Journalismus kann nur frei sein, wenn er keiner Einflussnahme durch Wirtschaft und Politik unterliegt und ausschließlich durch die Leserschaft finanziert wird. Das Start-up umatter geht noch einen Schritt weiter: Der Chefredakteur hat ausgedient, die Leser entscheiden über Schlagzeile und Relevanz.
Allein die Leser sollen bei umatter entscheiden, was wichtig ist und Schlagzeile macht. Ich sprach in Hamburg mit umatter-Gründer Cedric Stein über seine Vorstellungen von Journalismus, den Kampf um die Meinungshoheit in den Medien und wie der Tod in Rio de Janeiro sein Weltbild verändert.
„Leserfinanziert, recherchestark und interaktiv.“ So beschreibt Cedric Stein seine Start-up-Unternehmung umatter. Stein verfolgt die Idee, den Journalismus wieder unabhängiger von Werbeeinnahmen und politischen Einflüssen zu machen und gleichzeitig die Leserschaft viel stärker in die inhaltliche Ausrichtung einzubinden, als es in den meisten Medien geschieht. Selbst ein Chefredakteur wird nicht mehr gebraucht. „Bei umatter wird die Leserschaft entscheiden, was wirklich wichtig ist und Schlagzeile macht.“
Stein ist „etwas nervös“, sagt er, weil er nicht so oft Interviews gibt und auch, „weil gerade die Finanzierungsfrage für die Startphase von umatter geklärt wird“. Verhandelt wird aber nicht einer Bank oder einem Investor. „Altruistische Investoren sind selten. Wer heute investiert, der will Rendite sehen und meistens auch inhaltlich mitreden. Dann wäre der Grundgedanke eines wirklich unabhängigen Journalismus, der sich am Leser orientiert sofort hinfällig.“
Deshalb wird die Crowd mit dem Geldbeutel darüber abstimmen, ob ihr freier Journalismus etwas wert ist oder nicht. „Unsere Finanzierungskampagne ist gerade auf der Crowdfunding-Plattform Startnext angelaufen.“
„Wir brauchen Luft …“
Um die ersten Monate zu finanzieren, sollen 165.000 Euro gesammelt werden. Bei dem benötigten Personalaufwand sind das Peanuts. „Wir haben ein fünfköpfiges Team für Programmierung und Organisation und dazu bisher zehn Journalisten, Tendenz steigend, die für uns schreiben“, sagt Stein, der die ersten Schritte von umatter aus eigener Tasche bezahlt hat. „Ich hatte sechs Jahre lang eine Filmproduktion. Meine Anteile habe ich verkauft, um ein neues Mediensystem aufzubauen, weil ich mit dem heutigen Medienangebot unzufrieden bin und meine, dass man es besser machen kann.“
Start a Revolution? „Nein“, sagt er. „Ich habe die Weisheit ja nicht mit Löffeln gegessen. Ich will weder den Journalismus noch die politische Berichterstattung neu erfinden, sondern eine Plattform schaffen, auf der die User sagen, was wichtig ist oder eben nicht.“ Ob das klappt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn das Crowdfunding erfolgreich ist.
„Wir brauchen jetzt Luft für mindestens ein halbes Jahr“, erklärt Stein, „dann wissen wir, ob die Zahl der Abonnenten ausreichen wird, um die finanzielle Basis und die Qualität dauerhaft zu sichern“.
Der Journalismus hat also seinen Preis. „Auch kostenloser Journalismus ist nie umsonst. Du zahlst mit deinen Daten, mit dem Konsum von Werbung oder dadurch, dass dir eine bestimmte Meinung erzählt wird und manchmal alles zusammen.“ Davon kann und will man sich befreien. „Wenn die journalistische Leistung direkt von den Lesern finanziert wird, können sie eine hohe inhaltliche Qualität, Recherchezeit und eine kritische Auseinandersetzung mit den Themen erwarten“, meint Stein. Das wäre in einem werbefinanzierten Umfeld nicht gegeben.
Gegen den Overflow an seichter Unterhaltung
Kaum eine Publikation kommt ohne Werbeeinnahmen aus. Entsprechend gewichtet seien die Inhalte und die Art der Präsentation. Veröffentlich wird, was kurzfristig die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zieht und die Werbung in den Fokus rückt. „Du klickst auf einen Beitrag und liest eine Werbeanzeige, oft, ohne das du es merkst“, sagt Stein.
