Seit Sonntag Abend frage ich mich, wie viel wohl die Menschen außerhalb Italiens von der letzten Episode dessen verstanden haben, was manchmal mehr einer Telenovela zu gleichen scheint, als einer politischen Debatte.
Als Koordinator der italienischen Redaktion von Pressenza meine ich, die Kompetenz zu besitzen, um dem Rest der Welt diese Angelegenheit in verständlicher Weise erklären zu können, und dies aus einem Blickwinkel heraus zu tun, der sich um Frieden, Gewaltfreiheit, Humanismus und all die anderen Themen bemüht, die in dieser Agentur vorzugsweise behandelt werden.
Beginnen wir damit, dass die Themen, die uns am Herzen liegen, schon während der Wahlkampagne bei den meisten Parteien wenig Beachtung fanden: die Tendenz war, mit einigen wenigen Ausnahmen, lieber über das zu sprechen, was gerade in Mode ist, also über Sicherheit, Immigration, Steuern etc., blumige Versprechen abzugeben und die politischen Gegner zu beleidigen. Kurz: ein beklagenswerter Verfall der Politik mit einer Rhetorik, wie man sie eher in Fußballstadien vermutet (zum Thema Beleidigungen und Hassrhetorik während des italienischen Wahlkampfes hat Amnesty International einen interessanten Bericht veröffentlicht).
Die politischen Kräfte, die „gewinnen sollten“, haben auch gewonnen und dann als Politiker verkleidet so getan, als ob sie regierten. Alle scheinen vergessen zu haben, dass Italien eine parlamentarische Republik ist und dass die Macht dem Volk gehört (siehe Artikel 1 der italienischen Verfassung) und dass daher eine Regierung auch eine Mehrheit im Parlament haben muss. Nun begab es sich aber, dass keine der politischen Kräfte, die sich vor den Wahlen zu Koalitionen zusammengeschlossen hatten, die absolute Mehrheit erreicht haben, und man deshalb gezwungen war, hinterher mit jemand anderem koalieren, der zuvor im Wahlkampf der eigene Gegner war.
Seit dem Wahlausgang (Anfang März) bis letzten Sonntag (Ende Mai) lösten sich eine politische Persönlichkeit nach der anderen ab, um irgendwie Allianzen zu bilden. Die letzte davon ist diejenige zwischen der Lega (ehemals Lega Nord), die in der Rechts-Mitte-Koalition mehr Stimmen als alle anderen holten, und dem Movimento 5 Stelle (5-Sterne-Bewegung), die mit niemandem vorher koaliert hatte, und die als Partei alleine, also ohne Koalitionspartner, die meisten Stimmen bekam. Diese beiden Fraktionen, von den Kommentatoren oft als „populistisch“ bezeichnet, haben einen Regierungsvertrag einer „Regierung des Wandels“, wie sich dich selber definieren, geschlossen.
Diese Regierung also, ganz im Einklang mit der allgemeinen Wahlkampagne, beschäftigte sich auch weiterhin mit Immigration, Steuern und Sicherheit und ziemlich wenig mit den Themen, die uns interessieren. Und sie hat es auch in der Vergangenheit getan, indem sie der NATO Treue schwor, repressive Maßnahmen gegen Immigranten, Roma und Muslime ergriff, die Mittel zur Aufnahme von Flüchtlingen kürzte, Wertschätzung für die Kriegsindustrie an den Tag legte, die Anzahl der Polizeikräfte erhöhte und ein Gesetz zur legitimen Selbstverteidigung vorlegte. Zu anderen Themen, die in unser aller Interesse wären, also Wirtschaft, Bildung und Schulen, Gemeingüter, Infrastruktur, allesamt übrigens Lieblingsthemen der 5 Stelle, ist im Regierungsvertrag außer allgemeinen Aussagen und vagen Versprechungen nicht viel zu finden, zudem hätte es mindestens eine öffentliche und transparente Diskussion über sie geben müssen.
