Thomas Sturm ist Professor an der Autonomen Universität von Barcelona. Der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung steht er kritisch gegenüber. Sturm meint, der Fortschritt, den Katalonien jetzt braucht, muss darin bestehen, einen neuen Grundkonsens in der gespaltenen Bevölkerung zu schaffen.

Krystyna Schreiber: Worum geht es Ihrer Meinung nach im Grunde im katalanischen Konflikt?

Prof. Thomas Sturm: Um viele Dinge, denn der Konflikt hat eine komplexe Geschichte. Man kann ihn aus unterschiedlichen Perspektiven erklären, je nachdem, wann und mit welchem Problem man ansetzt oder wie man die Zusammenhänge der historischen Ereignisse sieht. Das erschwert Diskussionen und verstärkt den Konflikt inzwischen auch: weil Befürworter wie Gegner der Unabhängigkeit leicht in der Argumentation hin und her springen, weil sie ausweichen, um ihre Lieblingsmeinung vor Kritik abzuschirmen, statt diese auf ihre Richtigkeit zu prüfen.

Gibt es aus philosophischer Sicht eine eindeutige Haltung zum Konflikt?

Nein, kein Philosoph besitzt hierzu den Stein der Weisen. Ich habe geschätzte Kolleginnen und Kollegen mit sehr unterschiedlichen Ansichten. Wir reden also zunächst einmal wie andere Bürgerinnen und Bürger mit. Der bedeutende US-Moralphilosoph John Rawls [1] sprach in solchen Fällen von einem reasonable disagreement: Weil das Thema so vielschichtig ist, so viele Fakten umstritten sind, und weil auch die Normen, nach denen wir uns richten sollten, bislang nicht genug reflektiert worden sind, können vernünftige Personen, zumindest in Grenzen, verschiedener Meinung sein.

Jedoch gehört es zur philosophischen Expertise, hartnäckigen Streitigkeiten auf den Grund zu gehen, die Wurzeln der Probleme zu lokalisieren und, soweit möglich, aufzulösen. Manchmal gibt es etwa Argumentationsfehler, die schädliche Folgen haben können. Dafür gibt es im Konflikt um Katalonien auch Beispiele: das Ausnutzen von Mehrdeutigkeiten von Begriffen zur Manipulation des Denkens, wenn nicht zum Niedermachen von Gegnern, Orwellsches double-thinking, falsche Entweder-Oder-Alternativen, oder dubiose Prognosen. Die Debatte, der gesamte öffentliche Diskurs, braucht mehr kritische, auch selbstkritische Rationalität.

Worin sehen Sie nun die Hauptursachen des Streits?

Klar ist: Eine Seite will Unabhängigkeit, die andere ist dagegen. Das ist aber nicht – wie teils auch aus ideologischem Interesse oft dargestellt– nur ein Streit zwischen Katalanen und dem Rest von Spanien. Der Riss geht auch mitten durch die katalanische Gesellschaft. Die richtige Frage ist also: Woher kommt das Unabhängigkeitsstreben von etwa der Hälfte der Katalanen?

Aktuell sehe ich drei Hauptursachen: Erstens gibt es einen verletzten katalanischen Nationalstolz, das heißt ein Verlangen nach Anerkennung und Würdigung dieser nationalen Identität; dann ein radikaler Republikanismus, der sich noch immer im Kampf mit Franquismus und Monarchie sieht, und der mit der anvisierten katalanischen Republik eine antikapitalistische, solidarische Utopie verbindet; und schließlich ein ökonomisches Motiv, also ein gerade nicht solidarisches Streben danach, weniger Steuern an den Gesamtstaat abzugeben.

Worin sehen Sie einen philosophischen Beitrag zur Konfliktlösung?

Man muss zuerst eine Frage stellen: Nach welchen Prinzipien und Kriterien sollen sich alle richten? Es gibt ja verschiedene Normensysteme: Recht, Moral, und auch rationale Entscheidungs- und Spieltheorie. In den Debatten springen viele Leute hin und her, betrachten diesen oder jenen Punkt als sicherstes oder bestes Argument und ignorieren andere, ebenfalls nicht einfach als irrational abzuwertende Überlegungen. Zum Beispiel die Einhaltung des nationalen wie internationalen Rechts, auf die sich der spanische Staat beruft. Oder die unter Katalanisten tief verankerte moralische Intuition, das Menschenrecht auf Selbstbestimmung sei zwingend so zu interpretieren, dass alle Völker das Recht auf einen eigenen Staat haben.

Ökonomen wie der ehemalige katalanische Wirtschaftsminister Andreu Mas-Colell [2] wiederum scheinen es für legitim zu halten, die Drohung mit der Unabhängigkeit als Druckmittel in Verhandlungen über mehr finanzielle Autonomie einzusetzen. Ich würde hier vorschlagen, nur solche Handlungen auszuführen, die erstens das Recht achten, und die zweitens aus moralischer Perspektive verallgemeinerbar sind – im Sinne Immanuel Kants. [3] Wenn beides gesichert ist, darf man zusätzlich Klugheitsüberlegungen oder Strategien der rationalen Entscheidungs- und Spieltheorie anwenden; aber nicht ohne sie. Wenn alle Seiten diese Punkte akzeptieren würden, wäre schon viel erreicht: Keine könnte sich grundsätzlichen normativen Einwänden aussetzen, keine würde bestimmte legitime Gesichtspunkte einfach ignorieren.

Was ist das Problem damit, den Streit als rationales Verhandlungsspiel anzusehen?

