Die letzten Wochen haben die Unabhängigkeitsbefürworter in Katalonien vor besonders harte Anforderungen gestellt. Ihre Regierung, die 2015 aus legalen Regionalwahlen hervorgegangen war, wurde per Dekret durch Madrid abgesetzt und befindet sich gegenwärtig im Exil oder im Gefängnis.

Die Vorsitzenden der beiden größten Bürgerinitiativen, der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und von Òmnium Cultural, Jordi Sànchez und Jordi Cuixart, sitzen bereits seit einem Monat 600 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in Untersuchungshaft. Allen Inhaftierten werden ähnliche Verbrechen zur Last gelegt, u.a. der Strafbestand der „Rebellion“. In Spanien bedeutet dies, einen gewaltsamen Aufstand provoziert zu haben, worauf 30 Jahre Gefängnis stehen. Die fünf Mitglieder des katalanischen Parlamentspräsidiums und deren Präsidentin, Carme Forcadell, die Abstimmungen zum Referendum und zur Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober ermöglicht hatten, konnten vorerst gegen Kaution auf freiem Fuß bleiben, außer Forcadell, die eine Nacht in Untersuchungshaft verbrachte.

Das Katalanische Parlament und strategisch wichtige Einrichtungen wie der Rat für internationale Öffentlichkeitsdiplomatie (Diplocat) wurden mittels Zwangsverwaltung aufgelöst. Alle Ministerien der katalanischen Regierung sowie deren Zentrum für Telekommunikation und IT (CTTI) und alle Delegationen im Ausland wurden unter die Kontrolle Madrids gestellt. Mitarbeiter der katalanischen Ministerien berichten von persönlichen Anrufen aus Madrid, um bei jedem Angestellten dessen Bereitschaft zur Mitarbeit zu prüfen. Zudem sind die Mitarbeiter in bestimmten Bereichen zu einer detaillierten Aufarbeitung aller Tätigkeiten und Kommunikationen ab dem 15. September aufgefordert worden.

Kein Ende der juristischen Verfolgung in Sicht

Tatsächlich hat die spanische Militärpolizei, die Guardia Civil, in den letzten Wochen auch mehrere Notrufzentralen durchsucht und die Tonaufnahmen vom 1. Oktober und den Tagen davor beschlagnahmt, um Beweise dafür sicherzustellen, dass die katalanische Polizei, die Mossos d’Esquadra, ihre Pflicht im Bezug auf die Verhinderung des Referendums nicht ausreichend erfüllt hat. Der Bereich Sicherheit ist inzwischen auch endgültig Madrid unterstellt. Der katalanische Polizeichef Josep Lluís Trapero wurde abgesetzt und steht wegen Rebellion vor Gericht. In der Zwischenzeit laufen auch die Verfahren gegen zahlreiche Kommunalvertreter wegen der vom Verfassungsgericht als illegal erklärten Abstimmung vom 1. Oktober. Insgesamt wurden mehr als 700 Bürgermeister angezeigt. Allein in Reus waren am vergangenen Freitag der Bürgermeister Carles Pellicer, mehrere Stadträte, Unternehmen und Privatpersonen vorgeladen. Doch nicht nur die Vorbereitungen und die Durchführung des Referendums haben gerichtliche Folgen. Mitglieder der spanischen Guardia Civil, die an den gewaltsamen Übergriffen auf die Bevölkerung am 1. Oktober beteiligt waren, klagen nun gegen Lehrer in Seu d’Urgell, weil diese im Schulunterricht mit den Kindern die Ereignisse vom 1. Oktober aufgearbeitet hatten. In Lleida wurde eine junge Mutter festgenommen, weil sie auf Facebook die Polizeigewalt verurteilt und Fotos von Beamten der Guardia Civil gepostet hatte, die am Einsatz vom 1. Oktober beteiligt waren. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass fünf Polizeigewerkschaften auch gegen die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, Klage eingereicht haben, weil diese die Abstimmung in Barcelona nicht verhindert hatte (die Entscheidung des Gerichts zur Annahme dieser Klage steht noch aus).

Gegner der Unabhängigkeit mobilisieren sich

In der Zwischenzeit fühlen sich angesichts des Durchgreifens der Madrider Regierung nun auch die Gegner der Unabhängigkeit ermutigt und haben sich organisiert. Im Oktober fanden von der Bürgerinitiative Societat Civil Catalana organisierte Großdemonstrationen statt, an denen auch die katalanischen Sozialisten (PSC), der Partido Popular und die Partei Ciutadans teilnahmen. Die lokale Polizei bezifferte die Zahl der Teilnehmer auf jeweils rund 350.000. Dennoch fühlt man sich im gegnerischen Lager nicht als Gewinner. Aussagen von Demonstranten zufolge ist man besorgt, dass der 21. Dezember ein zu nahe liegender Wahltermin sei. Man habe nicht genug Zeit, um Gegenstimmen zu mobilisieren und Kampagnen zu führen. Manche Bürger kritisieren sogar, dass Rajoy das Problem zu lange ignoriert habe. Man hätte den Wählern versichert, es würde nie zu einem Referendum kommen und erst recht nicht zu einer Unabhängigkeitserklärung. Bei den letzten Regionalwahlen 2015 erzielten die klaren Gegner der Unabhängigkeit zusammen 39,11 Prozent, die Fraktion Catalunya Sí Que Es Pot (CSQP) positionierte sich mit ihren knapp 9 Prozent nicht zur Unabhängigkeit, drückt sich momentan aber eindeutig gegen die Zwangsmaßnahmen von Madrid aus. Damals erzielten die Befürworter der Unabhängigkeit 48,16 Prozent der Stimmen (Junts pel Sí und CUP) und die absolute Mehrheit im Parlament. Nach aktuellen Wahlumfragen könnten die pro-Unabhängigkeitsparteien auch im Alleingang wieder eine knappe absolute Mehrheit erreichen.

