der grüne Fischer-Diskurs zur föderalen Finalität der EU ist seit Jahrzehnten ein Meisterwerk des utopistischen Supranationalismus.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der EU de facto heute nur noch für die zentralen und nördlichen Exportnationen Anwendung findet, ist notwendige Voraussetzung für soziale Demokratie. Inhaltsleere Floskeln wie „radikaler EU-Neustart“ verwirren und tragen zur Entpolitisierung und schlimmstenfalls zum zunehmenden Rechtsruck bei, da sie die Nichtreformierbarkeit der EU verschleiern.

Daher sollten wir den beginnenden Souveränitätskampf im Süden von Parteien wie Cinque Stelle bedingungslos unterstützen und uns nicht ausschließlich auf die jüngst von Varoufakis in Deutschland lancierte transnationale Bewegung DiEM25 und seine aktuelle Europawahl-Partei stützen. Denn DiEM25 will bis 2025 die „europäische Republik“ über eine verfassungsgebende Versammlung erreichen, ein Prozess, dessen Ergebnis bereits 2005 wie wir gesehen haben von 2 Völkern abgelehnt worden war. Das utopische Konzept der „europäischen Republik“ hat Varoufakis von Ulrike Guérot übernommen: früher für EG-Kommissionspräsident Jacques Delors tätig (der als französischer Finanzminister 1983 die neoliberale Wende der Mitterrand-Regierung einleitete), leitete sie ab 2007 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.

Diese eurorepublikanische Illusionskunst trägt mitnichten zu einer volksnahen Politik auf nationaler oder übernationaler Ebene bei. Im Gegenteil: Sie droht der extremen Rechten noch mehr Zulauf zu bescheren.

Illusionskünstler gehören nicht in Parlamente, sondern in den Zirkus. Die Linke darf die souveränistische Prämisse von Demokratie und Sozialstaatlichkeit nicht mehr länger der Rechten überlassen. Chantal Mouffe liegt diesbezüglich ganz richtig: Um die völkisch-reaktionäre Demagogie zu überwinden, gilt es, den leeren Signifikanten „Volkssouveränität“ von einem linken Populismus ausgehend endlich mit Sinn zu füllen.


Zum Autor Tobias Baumann: Französisches und deutsches Magister; als Student in Paris war er selbst 2005 in der französischen Hauptstadt mit den Jeunes socialistes aktiv in der damals u.a. um Mélenchon angesiedelten Anti-Verfassungsvertragsbewegung – im Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie lehnte bereits damals der linke Flügel des PS um Mélenchon, Emmanuelli und Montebourg diesen Verfassungsvertrag, der im Wesentlichen Lissabonn-Vertrag neu aufgelegt wurde, entschieden ab.