In einer Sache war Michel Temer ganz fix. Noch am selben Tag, als aus dem Vizepräsident von Brasilien der Präsident wurde, war seine Wikipedia-Seite flott aktualisiert – und auch die seiner Regierungskollegen.
Am 17. Mai 2016 war der Staatsstreich gegen Dilma Rousseff vollzogen, der Senat war den Plänen Temers uns seines Strippenziehers, Senatspräsident Eduardo Cuhna gefolgt, und hatte mehrheitlich für eine Amtsenthebung gestimmt. Es war bereits das zweite Impeachment in der noch jungen demokratischen Ära Brasiliens.
Nun ist ein Jahr vorüber. Wurde alles besser? Ist das Land inzwischen aus der Krise? Eine Zwischenbilanz. Wirtschaftlich ist Brasilien immer noch im Keller. Als Temer die Amtsgeschäfte übernahm, waren rund 11 Millionen Menschen arbeitslos. Im Mai 2017 liegt diese Zahl bei rund 14 Millionen. Glaubt man den Umfragen, die die Beliebtheit von Politikern evaluieren sollen, ist es Temer gelungen, seine ohnehin niedrige Zustimmungsquote zu Beginn seiner Amtszeit noch einmal zu unterbieten. Hätten die Brasilianer die Wahl, würden zurzeit nur etwa 8 Prozent der Wahlberechtigten für Temer stimmen. Der Ruf „Fora Temer!“, Temer raus, ist inzwischen bei allen größeren Veranstaltungen zu hören – bei der Karnevalsparade im Sambodrom, den Umzügen, oder den Demonstrationen, die seit Monaten immer wieder in den großen Städten stattfinden.
Doch das ficht den Amtsinhaber nicht an. Er ist nicht angetreten, das Land gerechter zu machen, oder gemocht zu werden. Das wurde bereits bei der Vorstellung seines Kabinetts deutlich, das bereits wenige Tage nach seiner Machtübernahme stand: eine Riege alter, reicher, weißer Männer – in dieser Zusammensetzung kaum repräsentativ für Brasilien. Keine Frau, kein Farbiger. Ein Konglomerat der weißen Elite, die seit der Kolonialzeit die Fäden in der Hand hält.
Temers Weg zur wirtschaftlichen Genesung sollte sein: Liberalisierung und Privatisierung. Flughäfen standen zur Privatisierung an, ausländischen Investoren sollte der Zugang zum brasilianischen Markt erleichtert werden. Vor allem der noch immer lukrativ erscheinende Rohstoffmarkt, allen voran Öl, erscheint für ausländische Investoren attraktiv. Den Finanzmärkten gefällt so etwas. Der wichtigste Börsenindex Bovespa steigt, die Inflation sank auf den niedrigsten Stand seit mehr als zehn Jahren (5 Prozent). Hinter der niedrigen Inflation vermuten Analysten vor allem eines: eine Konsumzurückhaltung der Bevölkerung. Niemand weiß, wohin das Land steuert. Konsum und Investitionen werden ausgesetzt. Daran änderte auch nichts, dass die Regierung einen Teil der Rentenversicherungen an die Beitragszahler zurückgeben wollte, gewissermaßen als Konjunkturpaket. Viele zogen es jedoch vor, Schulden abzubezahlen statt neuzukaufen.
Ausländische Investoren halten sich nach wie vor zurück. Grund hierfür ist zum einen, dass niemand genau weiß, wohin in Brasilien die Reise geht. Die Wirtschaftskrise des Landes ist seit einigen Monaten nun auch offiziell die längste und schwerste in der Geschichte. Auch die Korruption in der Politik schreckt ab.
Von der Liberalisierung profitiert vor allem die Agrarlobby. Umweltgesetze werden gelockert, die Rechte der indigenen Bevölkerung, eingedämmt. Die Agrarindustrie wird von der Regierung gerne als wichtigstes Zugpferd der brasilianischen Wirtschaft beschrieben. Dass dies vor allem auf Kosten der Umwelt, des Regenwalds und der kleinbäuerlichen Strukturen im Hinterland geschieht, wird nicht groß thematisiert. Als am Karneval die Sambaschule Imperatriz das Thema Indigene und Umweltzerstörung aufgriff, erntete sie scharfe Kritik der Agrarlobby, die sogar forderte, in Zukunft eine Kommission zu gründen, die die Themen der Sambaschulen vorab zu genehmigen habe.
Auch als im März der Fleischskandal „Carne Fraca“ kurzzeitig das Land erschütterte, wurde das Krisenmanagement zur Chefsache erklärt. Während Michel Temer die Botschafter der wichtigsten Fleischimporteure symbolträchtig zum Besuch eines Grillrestaurants zusammentrommelte, mühte sich Landwirtschaftsminister Blairo Maggi, der weltgrößte Produzent von Soja, um Schadensbegrenzung. Der führte chinesische Journalisten durch Fleischfabriken, hielt Pressekonferenzen exklusiv für chinesische Journalisten und verhandelte auf höchster Ebene, damit der größte Abnehmer seine vorübergehend geschlossenen Grenzen doch bitte wieder öffnen möge.
