Gibt es schon eine Alternative zum Neoliberalismus? Können wir einfach zurückkehren zum Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“? Das ist zu kurz gesprungen. Wir brauchen ein neues System, das weder zügelloser Kapitalismus noch gleichmacherischer Kommunismus ist.
Bevor man über Alternativen zu einem etablierten System spricht, sollte man sich die aktuellen Wirkungen ins Bewusstsein rufen. Tatsache ist, dass der Neoliberalismus sich keineswegs auf ein Wirtschaftsmodell beschränkt, sondern eine gesamtgesellschaftliche Ideologie verkörpert. Mit Fug und Recht darf man jedoch das in Grundsätzen auch sozialdarwinistische ökonomische Modell der Neoklassik als Fundament des Neoliberalismus bezeichnen. Aber ihn deshalb auf die kapitalistische Marktwirtschaft zu begrenzen, wäre zu kurz gesprungen, denn es ist ein Weg in einen gnadenlosen Neo-Feudalismus.
Die US-Politologin Wendy Brown beschreibt in ihrem Buch „Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“ treffend, dass der Neoliberalismus eine Ideologie der Neuordnung des gesamten Denkens ist, die inzwischen alle Bereiche des Lebens sowie den Menschen selbst einem ökonomischen Bild entsprechend verändert – mit fatalen Folgen für die Demokratie. Alle Sphären der Existenz werden einer finanziellen Verwertung unterworfen und dieser entsprechend vermessen. Also die Politik, das Recht, die Kultur, die Bildung, die Familie, die Gesundheit, die Geschlechterrollen.
Darüber hinaus werden weltweit und auch in Deutschland massive Versuche unternommen, die in Jahrzehnte langen Arbeitskämpfen im letzten Jahrhundert mühsam errungenen und grundsätzlich immer noch relativ schwach ausgeprägten demokratischen Mitbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten wieder rückgängig zu machen und Gewerkschaften massiv zu schwächen. Inzwischen gibt es speziell ausgerichtete Anwaltskanzleien, die letztlich die Arbeit von Betriebsräten mit nicht zu rechtfertigenden Methoden umfassend behindern. Der Weg zurück in einen feudalen „Gutsherren-Kapitalismus“ wird durch den Neoliberalismus immer mehr freigemacht.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen sind mit dem Niedergang von Ethik und Moral in den Top-Etagen von Politik und Wirtschaft angekommen. Fast gewöhnt man sich an die Meldungen von Betrug oder unethischen und gesellschaftsschädigenden Handlungsweisen beim Ausnutzen von sogenannten „Gesetzeslücken“. Die Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte im Bereich der Finanzkonzerne, die Lebensmittel-Skandale, den fast global zu nennenden Betrugssoftware-Skandal einiger Automobil-Konzerne, die Steuervermeidungsstrategien globaler Konzerne, die Krebsmittel-Betrügereien im Gesundheitswesen mit auch tödlichen Folgen für die Patienten sind Beispiele eines fast umfassenden unethischen Ökonomieverständnisses der Gewinnmaximierung um jeden Preis.
Vielleicht war die Feststellung von Gabor Steingart im „Handelsblatt“ vom 30.01.2018, dass wir eine „Elitenverwahrlosung“ beobachten müssen, eine moralisch unzulässige Verallgemeinerung. Aber von einem „Eliteversagen“ von einer beachtlichen Zahl von Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft zu sprechen, ist absolut gerechtfertigt. Gerade in diesem Kreis ist zu beobachten, dass der homo politicus, der sich für das Gemeinwesen engagiert, durch den homo oeconomicus ersetzt wurde.
Kooperation statt Konkurrenz
Aber gibt es schon eine Alternative? Können wir einfach zurückkehren zum Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“? Das wäre zu kurz gesprungen. Denn auch die Soziale Marktwirtschaft basiert auf dem Modell der Neoklassik, einstmals verbunden mit starken sozialen Netzen für abhängig Beschäftigte. Die soziale Komponente war aber nicht das Hauptmotiv dieses Modells, sondern diente in der Wiederaufbau-Phase der Nachkriegszeit vor allem der Verhinderung einer Anziehungskraft des kommunistischen Systems auf die Arbeitnehmer. Das Modell der perfekten Konkurrenz der Marktteilnehmer und damit das Ziel der Gewinnmaximierung für die starken Akteure, und zwar beispielsweise ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt, bliebe also auch bei einer Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit bestehen. Dies ist kein zukunftssichernder Ansatz.
