Reiner Brauns Freude an 100.000 Unterschriften ist nicht zu übersehen. Der Präsident vom International Peace Bureau und Mitinitiator des Aufrufes, weißt aber auch auf die großen Herausforderungen hin, die auf uns zukommen. Im Interview spricht er über die aktuelle friedenspolitische Lage, die Aufrüstungswelle, die neue Rolle Deutschlands und die weiteren Pläne der Friedensbewegung.
Reto Thumiger: Wie schätzt du die aktuelle friedenspolitische Lage weltweite ein?
Reiner Braun: Ich will doch mal mit einer sehr positiven Entwicklung beginnen. Ich bin sehr beeindruckt von dem, was zwischen den beiden koreanischen Staaten zurzeit abläuft. Was man auf den Weg bringen kann, wenn man sich der Politik der gemeinsamen Sicherheit der Kooperation verschreibt. Das sollte ein Vorbild für Europa sein und ich glaube gerade Herr Maas kann eine Menge lernen von dem, was der Parteivorsitzende und der Staatspräsident dort gerade vereinbaren. Es zeigt, dass man auch bei tiefen Differenzen mehr Gemeinsamkeiten findet, als man glaubt und diese im Sinne des Friedens weiterentwickeln kann. Ich hoffe, dass dieser Prozess weiter Früchte trägt und einer der zugespitzten Kriegsherde entschärft wird und wir in der Welt eine zweite große Region finden, wo sich die Politik der gemeinsamen Sicherheit als staatstragende Politik durchsetzt. Das wäre doch von großer Ausstrahlungskraft für viele andere Konflikte.
Ansonsten glaube ich, dass wir in einer sehr gefährlichen Zeit zugespitzter Konflikte leben. Gerade nach den Ereignissen um die Flugzeuge in Syrien; da habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Aber man kann überhaupt nicht unterschätzen, wie schnell kleine Konflikte dramatische Konsequenzen haben können.
Du sprichst jetzt Syrien an, die Offensive auf Idlib ist ja vorerst vom Tisch?
Jede Lösung wo die Menschen nicht sterben, krepieren, verhungern oder verbluten müssen, ist positiv und daher stehe ich dieser Vereinbarung ausgesprochen positiv gegenüber. Wohlwissend, dass alle Vereinbarungen viele Haken und Ösen haben, die man jetzt bewältigen muss, weil keiner weiß, was mit den islamischen Terroristen da wirklich geschehen soll. Dass es eine Friedenspause gibt, ist meiner Ansicht nach positiv und die Dynamik, die das möglicherweise für den Astana-Prozess und für die größere friedenspolitische Entwicklung in Syrien und Umgebung auslösen kann, sollte nicht unterschätzt werden.
Das spannende daran ist für mich auch, dass ein Friedensprozess in Gang kommen, ohne dass die Haupt-Kriegstreiber, das ist in Syrien eindeutig der Westen gewesen, daran beteiligt werden müssen.
Das ist meiner Sicht nach ein positives Zeichen veränderter Kräftekonstellation. Es geht auch ohne NATO. Das hätte man sich vor ein paar Jahren ja überhaupt noch nie vorstellen können. Man kann heute Friedensprozesse entwickeln, ohne dass die stärksten Nato-Länder aktiv dabei sind. Das ist auch der Grund für diese geradezu hasserfüllten Reaktionen, die es aus diesen Ländern zu Syrien gibt. Sie sind draußen aus dem Spiel, das sie entfacht haben. Sie wollen den Regime-Change und sind jetzt an der Nachkriegsordnung, um die geht es ja nur noch, nicht beteiligt. Wie lange sich das auch noch hinzieht, der Krieg ist für den Westen verloren. Das ist neu, wenn man die letzten zwanzig, dreißig Jahre verfolgt.
Es scheint seitens der US-Regierung seit Jahren ein großes Interesse zu geben, Deutschland zunehmend in die interventionistischen militärischen Aktionen einzubeziehen, das schließt Forderung zur Aufrüstung in Richtung einer Angriffsarmee mit ein. Im historischen Bewusstsein muss man sich da ja ein bisschen die Augen reiben und erfreulicherweise wird das von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und selbst auf der Regierungsebene löst es nicht gerade Euphorie aus. Dabei kann es ja nicht nur um die Umverteilung der finanziellen Lasten der US-amerikanischen Eskapaden gehen. Was sind die Gründe?