Den Konflikt als ein rationales Verhandlungsspiel anzusehen, bei dem man mit einseitiger Unabhängigkeitserklärung drohen und dazu, wie im letzten September und Oktober erlebt, Gesetze verletzen darf, scheint mir unmoralisch. Übrigens auch gegenüber den vielen überzeugten Anhängern der Unabhängigkeit: Ihr Enthusiasmus wird in so einem Spiel ja nur ausgenutzt; sobald mehr Steuereinnahmen gesichert wären, würden diese Politiker das Ziel der Unabhängigkeit fallen lassen. So verspricht man etwas, das man nicht wirklich halten will, und schafft dadurch dauerhafte Enttäuschungen.

Hat die Regierung in Madrid keine Fehler begangen?

Doch. Aus der Perspektive der Spieltheorie sollte die stärkere Seite immer Angebote machen, positive Zeichen setzen. Die Befürworter der Unabhängigkeit in Katalonien streben nach Würde und Anerkennung. Dazu kann eine kluge Regierung manches, und manches sogar mit geringen Kosten tun. Es fehlt noch viel an der öffentlichen Aufarbeitung der Verbrechen in der Franco-Zeit. [4] Der König könnte nach Barcelona kommen und am Denkmal des 1940 vom Franco-Regime ermordeten katalanischen Ministerpräsidenten Lluis Companys einen Kranz niederlegen, ja: niederknien, so wie Willy Brandt 1970 vor dem Mahnmal der ermordeten Juden in Warschau niedergekniet ist. [5]

Symbolische Akte sind wichtig, da es den Menschen nicht nur um Geld geht, sondern auch um Anerkennung – diese Dinge sollten daher baldmöglichst kommen. Ministerpräsident Mariano Rajoy und die Zentralregierung in Madrid hätten auch sagen können: Okay, wir machen ein Referendum, aber nur, wenn wenigstens 2/3 aller Katalanen der Unabhängigkeit zustimmen. Und nur wenn eine hinreichend große Zahl sich überhaupt beteiligt, darf es eine Bedeutung haben.

Als es auf die Unabhängigkeitserklärung zuging, haben Sie ein Manifest zur Deeskalation angestoßen. Was bedeutet Deeskalation genau und wie müsste Sie Ihrer Meinung nach im Fall Katalonien-Spanien angewendet werden?

Deeskalation ist eine politische Methode, die im Kalten Krieg existenzielle Bedeutung für die Menschheit erlangt hat. Die atomare Aufrüstung zum Zwecke der Abschreckung vom Krieg schien vielen Militärstrategen rational kontrollierbar. Aber diese Eskalationsstrategie war in Wahrheit nicht ausreichend kontrollierbar und, bedingt durch die Massenvernichtungswaffen, viel zu riskant wie ein historisches Beispiel zeigt: 1962 führte die Kuba-Krise um ein Haar zum Atomkrieg – die Sowjetunion wollte Atomwaffen auf Kuba stationieren, die USA haben das als unmittelbare Bedrohung erlebt. Der Krieg wurde wohl nur durch Zufall vermieden. Die Kennedy-Regierung glaubte nämlich, es seien noch keine Atomstrengköpfe auf den Raketen auf Kuba; das war falsch, wie seit 1992 bekannt ist. [6]

Hätte die US-Regierung dies 1962 gewusst, wäre ein Krieg wahrscheinlicher gewesen, da Präsident John F. Kennedy seine regierungsinternen Kritiker nur hinhalten konnte, weil sie meinten, die Atomwaffen würden erst noch kommen. Die Falken drängten immer wieder auf einen Angriff auf Kuba. Unwahrscheinlich, dass dann der Krieg auf die USA versus Kuba beschränkt geblieben wäre. Auch seit 1992 ist nämlich bekannt, dass Fidel Castro die sowjetische Führung drängte, für so einen Fall die Atomwaffen von Kuba aus loszuschicken, sogar um den Preis, dass dann Kuba vernichtet würde. Castro ging es auch darum, die Würde der Kubaner gegen die, wie er es sah, US-Imperialisten zu verteidigen. Nach der Kubakrise setzte ein Umdenken ein: Die Entspannungspolitik, die in Deutschland zuerst von Willy Brandt angestoßen wurde.

Mir scheint in der Geschichte eine wesentliche Einsicht enthalten zu sein, die für jeden politischen Konflikt gilt: Wir neigen dazu, schnell zu eskalieren. Deeskalieren ist schwer, weil man dazu oft Emotionen wie Rachedurst oder verletzte Ehre beiseitelegen muss. Je härter und emotionaler der Konflikt ist, umso mehr ist Deeskalation jedoch ein Gebot der Klugheit wie zugleich der Moral.

Deeskalation bedeutet hier konkret: Abrüstung in Taten und Worten. Kein Gebrauch einer Sprache, die zwar geeignet ist, die eigene Anhängerschaft mobilisiert zu halten – etwa von „presos politics“ (politischen Gefangenen) – die aber unser Denken verzerrt und nichts zur Konfliktlösung beiträgt, im Gegenteil. Keinen Schritt machen, der die andere Seite provozieren oder zu einer aggressiven Reaktion bewegen könnte; sondern bei jedem Schritt nachdenken, wie man die andere Seite wirklich dazu bewegen kann, sich auf einen Kompromiss zuzubewegen. Das sollten die gerade ins Amt gekommenen neuen Regierungen in Madrid und Barcelona streng beachten. Daran muss man prüfen, wie ernst die Dialogbereitschaft jeder Seite ist.

Die Lage ist vermutlich so verfahren, dass diese verbale Abrüstung vielleicht nicht genügen wird. Auf einer der Weißhemden-Demonstrationen – also die ohne jegliche nationalistische Orientierung – wurde skandiert: „Terapia de pareja! Rajoy y Puigdemont!“ (Eheberatung für Rajoy und Puigdemont!) Das ist genau richtig!