In den letzten Wochen war es auch besonders Xavier Garcia Albiol, Vorsitzender des Partido Popular (PP) in Katalonien, der das Verbot von Wahlprogrammen und auch Parteien verlangte, sollten diese Programme vertreten, die erneut den verfassungsrechtlichen Rahmen in Frage stellen. Außerdem sind die Oppositionsparteien PP und Ciutadans sehr bemüht, den katalanischen öffentlich-rechtlichen Sender TV3 als ideologischen Rädelsführer der Bewegung darzustellen. Tatsächlich ist der Sender nicht frei von einseitiger Berichterstattung, was jedoch ein generell verbreitetes Phänomen in Spanien je nach Positionierung ist, und selbst in seinen besten Zeiten verzeichnet TV3 eine Zuschauerquote von rund 21 Prozent in Katalonien. Im Gegensatz dazu haben die Mitarbeiter des spanischen staatsweiten Senders Televisión Española erst kürzlich die Zensur in Bezug auf den Konflikt in Katalonien öffentlich angeprangert. Tatsache ist, dass bei den letzten Demonstrationen für die spanische Einheit laut Medienberichten mehrere Reporter von TV3 von Rechtsextremen angegriffen worden sind und randalierende Radikale Sachschäden am Studio des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Catalunya Radio verursacht haben. Generell haben die Gegner der Unabhängigkeit das Problem, dass sich rechtsextreme Gruppen wie die Falange Española und Democracia Nacional durch den Diskurs für die spanische Einheit ermutigt fühlen und sich bei den Demonstrationen aktiv beteiligen.

Im Unabhängigkeitslager übernehmen neue Basisorganisationen

Nach einer ersten Schockstarre angesichts der kollektiven Express-Anhörung und Verhaftung von acht ehemaligen katalanischen Ministern hatten zwar tausende Befürworter der Unabhängigkeit an Demonstrationen teilgenommen, um deren Freilassung zu fordern, allerdings übertrafen die Zahlen der Teilnehmer nicht wirklich die Zahl der mobilisierten Gegner der Unabhängigkeit. Man hatte den Eindruck, die Bewegung wäre ermüdet. Doch die massive Einmischung des Staates und das unerbittliche Vorgehen der Justiz mittels bekannter Hardliner wie der Richterin Carmen Lamela am Staatsgericht (Audiencia Nacional), verantwortlich für die Untersuchungshaft der „Jordis“ und der Ex-Minister, scheinen in den letzten Wochen der Bewegung einen gewissen Zulauf aus dem Lager der Unentschiedenen und moderaten Gegner der Unabhängigkeit, u.a. um Ada Colau und Albano Dante Fachin, die sich zwar nicht für die Unabhängigkeit aber gegen eine Entmündigung der Bürger aussprechen, beschert zu haben.

Sicherlich hat auch der Streik vom 8. November, bei dem die Bürger in Eigeninitiative durch die sogenannten Comités de Defensa de la República (CDR) das Land im wahrsten Sinne des Wortes stillgelegt hatten, der Bewegung einen neuen Schub an Selbstvertrauen verschafft. Diese CDRs entstanden in den Wochen vor dem 1. Oktober zunächst unter der Bezeichnung Comités de Defensa del Referendum mit dem Ziel, friedlichen Widerstand zu leisten. Sie gewannen an Bedeutung am Wochenende des 1. Oktobers, als zahlreiche Menschen in Eigeninitiative Wahllokale besetzten und über das Wochenende Aktivitäten organisierten, um deren Schließung zu verhindern. Seitdem haben sich diese dezentralisierten Zusammenschlüsse von Aktivisten, Studenten und Bürgern im ganzen Territorium vervielfacht und beim Streik letzte Woche eine sehr hohe und gut organisierte Mobilisierungskapazität gezeigt.

Was auch immer in den nächsten Wochen in Katalonien geschieht, das Bild ist bunter geworden. Der hohe Mobilisierungsgrad der Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit in Katalonien sagt einen intensiven Wahlkampf voraus. Am Samstag übertraf die von den Bürgerinitiativen organisierte Großdemonstration unter dem Motto „Freiheit für die politischen Gefangenen“ mit 750.000 Teilnehmern (oder 1,5 Millionen Teilnehmern, je nach Quelle) sämtliche Erwartungen. Mariano Rajoy war am Tag nach der Demo auch just in Barcelona und warb für eine hohe Wahlbeteiligung unter den Gegnern, um „die Rückkehr zur demokratischen Normalität“ in Katalonien zu garantieren. Doch scheinen diese Wahlen nicht das Allheilmittel für den Konflikt zu werden. Früher oder später wird es zu einem politischen Dialog kommen müssen, bei dem beide Seiten ihre maximalen Forderungen herunterschrauben und entsprechende Kompromisse finden sollten.

 

Fotostrecke von Krystyna Schreiber