Die Grundfrage ist, wie die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Deutschlands und den Vereinigten Staaten von Amerika ausfällt. Was wird aus dem historischen Juniorpartner, der zumindest im militärstrategischen und weltpolitischen Fragen über Jahrzehnte der USA fast bedingungslos gefolgt ist? Das hieß dann transatlantische Solidarität. Im Kern geht es darum, dass Deutschland seine eigene Weltmachtrolle definiert und diese neben den USA anstrebt. Deutschland möchte in so vielen Bereichen wie möglich, auf gleicher Augenhöhe operieren. Deswegen der Versuch sich in irgendeiner Weise an fast allen Konflikten dieser Welt zu beteiligen, inklusive Syrien und Irak und auch in der Nachkriegsordnung in Syrien in dieser sogenannten kleinen Staatenkonstellation mit Großbritannien, Frankreich, Jordanien und Saudi-Arabien eine Rolle zu spielen.
Dazu ist die Europäische Union unverzichtbar, weil die geschichtliche Lehre, niemals wieder allein zu stehen, von Deutschland zutiefst gelernt wurde. Da ist Deutschland versucht als Hegemon Europas die Europäische Union in wesentlichen Fragen mitzunehmen und da eine entscheidende Rolle zu spielen und über Europa auch seine weltpolitische Rolle neu zu definieren. Daher ist die Aufrüstungswelle nicht nur und aus meiner Sicht zum geringeren Teil, ein Reflex auf das Geschrei von Putin. Es entspringt den eigenen imperialen oder auch imperialistischen Willen Deutschland eine Rolle in dieser Welt zu spielen und da eine solche Rolle nach Definition der Eliten dieser Welt immer militärisch abgesichert werden muss, verlangt es nach einer starken Militärmacht, eine Einsatztruppe und deshalb muss eben auch modern und interventionistisch aufgerüstet werden.
Und das ist jetzt die zweite Seite der Medaille, Konkurrenten klein zu halten und dann sind wir bei der Konfrontationspolitik im Wesentlichen mit Russland aber auch über die NATO vorangetrieben, ebenfalls mit China. Von daher ist diese Neudefinition der deutschen Position zu USA nicht abgeschlossen. Deutschland versucht sich zunehmend auf Augenhöhe heranzurobben. Das wird nicht von heute auf morgen gehen, aber durch die offensichtliche Schwächung der USA, wird es zunehmend zu einem Ringen um ein neues Verhältnis kommen. Es wird wohl auf eine stärkere imperiale Rolle Deutschlands herauslaufen.
Du glaubst also, dass in den nächsten Jahren Deutschland oder die Europäische Union zu einer eigenständigen Außenpolitik findet.
Ich glaube, dass das in Kernpunkten geschehen wird und zum Teil findet das heute schon statt. Wenn ich die ganze Militarisierung Europas nehme, die Aufrüstungspolitik, die aggressive Politik gegenüber dem Süden, die hegemoniale Rolle gegenüber Nordafrika, ist es heute schon der Fall. Die europäische Außenpolitik wird immer von vielen inneren Konflikten begleitet werden, so ist die europäische Union nun mal gestrickt. Das hat noch nie daran gehindert in den Kernfragen einheitlich aufzutreten. Schau dir das Verhältnis zu Russland an, das ist einheitlich. Da schert Italien zwei Stunden mal aus, sind dann auch wieder dabei. Die Kommunikationspolitik ist einheitlich und diese militaristische, europäische Unionspolitik ist auch eine der wenigen Punkte, wo sie fast alle europäischen Staaten aus unterschiedlichen Interessen einig sind. Deswegen glaube ich, dass dieser Punkt ausgebaut werden wird und Europa wird trotz all den inneren Konflikten eine stärkere Rolle spielen.
Wobei dann wieder zu beobachten ist, wie die USA zum Beispiel vermehrt auf Polen setzt, das heißt auf solche Länder, die bereit sind die Wünsche der USA umzusetzen.
