Artikel 155 ist der Begriff, der zurzeit nicht nur in Katalonien die Gemüter erhitzt. Die spanische Regierung hatte tagelang mit dem Eingriff in die katalanische Selbstverwaltung gedroht, falls der katalanische Präsident Carles Puigdemont nicht klarstelle, ob er am 10. Oktober die Unabhängigkeit erklärt hat oder nicht.
Puigdemont antwortete am Donnerstag, wenige Minuten vor Ablauf der letzten Frist, mit einem Anschreiben, in dem er weiterhin Dialog über die Unabhängigkeit anbot und erklärte, dass das Parlament Kataloniens trotz „eines klaren Mandats“ noch nicht über die Unabhängigkeit abgestimmt hatte, dies allerdings tun würde, sollte Artikel 155 der spanischen Verfassung aktiviert werden.
Doch die spanische Regierung erwartete eine klare Kapitulation, was für Puigdemont, nachdem am 1. Oktober mehr als 2 Millionen Bürger trotz Polizeiübergriffen, Drohungen und mehr als 900 Verletzten abgestimmt hatten, politisch und moralisch nicht vertretbar war.
Artikel 155 der spanischen Verfassung dient der Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung durch Eingriff in die Autonomie anderer Teile des Territoriums. Allerdings müssen die entsprechenden Maßnahmen in jedem Fall gerechtfertigt und durch den Senat verabschiedet werden. Samstag hat der spanische Ministerrat nun die Maßnahmen bestätigt, die die „verfassungsrechtliche Normalität“ in Katalonien wiederherstellen und die Unabhängigkeitsbegehren in der autonomen Gemeinschaft bremsen sollen. Mariano Rajoy hatte sich in den letzten Tagen die Unterstützung der spanischen Sozialisten PSOE und Ciutadanos für sein Vorgehen gesichert.
So sieht der Eingriff in die katalanische Selbstverwaltung in groben Zügen aus:
Es ist ein „harter Artikel 155“ vorgesehen, das heißt, eine möglichst komplette Intervention in der Autonomie Kataloniens. Zum einen soll die katalanische Regierung komplett ersetzt werden inklusive aller Ministerien, Delegationen und Kommunikationsbereiche durch Fachleute oder spanische Minister. Carles Puigdemont soll als Präsident abgesetzt werden. Ein Eingriff in die Aktivitäten des Parlaments von Katalonien mittels Kontrolle der Abstimmungen, Vetorecht und der Unterbindung jeglicher Wahl von Amtsträgern ist ebenfalls vorgesehen. Auch die Leitung des Rates der öffentlichen Medien Kataloniens soll ersetzt werden sowie die Verantwortlichen des öffentlichen Radios „Catalunya Radio“, des Fernsehsenders TV3 und der Katalanischen Nachrichtenagentur, um eine „neutrale, objektive und ausgeglichene Information zu garantieren“. Der Bereich der Sicherheit soll ebenfalls unter eine direktere Kontrolle des Staates gebracht werden, darunter fällt auch die katalanische Polizei, Mossos d’Esquadra, die sich im Kampf gegen den Terrorismus einen Namen gemacht hatte.
Die Finanzen der katalanischen Regierung werden bereits teilweise von Madrid kontrolliert, um die Finanzierung des Referendums zu verhindern. Allerdings soll nun die komplette finanzielle Kontrolle Kataloniens durch das spanische Wirtschaftsministerium erfolgen. Auch strategische Zentren wie das Zentrum für Technologie und Telekommunikationen (CTTI) sollen unter die Kontrolle der Zentralregierung fallen. Innerhalb eines halben Jahres sind Neuwahlen vorgesehen, die wahrscheinlich durch Mariano Rajoy ausgerufen werden, der als maximaler Verantwortlicher der katalanischen Autonomie fungieren will. Diese Maßnahmen sollen keine Abschaffung der katalanischen Autonomie bedeuten, sondern „lediglich der Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung, der demokratischen Normalität und der wirtschaftlichen Stabilität“ dienen, wie Rajoy nach der Tagung des Ministerrats in einer Pressekonferenz erklärte.
Sollte der Präsident von Katalonien, Carles Puigdemont, im Gegenzug die Unabhängigkeit erklären, soll er festgenommen und der Rebellion beschuldigt werden. Darauf steht ein Strafmaß von 30 Jahren. Die Generalstaatsanwaltschaft hat diese Anklage bereits vorbereitet und möchte sie in Madrid vorstellen, wie am Samstag bekannt wurde. Diese öffentliche Ankündigung sorgte bereits für große Kritik seitens linker und pro-Unabhängigkeitsgruppen, weil es zeige, dass es keine juristische Unabhängigkeit gebe und ein Vergehen präventiv geahndet werde. Zudem soll die Unabhängigkeit, wenn dann vom Parlament erklärt werden, und nicht vom katalanischen Präsidenten, Carles Puigdemont.