Deshalb brauchen wir ein neues System, das weder zügelloser Kapitalismus noch gleichmacherischer Kommunismus ist. Wir brauchen ein System der Kooperation statt der Konkurrenz, das marktwirtschaftliches Handeln kompromisslos mit drei Fragen verbindet, die in unserer neoliberalen Gesellschaft fast nostalgisch klingen, aber trotzdem für die Zukunft der Menschheit unumgänglich sind:
Dient es den Menschen?
Dient es der Umwelt?
Dient es dem Frieden?
Dieses Modell gibt es seit einigen Jahren, nämlich das Modell der „Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ)“, dessen Haupt-Initiator der Wissenschaftler Christian Felber ist. 2010 haben Felber sowie 15 Unternehmerinnen und Unternehmer das Modell öffentlich gemacht, und zwar als Graswurzelbewegung von unten – eine Bewegung mit Praxisbezug, die nicht auf Vorgaben der Eliten in Wissenschaft und Politik wartet, sondern in der Praxis neue Wege ökonomischen Handelns aufzeigt.
Dabei schlägt die Gemeinwohl-Ökonomie nichts Anderes vor, als die Umsetzung der Hauptzielsetzung aller Verfassungen weltweit, nämlich den Auftrag an die Ökonomie, das Gemeinwohl, also das Wohl und die allmähliche Verbesserung der Lebenshaltung allerVolksschichten zu fördern. Die Grundsätze der GWÖ lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Soziale Sicherungssysteme schützen vor Absturz und Ausgrenzung.
- Öffentliche Güter ergänzen die privaten.
- Die Startchancen sind durch ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Beschränkung des Erbrechts gleichmäßig verteilt.
- Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist begrenzt.
- Privateigentum, Gemeinschaftseigentum, Gesellschaftseigentum und Naturnutzungsrechte koexistieren maßvoll.
- Unternehmen werden ab einer bestimmten Größe am weiteren Wachstum gehindert.
- Handelsräume werden durch gemeinsame Arbeits-, Sozial-, Steuer-, Umwelt-, Transparenz- und Antikorruptionsstandards geschützt (Fairhandel statt Freihandel).
Der individuelle Nachweis der Beachtung dieser Grundsätze wird durch eine auditierte Gemeinwohl-Bilanz (GWB) erbracht. In dieser GWB werden, auf Basis der Gemeinwohl- Matrix, die Werte
- Menschenwürde,
- Solidarität und Gerechtigkeit,
- Ökologische Nachhaltigkeit,
- Transparenz und Mitentscheidung,
mit den Berührungs-Gruppen der bilanzierenden Unternehmen und Gemeinden, also
- Lieferanten,
- Eigentümer und Finanzpartner,
- Mitarbeitende,
- Kundinnen und Kunden sowie Mitunternehmen,
- Gesellschaftliches Umfeld,
verknüpft und nach demokratisch erarbeiteten Kriterien bewertet. Dabei ist diese Bilanzierung kein starres, sondern ein „atmendes“ System, entwickelt sich also mit den Erkenntnissen aus der Praxis Jahr für Jahr weiter. Ziel ist vor allem, dass das derzeit neoliberale System der Belohnung für unethisches Handeln, z.B. höhere Gewinne durch auf Kosten der Gemeinschaft verursachte Umweltschäden oder Ausbeutung abhängig Beschäftigter und damit zwangsläufig wirtschaftliche Bestrafung ethisch handelnder Akteure der Wirtschaft, umgekehrt wird. Bilanzierende mit einer positiven GWB sollen letztlich auch wirtschaftlich belohnt werden, etwa durch Bevorzugung bei öffentlichen Aufträgen oder niedrigere Steuersätze.
Diese Grundsätze der GWÖ eignen sich geradezu beispielhaft auch zur Bewältigung des wahrscheinlichen Bedeutungsverlusts menschlicher Arbeit durch die immer schnellere und umfangreichere Digitalisierung der Arbeitswelt, der sogenannten Industrie 4.0.