Dass die USA spätestens seit Bush auf die Spaltung Europas setzt, was damals das alte und das neue Europa hieß, ist doch logisch und von ihrer Interessenslagen völlig legitim. Ein einheitliches Europa kann die USA nicht wollen. Ich sehe jedoch nicht besonders viele Erfolge, selbst gegenüber Polen sehe ich sie nicht. Die Polen kaufen zwar ihre Waffen im Wesentlichen in der USA, aber sie ziehen die gesamte Konfrontationspolitik der Europäischen Union mit durch. Polen ist ökonomisch und politisch, was übrigens auch im Personal deutlich wird, sehr stark in die Europäische Union und in die Konfrontationspolitik eingebaut und das wird auch so bleiben. Selbstverständlich versucht jeder seinen eigenen Spielraum zu erweitern und die Polen glauben den Spielraum erweitern zu können, wenn sie mit den Amerikanern turteln, das gehört zu diesem politisch-diplomatischen Geschäft. Ich glaube nicht, dass das meinen strategischen Aussagen widerspricht.
100.000 Unterschriften für die Kampagne „abrüsten statt aufrüsten“, das ist doch ebenfalls eine positive Nachricht?
Für uns ist das wirklich eine Ermutigung. Als wir den Aufruf starteten, hatten wir den Eindruck, dass wir einen Nerv treffen und die Bereitschaft zum Mitmachen relativ groß ist. Das hat man auch an der Vielfalt und Breite der Erstunterzeichner, der Initierenden gesehen. Vor zwei, drei Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass vier Gewerkschaftsvorsitzende neben der Creme der kritischen Wissenschaft, neben führende Leute aus der Umweltbewegung und den entwicklungspolitischen Bewegungen so gemeinsam an einem Strang zieht. Das ist schon ein Seismograph dafür, dass was möglich ist.
Dass der Aufruf so aufgegriffen wurde und das Friedensinitiativen und Menschen aus der Friedensbewegung wieder angefangen haben, Unterschriften zu sammeln, auf die Menschen zuzugehen, das Gespräch zu suchen, den Kontakt zu pflegen, das ist wirklich toll.
Von daher ist es wirklich eine Errungenschaft der Basisbewegung, was diese 100.000 widerspiegelt und dass sich an der Basis etwas tut.
Während dieser Kampagne haben sich bestimmt 10-15 neue Friedensinitiativen in verschiedensten auch in kleinen Städten gegründet. Das ist meiner Ansicht nach, das positivste Ergebnis dieser Unterschriftensammlung.
Die 100.000 Unterschriften müssen wir natürlich auch realistisch sehen. Sie ist ein Startpunkt, aber um eine wirkliche soziale Bewegung daraus zu machen, muss noch mehr geschehen. Da muss qualitativ mehr geschehen und es müssen auch mehr Aktionen auf der Straße stattfinden.
Ohne die klare Wiedereroberung der Straße für den Frieden werden wir in diesem Land nichts verändern und nicht gestaltend eingreifen können. Das ist die Aufgabe, die sich uns stellt und deswegen bereiten wir ja auch die Demonstration für Anfang November vor.
80% der Unterschriften sind analog, also nicht im Internet gesammelt worden, das ich schon bemerkenswert. Die Besorgnis über die Friedenssituation in der Welt ist ja sicher schon länger bei der breiten Bevölkerung angekommen aber die Besorgnis drückt sich nicht in Aktionen aus.
Das ist die große Herausforderung. Jetzt kann man darüber streiten, ob man eine Unterschrift zu leisten schon als eine Aktion bezeichnet will. Ich denke es ist für viele ein Einstieg. Aber mehr Menschen zum eigenständigen Handeln für den Frieden zu gewinne, das ist die große strategische Herausforderung angesichts der gigantischen Aufrüstungspläne.
Was verstehst du unter eigenständiges Handeln für den Frieden?
Dass die Menschen sich an Aktionen beteiligen und möglichst in ihrem Umkreis für den Frieden werben. Ich erinnere wie noch in wie viele Wohnungen und Wohngemeinschaften der Krefelder-Appell rumlag. Unseren Apell habe ich jetzt relativ selten irgendwo so liegen sehen. Auch dass es ein Teil des Lebens der Menschen wird, sich für den Frieden zu engagieren, in welcher kleinen oder großen Form auch immer. Dass man Unterschriftenlisten auch mal ins Büro mitnimmt oder dass man, wenn auch nur in der Pause, darüber mit den Kollegen spricht.