Die Verlage seien wirtschaftlich getrieben und Geschwindigkeit gehe deshalb vor Analyse und Genauigkeit. „Ich nenne das High-Speed-Journalismus. Wer zuerst über eine Katastrophe berichtet und beispielsweise 10.000 tote Menschen meldet, der bleibt im Kopf und derjenige, der exakt analysiert und ein paar Tage später genau beschreibt, was passiert ist, wird nicht mehr gehört.“
Entertainment und seichteste Unterhaltung würden tiefgründige Beiträge und kritische Analysen überflügeln. Der Journalismus würde dadurch immer stärker zu einer Verkaufshilfe für Produkte und Dienstleistungen abgewertet. Dass sich die Werbung oft nicht mehr genug von redaktionellen Inhalten unterscheidet – sogenanntes Native Advertising, Advertorials oder Branded Content -, sei ein weiteres, aber nicht das entscheidende Problem.
„Entertainment braucht seinen Platz, aber dieser Overflow an Unterhaltung lenkt zu sehr ab“, kritisiert Stein. Wer sich mit wichtigen Themen aus Politik und Gesellschaft auseinandersetzen will, der braucht „Zeit und gründlich recherchierte Hintergrundinformationen mit Quellen, die er prüfen kann“. Diese Angaben würden in vielen Medien oft fehlen oder zu intransparent dargestellt, sagt Stein.
Dazu käme der Kampf um die Meinungshoheit. „Die meisten Medien haben eine feste politische Ausrichtung.“ Das würde einer inhaltlichen und kritischen Auseinandersetzung im Weg stehen, die alle Seiten gleichermaßen beleuchten soll. Das könne manchmal zu einseitiger Berichterstattung führen. „Gerade Leitmedien, die eine große Verantwortung über die politische Bildung der Menschen haben, müssen sehr genau hinschauen, einseitige Berichterstattung zu vermeiden.“ Dabei macht Stein den Journalisten keinen Vorwurf vorsätzlich zu handeln, sondern bemängelt die zugrundeliegenden Strukturen.
Kein Cat Content, keine schnellen Klicks
Bei umatter soll das anders sein. Keine versteckten Algorithmen, die die Beiträge vorfiltern, keine Beeinflussung durch Werbepartner und auch keine inhaltliche Bevormundung durch eine Chefredaktion. „Wir wollen keinen neuen Filterdienst bauen.“
Übersicht und Orientierung im Meer der Nachrichten versprechen schon andere Anbieter wie zum Beispiel piqd, Blendle oder updatemi. Wo ist der Unterschied? „piqd geht einen ähnlichen Weg. Aber bei umatter lassen wir den Inhalt nicht durch eine kleine Gruppe von Kuratoren aussuchen, die den Lesern mitteilen, warum etwas wichtig ist, sondern die Auswahl und Wichtigkeit wird durch das unmittelbare Feedback der Leser selbst bestimmt.“
Ein weiteres wichtiges Kriterium sei, dass alle Inhalte ohne Einfluss von Dritten entstehen. „Also nur von umatter-Autoren erstellt sind, die keinerlei Verpflichtung gegenüber Dritten haben. Ein maßgeblicher Unterschied zu Inhalten von Kurationsplattformen.“
Wichtig klicken hört sich nach Facebook-Likes und Twitter-Herzchen an. „Ne, so läuft das nicht“, sagt Stein. Ein transparentes Bewertungssystem soll es richten, das eine Besonderheit aufweist, die es sonst nicht gibt. „Bevor du als Nutzer überhaupt die Option hast, einen Beitrag zu bewerten, musst du den ganzen Artikel gelesen haben.“ Damit wird dem schnellen und vor allem bequemen Klick auf einen Like-Button ein Riegel vorgeschoben. „Erst wenn du dich mit dem Beitrag auseinandergesetzt hast und ihn wirklich kennst, sollst du eine bewusste Entscheidung für die Bewertung von Inhalt und Qualität treffen.“
Auf der Plattform soll grundsätzlich jeder Journalist veröffentlichen können. „Dennoch haben wir eine Charta verfasst, die unsere Werte und Standards beschreiben. Will ein neuer Autor aufgenommen werden, entscheiden unsere Autoren gemeinschaftlich auf Grund seiner vorhergehenden Arbeiten, ob dieser mit den Werten unserer Charta kompatibel und die handwerkliche Qualität stimmig ist“ erklärt Stein. PR- und Werbetexte und Cat Content, will man der Leserschaft sowieso vom Hals halten. „Das ist ein No-Go.“
Außerdem soll verhindert werden, dass umatter zu einer Verteilungsdrehscheibe für Organisationen und Medien wird, die den Lesern mit ihren Artikel förmlich hinterherlaufen. „Dadurch entsteht ein Platz, auf dem der einzelne Leser seinen Autor und dessen Arbeit unterstützen kann“, sagt Stein, dem es noch um etwas anderes geht.
„Ich sehe große Probleme im Umgang mit Informationen und bei der Vermittlung von Wissen. Beides muss nach meiner Meinung Hand in Hand gehen. Deshalb soll ein Austauschen zwischen den Autoren und den Lesern entstehen.“ Der Autor erhält Feedback zu seinen Artikeln und der Leser wird klüger? „So kann man sich das ungefähr vorstellen.“
Schüsse in Rio de Janeiro
Wir wollten nicht nur über ein Start-up und Entwicklungen in der Medienlandschaft sprechen, sondern auch über den Tod in Rio de Janeiro. Denn der spielt eine wichtige Rolle, bei der Frage, warum neue Formen der Medien notwendig sind.
„Ich habe Kommunikationsdesign studiert und war 2010 für ein Auslandssemester in Brasilien“, erinnert sich Stein. „Das hat mein Weltbild verändert.“ Er spricht von der Armut, die nicht verdeckt werden kann, von kleinen Kindern, die um Mitternacht noch alle auf den Straßen spielen und dem Krieg zwischen den Bewohnern der Favelas und der Staatsgewalt.
„Irgendwo konntest du des Öfteren Schüsse hören“, sagt er und erinnert sich an einen besonders blutigen Tag, an dem ein Hubschrauber mit einer Rakete abgeschossen und viele Menschen getötet wurden. „Mich hat erschrocken, wie selbstverständlich es zur Kenntnis genommen wurde. Die Menschen waren zwar angespannt, aber eben auch an die Gewalt gewöhnt.“ Abgestumpft? „Ja. Irgendwie ist das verständlich. Wenn du ständig Angst hast, leidet die Lebensqualität.“ Und warum sind die Verhältnisse, wie sie sind? „Das wusste ich damals nicht wirklich. Es kam in den Medien auch kaum vor, außer als Meldung, wenn wieder einer erschossen wurde.“
Kann man das mit Deutschland vergleichen? „Nein, überhaupt nicht. Eine Stadt wie Hamburg ist im Vergleich zu Rio de Janeiro total safe.“ Und die Armut? „Die nimmt auch hier zu, ist aber nicht so öffentlich sichtbar. Armut im Alter zum Beispiel. Generell nehmen arme Menschen einfach weniger Teil an der Gesellschaft, sie sind unsichtbar geworden, ausgegrenzt. Das kann nicht richtig sein.“
Hat er das immer so kritisch gesehen. „Nicht wirklich. Aber während der Zeit in Brasilien habe ich angefangen, mir viele Fragen zu stellen, weil ich dazu Zeit hatte. Ein rares Gut, das heute viel zu wenig vorhanden ist. Sich Gedanken zu machen und sich selbst zu finden. Zu hinterfragen. Warum ist etwas so wie es ist? Wem nützt was? Welche Gestaltungsmöglichkeiten hat die Politik wirklich? Welchen Einfluss übt die Wirtschaft aus? Wie funktioniert das Finanzsystem? Wie funktioniert unsere Demokratie?“ Und weil die Medien keine ausreichenden Antworten geliefert haben … „war das meine Motivation, umatter zu starten.“
Dort sollen alle Fragen gestellt werden dürfen und vielfältige Antworten kommen können. „Wir werden alle Anfragen, die über die Sozialen Netzwerke, unseren Live-Chat oder als E-Mail eintrudeln beantworten und umatter bei verschiedenen Veranstaltungen vorstellen“, sagt Stein. „Damit die Menschen uns kennenlernen“. Dazu gehört auch die Teilnahme an einem Start-up-Slam. „Da gibt es dann umatter in sechs Minuten …“ (lacht).