Kleinere Länder, wie Nachbar Chile umgarnte er weniger. Dort drohte er offen und unverholen mit einem Handelskrieg, sollten sie nicht umgehend wieder brasilianisches Fleisch importieren. Auch die Bundespolizei, die im Zuge ihrer Ermittlungen drei Betriebe schloss und mehr als 20 unter verschärfte Beobachtung setzte, bekam von Maggi ihr Fett weg. Ihr warf er vor, den Skandal unangemessen aufgebauscht zu haben. Die Fleischindustrie ist der wichtigste Agroindustriezweig Brasiliens. Geändert an den Strukturen der Branche hat der Skandal freilich nichts. Jeder dritte Parlamentarier in Brasilien gilt als landwirtschaftsnah.
Vor einigen Wochen veröffentlichten die Ermittler des obersten Gerichtshofs (STF) im größten Korruptionsprozess des Landes, der Operation „Lava Jato“ die Aussagen hochrangiger Ex-Mitarbeiter des im Zentrum der Ermittlungen stehenden Baukonzerns Odebrecht. Diese Aussagen der so genannten Fachin-Liste offenbarten, wie flächendeckend die Korruption in der brasilianischen Politik verbreitet ist. Kaum ein hochrangiger Politiker, der nicht irgendwann einmal eine größere Geldsumme eingestrichen hat. Rund 100 Politiker stehen namentlich genannt auf der Liste, darunter acht amtierende Regierungsmitglieder, drei Gouverneure (Ministerpräsidenten der Bundesstaaten) und drei ehemalige Präsidenten Brasiliens. Dazu Dutzende Parlamentsabgeordnete und Senatoren. Auch der Ex-Bürgermeister der Olympiastadt Rio de Janeiro, Eduardo Paes seit Januar nicht mehr im Amt, steht auf der Liste. Codename: Nervozinho, der kleine Nervöse. Auch der Name von Präsident Michel Temer taucht immer wieder im Zuge der Ermittlungen auf.
Ein bizarres Schauspiel lieferte vor wenigen Tagen der frühere Präsident Luis Inázio Lula da Silva, als er vor dem Chefermittler Sergio Moro aussagen musste. Natürlich stritt er alles ab, bzw. schob einige Dinge seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau Dona Marisa unter. Unrechtsbewusstsein? Fehlanzeige. Lula ging sogar in die Offensive, attackierte den Bundesrichter Moro indem er fragte ob er wisse, dass die Korruptionermittlungen Lava Jato in Brasilien 600 Millionen (!) Arbeitsplätze zerstört habe. Nur kurz nach dieser Anhörung kündigte Lula öffentlich an, im kommenden Jahr erneut bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen. Zurzeit liegt er bei den Umfragen sogar vorne.
Als ebenfalls aussichtsreicher Kandidat ist zurzeit der rechtsextreme Jair Bolsonaro im Rennen. Er ist ein Vertreter der brasilianischen so genannten Alt-Right-Bewegung. Vieles von dem, was er von sich gibt, sind klare Verstöße gegen brasilianisches Recht. Allerdings wurde bislang noch nicht gegen ihn ermittelt. Da er Senator ist, ist er zudem vor Strafverfolgung durch Immunität geschützt. Eine seine kontroversesten Aussagen traf er bezüglich der Ureinwohner Brasiliens, die er als Tiere bezeichnete. Bolsonaro ist zudem ein Verfechter der Prügelstrafe – sei es bei der Kindeserziehung oder beim Umgang mit Homosexuellen. Bei der Abstimmung über die Amtsenthebung Dilma Rousseffs widmete er seine Stimme Coronel Brilhante Ustra, der Dilma während der Militärdiktatur gefoltert hatte.
Und kurzzeitig sah es sogar danach aus, als könnte es passieren, dass die Amtszeit von Temer bis 2020 verlängert werden könnte. Hierzu geisterte eine Nachricht durch das Netz, wonach Temers Partei einen Antrag stellen wolle, die Präsidentenwahlen künftig mit den Parlamentswahlen stattfinden zu lassen. Die nächste Parlamentswahl ist erst 2020 fällig. Für Amtsinhaber Temer wäre es übrigens die einzige Möglichkeit im Amt zu bleiben. Denn zur Wahl stellen kann er sich nicht. Wegen Unregelmäßigkeiten bei einer Wahlkampffinanzierung wurde ihm das passive Wahlrecht für acht Jahre aberkannt.