Selbstverständlich werden nicht wenige Ökonomen bei den vorhersehbaren massiven Arbeitsplatzverlusten durch die Digitalisierung darauf vertrauen, dass diese entsprechend dem Sayschen Theorem durch die steigende Nachfrage an nunmehr kostengünstigeren Waren durch neue Arbeitsplätze ersetzt werden. Aber selbst wenn sich diese, auf Grund der extrem schnellen Entwicklung der „Industrie 4.0“, doch gewagte Hoffnung erfüllen würde, ist der Ansatz der GWÖ eine unverzichtbare Notwendigkeit zur evolutionären Entwicklung einer humanen, fairen und in einem sozialen Frieden lebenden Gesellschaft.
Obwohl die GWÖ erst vor 7 Jahren offensiv als Modell für eine zukunftsfähige Wirtschaft vorgestellt und von 15 Unternehmen praktiziert wurde, hat sie eine beeindruckend positive Resonanz erfahren – wenngleich der Teil „Rechtliche Anreize für Unternehmen mit GWB“ noch keineswegs politisch umgesetzt ist. Die Zahl von unterstützenden Unternehmen ist z.B. von 15 auf über 2300 angestiegen, wovon rund 500 Unternehmen, einige Gemeinden, Hochschulen und andere Organisationen bereits eine GWB erstellen. Das Modell hat nicht nur in ganz Europa, sondern inzwischen auch in sogenannten „Energiefeldern“ international Fuß gefasst – von Schweden bis Chile, von den USA bis Ghana.
Auf politischer Ebene hat die GWÖ mit der GWB Eingang in den Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung in Baden-Württemberg gefunden. Sie ist inzwischen ein wichtiges, positiv besetztes Thema bei der EU-Kommission hinsichtlich der Richtlinien für eine nichtfinanzielle Bilanzierung durch Großunternehmen in der EU. Der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich mit überwältigender Mehrheit für eine Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie ausgesprochen.
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass mit der GWÖ endlich ein evolutionäres marktwirtschaftliches und praxistaugliches Modell entwickelt wurde, welches das über Jahrhunderte festgefahrene dogmatische Bild des „unfehlbaren freien Marktes“ überwindet und eine sinnhafte, „enkeltaugliche“ Neuausrichtung der Ökonomie ermöglicht. In einigen Jahren wird man rückblickend erkennen, dass die GWÖ einen vergleichbaren Paradigmenwechsel für die Gesellschaft darstellt, wie das Zeitalter der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert zur Überwindung des Absolutismus.
Selbstverständlich wird auch die GWÖ immer wieder in einzelnen Bereichen in Sackgassen oder in Umwege geraten. Die demokratische Verfassung der GWÖ-Bewegung garantiert aber eine von der Mehrheit getragene erfolgreiche Entwicklung. Christian Felber als Haupt-Initiator der GWÖ wird zwar wohl kaum den in den Medien in unpräziser Weise „Nobelpreis für Wirtschaft“ genannten „Alfred- Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaft der Schwedischen Reichsbank“ erhalten. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung eines Tages einen echten Nobelpreis erhält, nämlich den Friedensnobelpreis.
Literatur:
Brown, Wendy: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört (Suhrkamp, Berlin 2015)
Felber, Christian: Gemeinwohl-Ökonomie (Piper, München 2018)
Felber, Christian: Ethischer Welthandel (Deuticke, Wien 2017)
Meinzer, Markus: Steueroase Deutschland (C.H. Beck, München 2015)
Schirrmacher, Frank: EGO (Blessing, München 2013)
Schröm Oliver – Schenck Niklas: Die Krebs Mafia (Lübke, Köln 2017)
Stiglitz, Joseph: Der Preis der Ungleichheit (Siedler, München 2012)
Günter Grzega ist Diplom-Bankbetriebswirt und Diplom-Verwaltungsbetriebswirt. Er ist emeritierter Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank München eG, Vorsitzender des Ethik-Beirats der Bank sowie Botschafter der Gemeinwohl-Ökonomie. In seiner Amtszeit hat Grzega die Sparda-Bank München mit zur größten Genossenschaftsbank Bayerns geführt. Von 2010 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender des „Senatsinstituts für gemeinwohlorientierte Politik ( IGP)“.
Der Artikel erschien erstmals am 09.04.2018 auf makroskop.eu.
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.