Ein runder Tisch, eine Kommission sollte installiert werden: nicht nur mit Vertretern der übergroßen Mehrheiten, also mehr oder minder aller Parteien in den spanischen und katalanischen Parlamenten, sondern mit Experten und Expertinnen aus Friedensforschung, politischer Psychologie, Rechtswissenschaft, Ethik und Demokratietheorie. Ich denke, dass die Kommission zumindest in großen Teilen international besetzt sein sollte. Die soll so lange arbeiten und Vorschläge entwickeln, bis die Hitzköpfe und Manipulateure endlich auf beiden Seiten lernen, wie man Politik betreibt, die den Menschen dient.

Ich erkenne übrigens an, dass der Ex-Ministerpräsident Carles Puigdemont die Idee der Deeskalation in seiner Parlamentsrede Anfang Oktober 2017 aufgenommen hat, in der er die Unabhängigkeitserklärung vertagte. Er hatte sogar das Wort „desescalar“ benutzt, das im offiziellen Katalanisch-Lexikon nicht vorkommt und das wir darum in unserer Deklaration in ihrer katalanischen Fassung nicht benutzen konnten. Rajoy hätte positiver reagieren sollen, irgendein Zeichen geben können. Meiner Einschätzung nach war Puigdemont jedoch nicht ausreichend glaubwürdig.

Warum nicht?

Kataloniens Präsident Carles Puigdemont. Foto Krystyna Schreiber

Carles Puigdemont bei einer Demonstration für die Freilassung von Jordi Cuixart und Jordi Sanchez. (Foto: Krystyna Schreiber).

Die katalanistische Regierung hatte, was in internationalen Medien zu wenig berichtet wurde, am 6. und 7. September mit unzureichenden Mehrheiten im katalanischen Parlament Gesetze zum Referendum durchgepeitscht und dabei Minderheitenrechte im Parlament massiv beiseite gedrückt. Puigdemont hat keine Kraft gezeigt, diese Eskalation zurückzunehmen. Er hätte noch am 26. Oktober Wahlen ausrufen können, was ein anderer deeskalierender Schritt gewesen wäre und wohl die Anwendung von Artikel 155 (von der spanische Zentralregierung angesetzte Zwangsverwaltung) verhindert hätte. [7] Er hat sich aber von radikaleren Kräften, die keine Neuwahlen wollten, in letzter Minute umdrehen lassen.

Komischerweise hat Puigdemont nur einen Tag nach der Anwendung von Artikel 155 gesagt, nun müsse sich die katalanistische Bewegung eben Zeit lassen. Offenbar hielt er Geduld plötzlich nicht für schlimm.  Warum hat er dann aber vorher ständig die Lage dramatisiert und die Eskalation betrieben? Ich habe keine andere Erklärung als die, dass er meinte, der Druck sei nötig und auch wirksam, um etwas zu seinen Gunsten zu bewegen. Ein Manipulationsversuch und ein Denkfehler, ein klassischer Fall davon, was Eskalation bewirken kann. Jetzt haben wir den Salat. Viele sitzen im Gefängnis und werden unter anderem der „Rebellion“ angeklagt – ein historisch unglücklicher, ja unakzeptabler Terminus, den das spanische Recht wohl auch aufgeben sollte. Die Leute haben ihre Ämter missbraucht, vielleicht öffentliche Gelder veruntreut und vermutlich das Recht gebrochen. Das ist schlimm. Aber Rebellion? [8]

Haben die Völker ein Recht auf einen eigenen Staat?

Die Idee des Nationalstaats ist eine Erfindung aus der Zeit der Französischen Revolution und der Befreiungskriege des 19. Jahrhunderts. Es lohnt vielleicht, hier auf zwei beliebte, der Meinungsmanipulation dienende Begriffsverwirrungen aufmerksam zu machen. Zum einen meine ich die Differenz zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf Sezession. Alle Menschen, alle Völker haben ersteres. Aber es lässt sich unterschiedlich realisieren.

Sezession zur Gründung eines eigenen Nationalstaates ist eine andere Sache. Das wird ständig vermengt. Zum anderen, damit verbunden, muss man einen Unterschied zwischen einem „horizontalen“ und einem „vertikalen“ Volksbegriff machen. Einerseits spricht man seit der Französischen Revolution vom „Volk“ (oder auch von der „Nation“) im Sinne von der den höheren Autoritäten entgegengesetzten einfachen Bevölkerung; andererseits spricht man vom „Volk“ im Sinne einer Einheit, die durch Sprache, Kultur oder Geschichte eine Identität besitzt, über alle Klassen und Schichten hinweg.

Wenn ein Volk im ersten Sinn unter einer unterdrückerischen Autorität leidet, so kann es sich dagegen „erheben“. Das kann moralisch legitim sein. Aber selbst wenn die spanische Demokratie mangelhaft ist, so ist sie doch eine Demokratie: alle haben die gleichen aktiven und passiven Mitbestimmungsrechte, die Grundrechte sind gesichert und anderes mehr. Darin verwirklicht sich das Recht auf Selbstbestimmung aller spanischen Bürgerinnen und Bürger als Staatsvolk, einschließlich aller Katalanen. Die Katalanisten – etwa Ex-Ministerpräsident Puigdemont, wenn er davon spricht, es gebe „ein einziges katalanisches Volk“, das um seine Identität kämpfe – versuchen, aus der konstruierten sprachlichen und kulturellen Identität Kataloniens mehr zu machen: also aus dem vertikalen Volksbegriff einen horizontalen und ethnischen Volksbegriff heraus zu zaubern, um so den Aufstand gegen die vermeintliche autoritäre spanische Regierung zu begründen.

Man benutzt also die Idee der ethnischen Volkseinheit, um das Gefühl zu erzeugen, alle Katalanen seien von Madrid unterdrückt. Damit wird übertüncht, dass „das eine“ katalanische Volk in diesem Sinn nicht existiert. Die Hälfte aller Katalanen sind grundsätzlich anderer Meinung. Sie haben ein Recht darauf, dass das respektiert wird. Kurzum: Natürlich haben alle Menschen einen Anspruch darauf, rechtsstaatlich und demokratisch regiert zu werden, aber ein Recht auf einen eigenen Nationalstaat – dafür kenne ich kein gutes Argument.