Widersprüchliche Reaktionen zeugen von tiefem Riss
Der Präsident der Regierung von Katalonien, Carles Puigdemont, hat die Entscheidung des Ministerrats als „eine Auflösung unserer Selbstverwaltung“ und einer absoluten Missachtung des „demokratischen Willens der Katalanen“ bezeichnet sowie als die schlimmste Attacke auf Katalonien seit der Franco-Diktatur. Man ignoriere die Ergebnisse der letzten Parlamentswahlen in Katalonien und wolle auf illegitime Weise Katalonien von Madrid aus regieren. Puigdemont bat das Parlament von Katalonien zusammenzutreten, um die nächsten Schritte zu entscheiden und rief zum Zusammenhalt und zur friedlichen Verteidigung der katalanischen Institutionen und Freiheiten der Katalanen auf. Der katalanische Präsident warnte auch alle „Demokraten in Spanien“ sowie die europäischen Mitbürger vor einem „gefährlichen Präzedenzfall“. Ein Eingriff und die Missachtung der Grundrechte in Katalonien könnten Schule machen und bald auch in anderen Teilen Europas akzeptiert werden. Trotzdem erneuerte Puigdemont den bedingungslosen Einsatz Kataloniens für die Demokratie und die europäischen Werte. Die Parlamentspräsidentin, Carme Forcadell, erklärte ihrerseits, dass das Parlament den geplanten Eingriff in seine Souveränität bis zur letzten Konsequenz verhindern werde.
Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung sowie Repräsentanten der linken Gruppen wie Podemos und um die Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau haben die Anwendung des Artikels 155 als einen Angriff auf die demokratischen Grundrechte der Menschen in Katalonien und überall bewertet. Xavier Domenech, Vorsitzender von Catalunya En Comú, erklärte auf Twitter, Rajoy habe definitiv nicht nur den sozialen Pakt, sondern auch den territorialen Pakt (Verfassung 1978) gebrochen und zu einem breiten Bündnis aufgerufen, um die Situation „umzukehren“.
Am selben Samstagnachmittag strömten laut örtlichen Polizeiangaben 450.000 Menschen in Barcelona auf die Straße, um die Freiheit der zwei Vorsitzenden der größten Bürgerinitiativen für die Unabhängigkeit, die Assemblea Nacional Catalana und Omnium Cultural, zu fordern. Zur Demonstration hatte der „Tisch für die Demokratie“ aufgerufen, den mehr als 40 Bürgerinitiativen und gemeinnützige Organisationen bilden, darunter auch die wichtigsten Gewerkschaften (Comissions Obreres, UGT). Auch Carles Puigdemont und sein Kabinett nahmen kurzfristig an der Demonstration teil. Man hörte vor allem Rufe nach Freiheit sowie „die Straßen werden immer unsere sein“ und „Besatzer raus“.
Albert Rivera, Vorsitzender von Ciutadanos, zeigte sich seinerseits zufrieden mit der Entscheidung der spanischen Regierung und des Ministerrats, vor allem mit dem Ausblick auf Neuwahlen, sobald die Freiheit und die Demokratie wiederhergestellt seien und alle Bürger Kataloniens frei wählen könnten, wie Rivera in einer Pressekonferenz erklärte. Laut lokalen Medienberichten ist seine Partei nach neusten Wahlumfragen in den letzten Wochen der Katalonien-Krise um vier Punkte gestiegen.
Auch Xavier Garcia-Albiol, Vorsitzender der spanischen Regierungspartei in Katalonien, wo der Partido Popular elf von 135 Angeordneten im Regionalparlament stellt, meint, es sei positiv zu bewerten, dass die Neuwahlen erst ausgerufen werden, wenn die „institutionelle Normalität“ in Katalonien wiederhergestellt sei. Albiol hatte bereits vorgeschlagen, das Parteiengesetz zu ändern, um sicherzustellen, dass keine Partei zur Wahl antreten dürfe, die den verfassungsrechtlichen Rahmen infrage stelle.
Für die katalanischen Sozialisten könnte die Anwendung des Artikels 155 zur endgültigen Zerreißprobe werden. Vier sozialistische Bürgermeister Kataloniens von für die Sozialisten wichtigen traditionellen Orten haben bereits eine Verurteilung des geplanten Eingriffs in die katalanische Selbstverwaltung von ihrem Vorsitzenden, Miquel Iceta, gefordert. Sie erklärten in einem Manifest, dass der geplante Eingriff in die Autonomie Kataloniens einen nicht wieder gut zu machenden Schaden für das Zusammenleben in Katalonien bedeute. Núria Parlon, Bürgermeisterin von Santa Coloma de Gramanet, hat zudem ihre Mitgliedschaft im Zentralkomitee der PSOE aufgekündigt.
Was sind die nächsten Schritte?
Der Senat, in dem der Partido Popular die Mehrheit hat, soll über das Maßnahmenpaket des Artikels 155 befinden und am 27. Oktober abstimmen. Wie ein Sprecher des Senats noch am Samstagabend bestätigte, ist mit einer mehrheitlichen Annahme der Maßnahmen und damit mit deren Inkrafttreten zu rechnen. Unabhängigkeitsbefürworter planen eine permanente friedliche Mobilisierung und hoffen auf eine schnelle Unabhängigkeitserklärung. Die Frage ist, wie sie die Unabhängigkeit effektiv umsetzen wollen. Der Aufenthalt der zusätzlichen spanischen Sicherheitskräfte, die seit dem Referendum in Katalonien stationiert sind, wurde durch das spanische Innenministerium mindestens bis zum 2. November verlängert.