Frieden wieder zu einem gesellschaftlichen Thema und als Folge wieder zu einem Aktionsthema auf der Straße werden zu lassen. Das ist die ganz große Herausforderung. Wir müssen einfach über unseren engeren Kern heraus in eine gesellschaftliche Breite kommen.
Wie geht es weiter, was sind die nächsten Schritte und Aktionen?
Erst mal bleibt auf der Tagesordnung, dass man die Unterschriftensammlung überall fortsetzen muss, wo es geht. Das zweite ist für mich, dass wir versuchen die dezentrale Demonstration Anfang November im Zusammenhang mit der zweiten/dritten Lesung des Bundeshaushalts so groß wie möglich und an so vielen Orten wie möglich zu machen. Dass wir mal wieder ausstrahlungsfähig auf die Straße gehen.
Danach müssen wir gemeinsam in Ruhe überlegen, was man sich zutraut für das nächste Jahr. Im Zusammenhang mit den Europawahlen sollten wir europaweit koordinierte Aktivitäten für den Frieden anstreben. Außerdem stehen im nächsten Herbst stehen die Haushaltsdebatten an. Die Militarisierungswelle oder der Aufrüstungsschub hat ja gerade erst begonnen und von daher ist das Eingreifen für die nächsten Jahre notwendig und dem müssen wir uns stellen.
Jetzt auf dezentrale Demonstrationen zu setzten ist eine Änderung in der Strategie und entspricht das der neuen Situation, dass die Leute vermehrt bereit sind an ihren Orten was zu machen?
Um es hier ganz deutlich zu sagen, wir brauchen auch wieder die bundesweiten Aktionen in Berlin. Weswegen haben wir gesagt dezentral? Der Gedanke dahinter ist, zu versuchen das breite Bündnis, was wir für den Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ mit Gewerkschaften, Kirchen, Umweltverbänden hinbekommen haben auch auf lokaler Ebene aufzustellen. Dazu muss man ja einen Anstoß für Aktionen geben. Unsere Idee ist es zu sagen, jawohl wir bereiten die dezentralen Aktionen möglichst in der politischen, gesellschaftlichen Breite wie auch das bundesweite Bündnis vor. Wir helfen damit auch dieses Bündnis zu stabilisieren und das scheint eine ganz große Herausforderung zu sein. Wir wollen auch mit der Aktionsform so nahe wie irgend möglich an den Menschen vor Ort bleiben. Deswegen jetzt dezentral, was aber bundesweite Demonstration in Berlin für die Zukunft in keiner Weise ausschließt.
Du hast die Europawahlen 2019 angesprochen, was kannst du dir da vorstellen?
Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass man so was wie die Abstimmung für den Frieden vor den Wahllokalen macht. Bei der Europawahl 1984 haben wir das als Friedensbewegung sehr erfolgreich gemacht. In eigenständigen Wahllokalen wurde eine symbolische Abstimmung gegen Krieg durchgeführt und damals sind so hunderttausende Stimmen zusammengekommen.
Außerdem könnten wir versuchen an den Orten, wo der Militarismus europaweit zusammenarbeitet, z.B. Deutsch-Niederländische Korps oder die ganzen EU-Battlegroups, und an diesen Orten europaweite Aktion mit Beteiligung von verschiedenen Ländern zu organisieren. Da würde sich zum Beispiel Münster und Dülmen anbieten und dahin aus den verschiedenen umliegenden Ländern gemeinsam zu mobilisieren. Auch wir müssen uns europäisch besser organisieren als bisher.
Für mich ist es außerdem eine ganz klare Herausforderung, zu verhindern, dass die Rechtsradikalen nicht die stärkste Fraktion im Europaparlament werden.
Dazu benötigen wir noch viel Aufklärungs- und viel an Bündnisarbeit. Da müssen wir noch einiges leisten, sonst bekommen wir ein Europaparlament zum Gruseln. Da sind wir die britischen Konservativen los und dann bekommen wir die Halb-Faschisten aus ganz Europa zusammen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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