Das Streben nach einem national begründeten Staat ist auch etwas, was mich an der katalanistischen Bewegung stört: dieses Pathos von nationaler Identität und Unabhängigkeit, dieses gezielte Fördern von Fahnen oder Hymnen oder Slogans. Man kann oft sehen, wie Eltern ihre Kinder mit zu Demonstrationen schleppten, die dort dann emotional aufgeheizten Erwachsenen das „In-Inde-Independencia!“ nachäfften. Das ist das Gegenteil von Erziehung zu eigenständigem Denken, zu echter Autonomie.

Man hat das Thema der Abstimmung über die Unabhängigkeit ja gerade auf der Gegnerseite lange totgeschwiegen, so dass selbst zahlreiche katalanische Gegner sich schließlich von der spanischen Regierung allein gelassen gefühlt haben. Wie steht es denn mit der Diskussionskultur (also dem pragmatischen Erörtern von Pro- und Kontraargumenten) in Spanien generell, gerade in der Schulbildung? Wird von der Politik die Idee mündiger Bürger gefördert?

Also, ob die Volkspartei von Rajoy noch einmal die nächsten Wahlen gewinnt, nach den deutlichen Gerichtsurteilen über Korruptionsfälle, und nach dem jüngsten Regierungswechsel, ist doch wohl eher offen. Aber zu Ihrer Kernfrage: Was ich zuvor gesagt habe, gilt natürlich überall in Spanien (und weit darüber hinaus). Spanischen Nationalismus findet man oft mit herabwürdigenden Aussagen gegen Katalanen – das ist beschämend und genauso hart zu kritisieren wie es die wiederholten früheren Äußerungen des neuen Regionalpräsidenten Quim Torra sind, der reichlich geschmacklose Dinge über Spanier und Spanierinnen gesagt hat. Er hat sich dafür entschuldigt, aber zu oberflächlich und ohne genügend ehrliche Selbstkritik. Die Bürgerinnen und Bürger können es besser tun: Sie können ihren Kindern helfen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Sie sollen ihnen ohne Slogans und Fahnen wirkliche Pro- und Contra-Argumente vorführen.

Ein Argument ist, dass die katalanische Kultur und Sprache ohne eigenen Staat nicht überleben kann.

Das scheint mir ganz übertrieben. Ja, Sprachen können untergehen. Meine Mutter wurde im Süden Ostpreußens geboren, wo man viel Masurisch sprach – auch ihre Eltern. Die Sprache wurde von den deutschen Behörden geduldet, aber nicht geschützt und gefördert. Nach der Vertreibung am Ende des 2. Weltkriegs starb sie schnell aus. Meine Mutter sagt, das war nie ein Problem in ihrer Familie. Warum nicht? Nun, ein Unterschied ist, dass Franco verboten hat, Katalanisch auf der Straße zu sprechen. Das war eine riesengroße imperialistische Dummheit. Aber heute lebt die katalanische Sprache intensiver denn je, ja, sie entwickelt sich fort, wofür ich später ein kleines Beispiel geben kann. Sie ist geschützt, und niemand unterdrückt irgendwelche kulturellen Traditionen Kataloniens. Der wunderbare katalanische Philosoph des Mittelalters, Ramon Llull, dem Leibniz seine bahnbrechenden Ideen zur Entwicklung einer Rechenmaschine zuschrieb und der wichtige Ideen zu effektiven demokratischen Wahlverfahren entwickelt hat, wird heute intensiv studiert. [9] Keine spanische Regierung unterdrückt das. Für die Sicherung von Sprache und Kultur braucht man keine staatliche Unabhängigkeit Kataloniens.

Warum hängen einige Separatisten ihr dann so sehr an?

Vielleicht liegt es teils an den leicht zu machenden und leicht auszunutzenden Vermengungen von Selbstbestimmung und Sezession, von Volks- oder Nationenbegriffen. Man sollte das Entstehen und die Wirkweise der These, dass ein Volk ohne eigenen Staat nicht überleben kann, einmal genau wissenschaftlich untersuchen: Wie weit hat vergangene Unterdrückung zu negativen Emotionen, dann zu verhärteten Vorurteilen und schließlich zu sozialen Konflikten geführt, durch die kein rationales Argumentieren mehr hindurch kommt? Oder wie weit war es das organisierte Verbreiten von falschen Meinungen, die die These am Leben hält? Keine leichte Forschungsaufgabe, aber gerade in Zeiten der Manipulation von Fakten ist sie wichtig.

Sie hatten vorhin schon eine stärkere Präsenz des spanischen Nationalismus in dieser Debatte erwähnt. Scheint es nicht bemerkenswert, dass Rajoy allein 2006 schon mehr als 4 Millionen Unterschriften gegen das katalanische Statut sammeln konnte, unter anderem mit dem Argument, dass in der Präambel stand, Katalonien sei eine Nation? Gleichzeitig lag der katalanische Nationalismus, der für die Unabhängigkeit war, bis zu diesem Zeitpunkt bei 10-14 Prozent (damals gab es 14 Abgeordnete von Unabhängigkeits-Parteien, heute sind es 70). Inwieweit war die Reaktion der Katalanisten vielleicht auch eine Gegenreaktion auf den spanischen Nationalismus? Übrigens haben die Basken bei Haushaltsverhandlungen gerade erreicht, dass das Baskenland sich als „Nation“ bezeichnen darf.

Wie ich schon andeutete: Die Geschichte der nationalistischen Aktionen und Reaktionen ist komplex, und man kann sie fast beliebig umerzählen. Wenn die Reaktion der Katalanisten eine Gegenreaktion war, kenne ich viele, die sagen, dass Katalonien schon länger finanziell stärker gefördert worden ist, etwa durch den Einfluss der Pujol-Partei als Zünglein an der Waage bei der spanischen Regierungsbildung in den letzten Jahrzehnten. Das ist alles schwierig objektiv festzuzurren; es braucht gründliche Aufarbeitung statt wiederholter Slogans. Wir sollten uns aber zur Abwechslung auch einmal fragen: Worin würde die Politik bestehen, wenn man alle Nationalismen daraus wegstreichen und sich auf wirkliche Lebensfragen für Bürgerinnen und Bürger konzentrieren müsste? Versuchen Sie sich das einmal genau vorzustellen. Das kann gedanklich befreiend sein. Und man würde eine Menge Zeit und Kraft für Wichtigeres gewinnen.

Ist Spanien in seiner derzeitigen politischen Konstellation reformierbar?

Der Soziologe Max Weber hat gesagt: Politik ist das beharrliche Bohren dicker Bretter. Sehen Sie sich an, wie sich in ein, zwei Legislaturperioden das Parteiensystem verändert hat. Und wie nun gerade vor ein paar Tagen die Regierung gewechselt hat. Die Konstellation ändert sich. Außerdem geht es Spanien heute ökonomisch besser als zur Zeit der nach 2007 und 2008 einsetzenden, tiefen Wirtschaftskrise.

Denken sie auch daran, dass Spanien etwa unter José Luís Zapatero [10] schneller mit der vollen Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben vorangeschritten ist als Deutschland. Manchmal braucht man Geduld. Es ist aber nicht fair zu fordern, Katalonien müsse unabhängig werden, wenn einem gewisse Entwicklungen nicht schnell genug kommen. Das ist keine Position, die sich verallgemeinern lässt und entspricht darum keiner legitimen politischen Regel.

Haben die Nationalstaaten denn noch Zukunft?

Nationalstaatsprojekte haben sich zumeist an Sprachgemeinschaften orientiert (mit Ausnahmen wie die Schweiz, die sich als „Willensnation“ definiert hat). Manchmal wurde das Sprachargument ergänzt durch vage Appelle an kulturelle Identitäten von Völkern. Johann Gottfried Herder [11] hat diese Ideen gegen Kant populär gemacht; übrigens waren auch die ersten katalanischen Nationalisten von Herderschen Ideen inspiriert – und noch Jordi Pujol [12] hat sich als Anhänger Herders beschrieben. Mir selbst kommt die Idee des Nationalstaats antiquiert vor; der aktuelle Nationalismus in der Welt scheint mir, zumindest in langer Perspektive, ein Schlussgefecht zu sein. Ich teile Kants vielleicht utopisch wirkende Auffassung, dass die Menschheit sich auf eine Art Weltregierung hinzu bewegt, auch wenn heute die UNO noch schwach ist. Aber von unten wächst vieles.

Die EU ist ein historisches Experiment, aus der Fixierung auf nationale Identitäten herauszufinden. Kant sagte, man muss Geduld haben, vielleicht tausende Jahre; aber vielleicht wird der technische Fortschritt uns auch schneller zusammenzwingen. Alle Staaten brauchen Partner, nicht nur zur Kriegsverhinderung und zum globalen Klimaschutz. Wir wollen so frei wie möglich reisen und arbeiten und leben. Wir erleben das Leid anderer, etwa in Syrien, stärker als je zuvor; und die Menschen in armen Teilen haben manchmal über Smartphones eher Zugang zum Internet als zu sicherer Wasserversorgung. Sie wollen eine gerechtere Wirtschaftsordnung, soziale Mindeststandards, Überwindung von Armut. All das geht nicht ohne eine tiefe internationale Kooperation. Der Nationalismus sucht nur den eigenen Bewohnern Vorteile zu sichern oder fördert Phrasen darüber, dass eine andere Seite am eigenen Unglück schuld sei. Die reine Idee des Nationalstaates scheint mir zudem auch unrealisierbar.

Was ist daran problematisch?

Man muss hier wieder moralisch argumentieren: Kann das, was ich will, eigentlich von allen gewollt werden? Wir haben in ganz Europa 33 Staaten, aber 87 Sprachen, und in der Welt über 6500 Sprachgemeinschaften. Sollen die alle einen Staat haben? Hat die Menschheit Zeit, so eine strikt national organisierte Form ihrer Staaten aufzubauen, unter Vermeidung von Konflikten und Gewalt, die dabei drohen? Wie soll etwa die EU in ihrer aktuellen Verfassung, in der sie doch noch erheblich von der Zustimmung aller Mitglieder abhängt, mit 40 oder 50 Mitgliedsstaaten regierbar sein? Die EU ist ein Experiment. Es kann scheitern. Wäre die EU schon in einem stabilen Zustand einer transnationalen Demokratie mit einer eigenständigen Exekutive und Legislative, so könnte man Neuaufteilungen der Mitgliedsländer womöglich entspannter sehen. Aber heute ist es „noch“ der Europäische Rat, die Vertretung aller Mitgliedsstaaten, der die stärkste Entscheidungsmacht hat. Viele Seiten in der EU wollen das ändern; aber das ist nicht einfach.

Ich meine übrigens nicht, dass jetzt sofort alle nationalstaatlichen Grenzen aufgehoben werden sollten. Das gäbe nur neuen Ärger, vermutlich auch Kriege. Ich bin hier pragmatisch: Grenzen sind historisch entstanden und darum nicht sakrosankt. Aber man soll sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen – zumal nicht, wenn man schon in einer repräsentativen Demokratie lebt. Dann muss man innerhalb der Demokratie um Reformen kämpfen.