Im Laufe des letzten Sonntag Nachmittags kam es dann zum Schlagabtausch zwischen der Regierung von Guiseppe Conte (einem bis dato unbekanntem Anwalt, der zum Ministerpräsident gemacht wurde) und dem Staatspräsidenten Mattarella, im Bezug auf den Wirtschaftsminister Savona, der laut Mattarella unsere Treue zur Europäischen Union nicht hätte garantieren können: „Die Unsicherheit über unsere Position im Bezug auf den Euro hat italienische und auswärtige Anleger in Alarmbereitschaft versetzt, die in Titel und Unternehmen investiert haben. Die Erhöhung des Spread (sogenannte Renditespanne für Staatsanleihen; mehr Infos dazu hier) erhöht auch die Schulden und reduziert die Möglichkeiten für Ausgaben im sozialen Bereich. Das verbrennt Ressourcen und Ersparnisse der Unternehmen und es sind Vorboten für ein erhöhtes finanzielles Risiko für Familien und italienische Bürger“.
Diese Zurückweisung des Staatspräsidenten, zusammen mit der Weigerung seitens der Regierung und ihrer Unterstützer, wiederum den Wirtschaftsminister auszutauschen, führte zum Rücktritt Contes und einer „technischen“ Ernennung von Carlo Cottarelli, der eine lange Karriere beim Internationalen Währungsfond hinter sich hat und berühmt für seine vorherige Position als Kommissar der Spending Review ist, also der Ausgabenaufsicht, mit dem Ausblick, das Land zu den nächsten Wahlen zu führen.
Natürlich haben diese Geschehnisse zu zahlreichen Interpretationen geführt, die davon am weiten verbreitetste ist, dass dieses Land eine Souveränität besitzt, die an die internationale Märkte gekoppelt ist. Andererseits haben sich Solidaritätskampagnen mit dem Ministerpräsidenten gebildet, der von den ehemaligen großen Regierungspartien auf verschiedene Weise angegriffen wurde. Zudem gibt es auch Vermutungen wie „die Lega hat das extra gemacht, damit neu gewählt wird“ und die aber, ehrlich gesagt, eher in den Bereich Stammtischgerede als politische Diskussion gehören. Tatsächlich aber hat seit diesem Moment die Wahlkampagne erneut begonnen.
Wir können aus dieser Geschichte einige Dinge lernen:
– Sobald man an neoliberalen Dogmen rührt, treten außerpolitische, ökonomische und Medienrelevante Kräfte auf den Plan
– Die Verfassung zählt immer weniger: die zu Recht als verfassungswidrige zu bezeichnende Maßnahme der „Flat Tax“ (nur ein oder zwei Steuersätze für alle) steht definitiv im Widerspruch zur Steuerprogression, die im Artikel 53 festgelegt ist, und der aber niemand, auch nicht der Staatspräsident als Garant der Verfassung, widersprochen hat.
– Das Festhalten an konkreten Dingen, um vom großen Szenario abzulenken, berühmtes Mantra des Neoliberalismus, dominiert weiterhin die politische Landschaft.
– Die Meinung der Italiener zählt immer weniger: eine gute Mehrheit der Wähler sowohl der Lega als auch des 5 Stelle hätten sich nie vorstellen können, noch es sich gewünscht, dass diese beiden Partien jemals eine Allianz bilden, wie es dann aber geschehen ist.
– Es wäre äußerst dringend, dass sich die antirassistische, humanistische, gewaltfreie, solidarische, pazifische, ökologische und basisdemokratische Linke als breites Bündnis zusammentut, um eine realistische Alternative gegen den voranschreitenden Pragmatismus zu bilden.
Dieser letzte Punkt ist ein lange währender Traum des Autors dieses Artikels, angesichts der Destrukturierung, die in der Welt immer weiter voranschreitet, und der immer noch geringen Anzahl derjenigen Kräfte, die tatsächlich für einen Paradigmenwechsel stehen. Mit Sicherheit aber hat das vor kurzem in Madrid stattgefundene Europäische Humanistische Forum einige dieser Menschen zusammengebracht und somit ein konkretes Zeichen der Hoffnung gegeben.
Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter