Das Museum „Cemeterio Pretos Novos“ ist das einzige seiner Art in ganz Amerika. Auf seinem Grundstück liegen bis zu 30.000 Sklaven begraben. Junge Sklaven, frisch in Brasilien angekommen, die „pretos novos“, die neuen Schwarzen. Einen solchen Ort gibt es sonst nirgendwo. Es hat Preise gewonnen. Zuletzt einen vierten Platz der Stiftung des Ölkonzerns Petrobras. Es hat 2017 erst einen spektakulären Fund gemacht – ein komplett erhaltenes Skelett, sie nannten es Josefina Bakhita, nach der ersten schwarzen Heiligen der katholischen Kirche.
Und dennoch steht das kleine Museum vor dem Aus. Die Stadt Rio de Janeiro hat die Zuschüsse gestrichen. Auch wenn die Stadt zurzeit pleite ist, wirft das Schicksal des Museums ein exemplarisches Licht auf den Umgang, wie man in Brasilien mit einem der dunklen Kapitel der Geschichte, der Sklaverei, umgeht.
Es ist kein großer Betrag, der fehlt: Rund 83.000 Reais (knapp 21.500 Euro zurzeit). Bislang hatte den die Stadt Rio immer zugeschossen, nun nicht mehr. Das bereitet Merced Guimarães Sorgen. Sie ist Präsidentin des kleinen Museums im Hafenviertel Gambôa. Hier entstand die Stadt Rio de Janeiro einst. In der Nachbarschaft wurde für Olympia kräftig aufgemöbelt, die neue oberirdische Leichtbahn VLT schnurrt am Museum vorbei. Alles das hat viel Geld gekostet. Mehr, als die Stadt hatte. Große Summen versickerten zudem.
Evangelikaler Bürgermeister dreht den Geldhahn zu
Bis 2016 flossen die Zuschüsse. Seit Anfang 2017 hat Rio einen neuen Bürgermeister. Marcelo Crivella, evangelikaler Ex-Bischof hat sicher eine desolate Haushaltslage von Vorgänger Eduardo Paes übernommen. Doch er setzt auch andere Akzente. Der Karnevalseröffnung blieb er fern – ein Affront. Den Sambaschulen kürzte er die Zuschüsse um die Hälfte. Auf dem Pedra da Sal, einem Felsen im Hafenviertel, dort, wo die ersten freien Sklaven siedelten, wollte er die viel besuchten öffentlichen Sambakonzerte an den Wochenenden verbieten.
Holocaust – so bezeichnet Merced Guimarães das, was den Sklaven in Brasilien widerfuhr. Rund 4,9 Millionen Sklaven wurden im Laufe der Jahrhunderte aus Afrika nach Brasilien verschleppt. Ein Großteil kam am Volongo Kai an Land, nur einen Block vom früheren Friedhof entfernt. Die meisten malochten auf den Zuckerrohrfeldern oder in Kaffeeplantagen. Zum Vergleich: In den USA waren es „nur“ rund 500.000. Die, die die Überfahrt nicht überlebten und zudem auch noch jung waren, wurden in der heutigen Rua Pedro Ernesto, 32/34 entsorgt: In Löcher geworfen, die Knochen gebrochen, verscharrt.
„Brasilianischer Holocaust“
Die genaue Opferzahl lässt sich nur anhand alter Registrierungsbücher ermitteln und hochrechnen. Ein Buch aus den Jahren 1824-30 listet 6.000 Tote auf. „Wir wissen, dass der Friedhof rund 60 Jahre existierte“, sagt Merced Guimaraes. 6.000 Tote in einem Buch, 1000 pro Jahr – wäre der Friedhof immer so genutzt wurde hieße das, im Untergrund der rund 1000 Quadratmeter großen Fläche lägen die sterblichen Überreste von 60.000 Sklaven. „Gehen wir mal von gut der Hälfte aus“, sagt Guimaraes. Nicht nur deshalb spricht sie, was das Schicksal der Sklaven in Brasilien betrifft, ganz bewusst von einem Holocaust. Müsste das Museum schließen, würde ein Teil der Erinnerung daran ausgelöscht.
Brasilien hat kein ungetrübtes Verhältnis zu diesem Teil seiner Geschichte. Erst 1888, später als jedes andere Land in Amerika, schaffte man die Sklaverei ab. Prinzessin Isabel unterschrieb das Dekret in Vertretung ihres kranken Vaters Dom Pedro II. Damit verschwand die Sklaverei jedoch nicht aus Brasilien.
Sklaverei noch immer alltäglich in Brasilien
Bis zum heutigen Tag müssen Menschen etwa in der Landwirtschaft wie Sklaven schuften. Recherchen von Journalisten enthüllten kürzlich Verstrickungen des Autokonzerns VW und dessen großen Rinderfarmen in den 1950er und 60er-Jahren. Die österreichische Organisation Global 2000 und die christliche Initiative Romero beschrieben 2015 in der Studie mit dem Titel „Ausgepresst“ die Arbeitsbedingungen rund um die Orangensaft-Produktion im Bundesstaat Sao Paulo: Niedrigste Löhne, keinerlei Rechte, Produktivitätsdruck, extreme Arbeitszeiten, kaum oder gar kein Arbeitsschutz. Kurz: Wer sich den Regeln nicht unterwirft, verliert seinen Job und damit seine Existenz. Grundlage der Studie waren Gespräche mit Arbeitern, Gewerkschaftern und Anwälten, die Arbeiter vertreten. Die Orangenindustrie ist beileibe nicht der einzige Wirtschaftszweig, mit derlei Praktiken.
Lange galt Brasilien als fortschrittlich in der Bekämpfung von Sklavenarbeit. Seit einem 1995 erlassenen Gesetz konnten 50.000 Arbeiter befreit werden. Seit Oktober ist das anders. Grund ist eine neue Rechtsverordnung, die nicht nur den Begriff der Sklavenarbeit verwässert und die Beweislast erschwert. Außerdem regelt die Verordnung, dass eine „Schwarze Liste“ (Lista Suja) mit überführten Sklavenhalter nicht mehr veröffentlicht werden muss. Darin vermerkte Betriebe wurden bisher sanktioniert, waren beispielsweise von staatlichen Darlehensprogrammen ausgeschlossen. Zudem soll künftig der Arbeitsminister selbst entscheiden dürfen, ob die Liste veröffentlicht wird, oder nicht.
Politische Kritiker sehen in der Verordnung einen Kniefall vor der „Bancada ruralista“, der politischen Agrarlobby in Brasilia. Ihre Unterstützung war wichtig für Präsident Michel Temer, der diesen Sommer zwei Mal kurz hintereinander durch eine Parlamentsabstimmung einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren entkam. Fast jeder dritte Abgeordnete kommt direkt aus diesem Wirtschaftszweig.
Zufallsfund im Hafenviertel
André Esposito Roston, Präsident der staatlichen Behörde zur Bekämpfung der Sklavenarbeit (Detrae) sieht darin „nicht nur einen Flirt mit der Vergangenheit, sondern eine Rückkehr zu den Wurzeln eines Brasiliens, gegründet auf der Schmach der Sklaverei“. Antonio Rosa, Vertreter der Weltarbeitsorganisation ILO in Brasilien: „Brasilien verliert die Vorbildfunktion für die Bekämpfung der Sklaverei.“ Schon Anfang 2017 hatte die Regierung die Veröffentlichung der Schwarzen Liste blockiert und dafür eine Anzeige beim Menschenrechtsrat der UN hinnehmen müssen. Ende 2016 war Brasilien als erstes Land überhaupt vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte zu Schadenersatzzahlungen an Zwangsarbeiter verurteilt worden.
Die systematische öffentliche Aufarbeitung der brasilianischen Sklaverei findet kaum statt und wenn, wie im Falle der Kais von Volongo (Foto, oben) eher per Zufall. Im Zuge der Stadterneuerung stieß man im Stadtteil Gambôa 2011 auf die Überreste der Hafenmauer. Ein Teil wurde freigelegt und mit Infotafeln versehen. Nun will die Unesco dieses Areal zum Welterbe machen. Die Erinnerung wach zu halten bleibt dann nur privaten Stiftungen wie die, für die sich Merced Guimarães engagiert, vorbehalten. Ideen oder Pläne für zentrale Gedenkstätte oder ein Mahnmal an prominenter Stelle in Rio gibt es bislang nicht.
Dass es durchaus ginge, zeigt an anderes Beispiel. Im Juli legte Bürgermeister Crivella auf Morro do Pasmado der Grundstein für ein geplantes Holocaust-Mahnmal. Brasilien war zwar auf Drängen der USA im August 1942 auf Seiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eingetreten, Juden wurden in Brasilien aber keine verfolgt. 7-8 Millionen Reais (2,2 Mio. Euro) soll das Memorial nach Schätzungen mindestens kosten. Mit dem Geld könnte Merced Guimarães in ihrem kleinen Museum 100 Jahre die Personalkosten decken.