Sie sind gegenüber der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sehr kritisch. Gibt es nichts Positives an ihr?

Ja, es gibt auch positive Aspekte der Bewegung: Die Katalanisten sind zuallermeist friedlich, sie haben mit enormen Engagement für ihr Ideal einer besseren Gesellschaft gekämpft, und sehen sich als konsequente Demokraten und Europäer. Das unterscheidet sie sehr von antieuropäischen Nationalisten wie die britische UKIP und Marine Le Pen in Frankreich.

Gut wäre, wenn man mit so viel Einsatz, mit Demonstrationen von Hunderttausenden etwa für eine wirksame Umweltpolitik oder für Frauenrechte kämpfen würde – oder für Verbesserungen der spanischen Verfassung und Gesetze. Aber während Akademiker wie ich das gern so hätten, ist das nicht leicht. Menschen begeistern sich oft nur für Politik, wenn es dramatische Anlässe und geeignete Führungsfiguren gibt. Aber es gibt gute Beispiele: wie gerade in den USA die Bewegung junger Leute gegen die zu laxen Waffengesetze. Da war Beeindruckendes zu beobachten, das auch noch Folgen bei kommenden Wahlen zeigen kann. Hierzulande sollten sich politische Leitfiguren, aber auch normale Bürgerinnen und Bürger fragen, was ihre Mitmenschen positiv bewegen kann.

Die Menschen hier haben lange in die Politik vertraut: erst in die staatliche, dann in die katalanische und jetzt scheint auch das für viele nicht zu funktionieren. Sollten vielleicht die Politiker mehr in die Bürger vertrauen als umgekehrt?

So einfach geht es nicht. Es gibt ja ehrliche Politikerinnen und Politiker. Noch einmal, Politik ist ein schweres Geschäft. Das unterschätzen viele Menschen. Man sollte alle Bürgerinnen und Bürger viel näher mit der täglichen Praxis der politischen Arbeit vertraut machen. In den Schulen sollte exemplarisch gelehrt werden, wie bestimmte Kompromisse erreicht wurden – große wie kleine, also den schwierigen Verfassungskompromiss nach dem Ende der Franco-Diktatur ebenso wie konkrete Gesetze zur Gesundheitsversicherung oder Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur.

Manche denken, dass die Politik eben gerade das ist – ein Geschäft, und das darin eines der Hauptprobleme liegt …

Gut, ich verzichte auf die Metapher. Was ich meine, ist, dass wir oft zu wenig informiert sind, um wirklich gut begründete Entscheidungen zu treffen. Fragen Sie einmal einen beliebigen Unabhängigkeitsbefürworter oder auch Unabhängigkeitsgegner zwei Dinge: 1. Was ist von der Einschränkung des Autonomiestatuts seitens des Verfassungsgerichts im Jahr 2010 zu halten? 2. Welche der 14 abgelehnten oder eingeschränkten Artikel können Sie nennen, und warum hat das Gericht so geurteilt wie geschehen? Ich habe das viele, auch gut gebildete und politisch engagierte Leute gefragt. Bei der ersten Frage haben die meisten eine klare Position, aber bei Frage 2 waren Antworten armselig. Und das, obwohl eine vernünftige Abwägung doch verlangt, dass man Frage 2 zumindest ansatzweise durchdacht hat, bevor man sich zu Frage 1 verhält! Bekannt ist meist nur der Konflikt um die Frage, ob Katalonien sich eine „Nation“ nennen darf.

Demokratie braucht viel besser informierte und selbständig denkende Bürgerinnen und Bürger. Was wir heute bei der Wahl von Trump, beim Brexit oder beim Anwachsen populistischer Bewegungen erleben, hat immer damit zu tun, dass den Menschen einfache Antworten angeboten werden, die in ihre Denkschemata passen. Das funktioniert, weil die meisten Menschen keine Zeit haben, sich mit Politik wirklich zu beschäftigen. Aber wir können und müssen das ändern, wenn unsere Demokratien überleben sollen. Wir können in den Schulen beginnen. Und wir alle werden in Zukunft durch die wachsende Automatisierung der Arbeitswelt mehr Zeit haben. Zeit, die man mit Katzenvideos oder mit mehr politischer Bildung verbringen kann. Auch die Medien haben hier eine Bringschuld.

Die Staaten schauen nach Katalonien. Welche langfristigen Lehren werden sie ziehen?

Das ist offen, teils, weil der Konflikt ungelöst ist, teils, weil es ja weniger Staaten als Menschen sind, die Lehren ziehen. Wir sagen heute oft, dass zum Beispiel „Deutschland“ gewisse Lehren aus den Verbrechen der Nazizeit gezogen hat: Zum Beispiel, die Verbrechen nicht zu verdrängen. Aber das ist nur eine Kurzformel dafür, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen diese Lehre gezogen hat. Das muss – leider – nicht auf ewig so bleiben, genau wie die Lehren über Deeskalation im Kalten Krieg ja auch wieder vergessen werden.

Ich kann hier nur einen doppelten Wunsch äußern: Dass erstens die Politik mehr beherzigt, wie riskant es ist, populistische Stimmungen zu nutzen, denn diese verselbständigen sich leicht. Selbst wenn die Menschen friedlich bleiben, hat man dann doch radikalisierte Köpfe, die einander durch Stereotype hindurch ansehen und nicht mehr zusammenarbeiten können. Und zweitens, dass die Politik ihre knappen Ressourcen ernsthaft auf die wichtigsten Probleme konzentriert, etwa auf die Rettung der Umwelt, auf Bürgerkriege wie den in Syrien oder den in Libyen. Der heutige Nationalismus in Europa ist eine lächerliche Reaktion auf solche Probleme. Er nützt gar nichts.

Ist die parlamentarische Demokratie eine Zukunftsoption oder müssen neue Wege gefunden werden, um die Bürgerbeteiligung in der Globalisation zu garantieren?

Sowohl als auch. Und die neuen Wege sollten verpflichtend enthalten, dass Regierungen, die in bestimmten Fragen Referenden ausrufen, die Wählerschaft vor allem über die Voraussetzungen und (zu erwartenden) Folgen der verschiedenen Entscheidungsoptionen unterrichten. So wird es in der Schweiz gemacht; man erhält zu den Referenden ein informierendes „Abstimmungsbüchlein“. Es war unzulässig, auch mit dem Venedig-Kodex [13] unvereinbar, dass die katalanische Regierung beim Referendum vom 1. Oktober so einseitig Stellung bezogen hat. Das ist nicht so, wie man die Menschen zu eigenständigen, mit Argumenten gestützten Entscheidungen bringt.

Welche Zeitungen lesen Sie?

ElPais, Ara, Elpuntavui, LaVanguardia, La Razon, El Diario, El Nacional, New York Times, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel – diese und ein paar andere mehr. Natürlich nicht alle jeden Tag. Ich mische systematisch und versuche regelmäßig, die zu lesen, deren Meinung mir nicht gefällt – etwa in meinem Fall Ara oder Elpuntavui oder, um ein ganz anderes Beispiel zu wählen, Russia Today. Ich würde übrigens nicht nur Zeitungen empfehlen. Das Internet bietet viel mehr. Historische Hintergrundberichte in Film und Text, Quellen (wie etwa politische Gesetze, Verfassungen oder internationale Verträge), ökonomische Statistiken oder soziologische Expertisen. Das bringt oft mehr als eine Zeitung von vorne oben links bis hinten unten rechts zu lesen.

Was hat Sie bewogen, Philosophie zu studieren?

Ich war seit meiner Jugend an philosophischen Fragen interessiert, zunächst vor allem zur Rationalität von moralischen Urteilen. Ich habe in den späten 1980ern in Göttingen zu studieren begonnen, die damals fast die einzige war, an der die Analytische Philosophie gelehrt wurde: eine Richtung, die nicht auf eine Weltanschauung verpflichtet ist, sondern die versucht, jedes Problem mit Interesse an sachlicher Problemlösung durch Begriffsanalyse und Klarheit und Strenge der Argumente so weit wie möglich zu lösen. Der vor kurzem verstorbene Philosoph Günther Patzig [14] war dort damals führend. Er war seit den 1950er Jahren einer der ersten, die die von den Nazis aus Deutschland vertriebene analytische Tradition wieder aufgebaut haben. Er hat mich tief beeindruckt. Vor allem sein Umgang mit uns Studierenden war vorbildlich. Er hat uns im besten Sinne des Wortes: gebildet.

Was bedeutet Fortschritt für Sie?

Das ist ein großer, viele Erwartungen weckender Begriff. Ich habe keine Definition dafür. Aber mir scheint, es gibt gute Beispiele: Der deutsch-französische Ausgleich nach dem 2. Weltkrieg – das half, jahrhundertealten Hass zu überwinden. So sehr, dass uns heute selbstverständlich erscheint, was einmal wie ein Wunder aussah. Nelson Mandelas Haltung gegenüber seinen Unterdrückern – die war schon beinahe übermenschlich. Aber sie ermöglichte einen Wandel, der Millionen Menschen das Wahlrecht und politische Freiheit brachte.

Der Fortschritt, den Katalonien jetzt braucht, muss meines Erachtens darin bestehen, einen neuen Grundkonsens in der gespaltenen Bevölkerung zu schaffen. Im kanadischen Quebec, das vor längerer Zeit an einer ähnlichen Spaltung litt, hat die Zeit die Wunden geheilt. Junge Leute fragen seitdem immer mehr: Was sollte der ganze Streit? Genau wie in Deutschland und Frankreich erst nach dem 2. Weltkrieg die Einsicht um sich griff, dass die Kriege blutiger Unfug waren. Die Frage für uns ist: Wollen wir in Katalonien weiter Zeit mit einem Patt zwischen den verhärteten Fronten vergeuden? Oder wollen wir alle aktiv die convivencia wiederherstellen? Ich würde auch hierfür die erwähnte Kommission einsetzen. Man sollte Fakten klären, für gegenseitiges Verständnis werben und gemeinsame Werte aufbauen. Jede Seite sollte sich dabei zuerst an die eigene Nase fassen; nur dann kann man auch andere bewegen. Ich denke, wenn wir selbst den Fortschritt und Wandel erzeugen, statt nur auf die Zeit zu hoffen, könnte der Schaden geringer ausfallen.

Wie motivieren Sie Ihre Studenten?

An meiner Bürotür hängt ein Cartoon: Am „career day“ werden Kinder in der Schule gefragt, was sie später für einen Beruf haben wollen. Ein Junge mit Brille sagt: „Ich will Philosoph werden. Wenn ich groß bin, werden alle anderen Berufe von Computern und Maschinen gemacht.“ Was dahinter steckt, ist dies: Philosophieren hilft, sich von Vorurteilen zu befreien und stattdessen auf eine Weise selbständig zu denken, also kritisch und rational überlieferte Meinungen, Werte und Regeln zu prüfen, ja neue Werte und Normen zu schaffen, die von allen geteilt werden können. Das können Maschinen nicht.

In Philosophieseminaren trainiert man das selbständige Denken an Themen wie der Willensfreiheit, der Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen oder noch abstrakteren Problemen. Aber man kann die gewonnene Expertise auf fast alle anderen Probleme anwenden. Junge Menschen haben oft Ideale, und die Politik braucht Ideale und ein wenig Enthusiasmus. Aber das ist nicht genug. Es ist entscheidend, sich die Regeln des eigenen Denkens und Handelns klar zu machen und diese schärfster Kritik auszusetzen. Nichts ist ganz sakrosankt; aber jede Kritik muss am Ende auch konkret und dogmenfrei sein.


Professor Thomas Sturm Universität Barcelona UAB. (Foto: Privat)Prof. Dr. Thomas Sturm ist ICREA-Forschungsprofessor an der Autonomen Universität von Barcelona (UAB). Seine Arbeit konzentriert sich auf Kants Philosophie, Theorien der Rationalität an der Schnittstelle von Philosophie und Sozialwissenschaften und die Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Hauptveröffentlichungen: Kant und die Wissenschaften vom Menschen (2009); How Reason Almost Lost Its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality (Co-Autor mit L. Daston, M. Gordin, P. Erickson, J. Klein und R. Lemov, 2013).


[1] John Rawls (1921-2002) war ein US-amerikanischer Philosoph, der als Professor an der Harvard University lehrte. Sein Hauptwerk A Theory of Justice gilt als eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.
[2] Andreu Mas-Colell ist ein spanisch-katalanischer Ökonom, Professor an der Universität Pompeu Fabra und ehemaliger Minister für Wirtschaft und Wissenschaft der Autonomen Gemeinschaft Katalonien.
[3] Immanuel Kant (1724-1804) war ein deutscher Philosoph der Aufklärung. Er zählt zu den bedeutendsten Vertretern der abendländischen Philosophie. Sein Werk Kritik der reinen Vernunft kennzeichnet einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und den Beginn der modernen Philosophie.
[4] Jairo Gomez/Gunther Sosna: Spanien und der Schatten der Diktatur. Erschienen auf Neue Debatte am 16.03.2016.
[5] Der Kniefall von Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos war eine Demutsgeste im Rahmen der von Brandt und seiner Regierung betriebenen Ostpolitik und die Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs.
[6] Die Kubakrise im Oktober 1962 war eine Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der UdSSR. Sie entwickelte sich aus der Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen vom Typ Jupiter auf einem NATO-Stützpunkt in der Türkei und die daraufhin beschlossene Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba. Während des Schiffstransports der Raketen nach Kuba drohte die amerikanische Regierung unter Präsident John F. Kennedy, sie werde nötigenfalls Atomwaffen einsetzen, um die Stationierung zu verhindern. Die eigentliche Krise dauerte 13 Tage und endete mit einem Deal: Die Sowjetunion zieht ihre Raketen aus Kuba ab. Dagegen erklären die USA, keine weitere militärische Invasion Kubas zu unternehmen und in geheimer Absprache ihrerseits die amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei abzuziehen. Mit der Kubakrise erreichte der Kalte Krieg eine neue Dimension. Die beiden Supermächte USA und UdSSR kamen während der Krise einer direkten militärischen Konfrontation am nächsten. Die Gefahren eines möglichen Atomkrieges wurden einer breiten Öffentlichkeit bewusst.
[7] Artikel 155 der spanischen Verfassung: (1) Wenn eine Autonome Gemeinschaft die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, daß ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt, so kann die Regierung nach vorheriger Aufforderung an den Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft und, im Falle von deren Nichtbefolgung, mit der Billigung der absoluten Mehrheit des Senats die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Gemeinschaft zur zwangsweisen Erfüllung dieser Verpflichtungen anzuhalten oder um das erwähnte Interesse der Allgemeinheit zu schützen. (2) Zur Durchführung der in Absatz 1 vorgesehenen Maßnahmen kann die Regierung allen Behörden der Autonomen Gemeinschaften Weisungen erteilen. Auf www.verfassungen.eu/es/verf78-index.htm [abgerufen am 08.06.2018].
[8] Blickpunktkatalonien vom 23.03.2018: 13 katalanische Spitzenpolitiker der Rebellion angeklagt, 25 Politiker insgesamt auf der Anklagebank. Auf http://blickpunktkatalonien.com [abgerufen am 08.06.2018]
[9] Ramon Llull (um 1232 bis Anfang 1316) war ein mallorquinischer Philosoph, Logiker, Grammatiker und franziskanischer Theologe. Aufgrund seiner Christusvisionen war er als Missionar im gesamten Mittelmeerraum tätig und lehrte zudem an den Hochschulen von Paris und Montpellier. Llull war beeinflusst durch die christliche, die islamische und die jüdische Kultur. Einen Großteil seiner Werke verfasste er auf lateinisch und katalanisch. Llull gilt daher als Begründer der Katalanischen Literatur.
[10] José Luís Zapatero war vom 17. April 2004 bis zum 20. Dezember 2011 Ministerpräsident von Spanien sowie von Juli 2000 bis Februar 2012 Vorsitzender der PSOE (Partido Socialista Obrero Español; dt.: Spanische Sozialistische Arbeiterpartei).
[11] Johann Gottfried Herder (1744-1803) war ein deutscher Dichter, Übersetzer, Theologe sowie Geschichts- und Kultur-Philosoph der Weimarer Klassik. Er wurde 1802 geadelt.
[12] Jordi Pujol ist ein spanischer Politiker. Er war von 1980 bis 2003 Regierungschef Kataloniens sowie bis 2003 Vorsitzender der Partei Convergència i Unió.
[13] Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) ist eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät. Zu den Tätigkeiten der Kommission zählt u.a. die Begutachtung nationaler Verfassungsentwürfe. Die Venedig-Kommission und der Rat für Demokratische Wahlen haben Wahlgrundsätze aufgestellt und einen Verhaltenskodex für Wahlen ausgearbeitet. Link zur Homepage: www.venice.coe.int [abgerufen am 08.06.2018]
[14] Günther Patzig (1926-2018) war ein deutscher Philosoph und Experte für griechische Philosophie, für Logik und Geschichte der Logik, die Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften sowie Ethik (Schwerpunkte: Bio- und Medizinethik).

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