Neun Monate sind vergangen seit dem Anfang von Nuit Debout. Im April 2016 war die Place de la République in Paris voll von Menschen, es wimmelte täglich von Tausenden, unter ihnen normale Bürger, Aktivisten, Neugierige, aber auch zahlreiche Journalisten, Wissenschaftler, Dokumentarfilmer, die spontan versucht haben, das, was Nuit Debout ist, einzufangen und zu verstehen. Wir haben uns oft gefragt, was aus den Hunderten Stunden von Bildern und Interviews geworden ist.
Durch zufällige Bekanntschaften – und dank der Kontaktforen, die seither durchaus weiter bestehen – habe ich zunächst mit Aude, dann mit Sylvain Kontakt aufgenommen. Die beiden waren vier Monate lang ständig vor Ort, ab dem 31. März 2016, wo sie versucht haben ein Zeugnis abzulegen von dem, was sie noch heute als „einen historischen Augenblick“ bezeichnen, „an dem die Allgemeinheit vorbeiging, ohne ihn wirklich verstehen zu können“.
In der Hoffnung dieses Manko zu füllen, haben sie Hunderte Stunden Filmaufnahmen gemacht, die am Dienstag, den 17. Januar 2017 um 20.45 Uhr auf dem TV-Kanal France 5 ausgestrahlt wurden. Bei unserem Treffen wollte ich ihre Arbeitsweise besser verstehen und mit ihnen rückblickend die tagtäglichen Fragen und Probleme dieser sozialen Bewegung ansprechen, auf die sie in all den Wochen ihres Bestehens gestoßen sind.
Dieses Gespräch, von dem wir dachten, dass es kurz werden würde, ist schließlich ein ernsthafter Austausch geworden, ja eine tief gehende Analyse von mehreren Stunden, ganz nach dem Vorbild von Nuit Debout. Nach reiflicher Überlegung – und weil ich mich übrigens lange mit ihnen über die Gefahren der Vereinfachung ausgetauscht habe, deren Opfer Nuit Debout selbst wurde – habe ich beschlossen, das Gespräch hier nahezu in seiner ganzen Länge wiederzugeben, weil ich der Ansicht war, dass jeder Satz, jede Idee und Überlegung eine wichtige und sogar notwendige Erklärung beisteuert.
(Marjorie Marramaque, Redakteurin der Zeitschrift Gazette Debout)
Marjorie: Aude und Sylvain, ihr habt beide diesen Dokumentarfilm zu Nuit Debout gedreht und ihr seid dafür vier Monate lang in die soziale Bewegung eingetaucht. Wie und warum habt ihr zusammengearbeitet? Und warum an diesem Projekt?
Sylvain (S.): Wir hatten beide schon in der Produktionsfirma Premières Lignes gearbeitet. Aude und ich, wir waren Journalisten (…) Wir wollten einen Dokumentarfilm machen über das politische Erwachen der Bürger. (…) Wir haben zum Beispiel die Ereignisse im Dorf Saillans verfolgt (Anm.: Ein Dorf in der Drôme, das einen basisdemokratischen Gemeinderat gewählt hat.). Im Ausland haben wir die US-amerikanische Occupy Bewegung, die griechische Syriza, die Bewegung der Empörten (Movimiento de los Indignados) in Spanien, etc. gesehen. Da haben wir uns gefragt: „Wird das auch bei uns passieren?“ Es war Oktober oder November 2015 – also sechs Monate vor Nuit Debout – da haben wir gespürt, dass etwas im Entstehen war. Als Nuit Debout dann begann, hatten wir schon mit dem Schreiben eines Filmskripts begonnen. Da war uns klar, dass wir das Thema aufgreifen würden.
Aude (A.): […] Als wir uns kennengelernt haben, machte Sylvain gerade eine Recherche zu den Kurden und ich eine über Tierversuche. Das hat nichts mit dem Bürgererwachen zu tun, aber wir wollten einen Film darüber machen. Der erste Schritt hin zu Nuit Debout war wirklich ein Zufall. Ich saß zu Hause am Schreibtisch und recherchierte – das muss am 30. März gewesen sein – als ein Bekannter mich anrief und sagte: „Ich bin bei einem Ding, das wird morgen starten. Das wird Nuit Debout heißen. Ich weiß noch nicht, was daraus wird, aber wenn Du Lust hast, komm doch vorbei.“ Ich war dann dort und am nächsten Tag, den 31. März hatte ich mit den Sprechern von Nuit Debout in der Nähe von République zu tun. Ich habe nicht ganz verstanden, worum es ging, (…), aber niemand hatte auch nur eine Minute Zeit, um mir das zu erklären.
Ihr seid über den Hintereingang zu Nuit Debout gekommen und nicht über die Place de la République?
S.: Als wir uns entschlossen hatten etwas über das Bürgererwachen zu schreiben, dass die Bürger beschlossen haben, die politische Szene wieder zu betreten, da merkte man schon im Internet und den sozialen Netzen, dass etwas passieren würde, man spürte, dass etwas hochkochte. Da gab es unter anderem eine Petition von Caroline de Haas. Es gab eine Art Aufruf sich auf der Place de la République zu sammeln und wir sind hingegangen. Als wir dort waren, haben wir uns gefragt: „Was ist denn das?“ (…) Wir waren neugierig.
Ihr wart also nicht bei der Demo vom 31.?
A.: Nein, es hat in Strömen geregnet. Aber ich habe es später bedauert.
S.: Nein. Aber Camille – die viel mit uns zusammen am Film gearbeitet hat – war dort und hat Aufnahmen von der Demo gemacht. Sie hat wirklich daran geglaubt. Sie hat sogar in ihrem Auto geschlafen! Wir haben auch sofort daran geglaubt. Ab dem zweiten Tag war uns klar, dass es sich lohnt, eine Kamera darauf anzusetzen und unsere Arbeit zu machen, Zeugnis ablegen. Camille hat weiterhin mit uns gearbeitet und uns viel geholfen.
Seid ihr eher Journalisten? Oder Dokumentarfilmer? Ist diese Unterscheidung wichtig?
A.: Ich betrachte mich eher als Journalistin, weil mein ursprünglicher Beruf eher der Investigationsjournalismus mit Recherchen ist. Aber es stimmt, dass dieser Film mehr ein Eintauchen als eine Untersuchung ist.
S.: Ich denke, dass Aude und ich, wir haben denselben Werdegang … Wir haben viel für Sendungen wie Envoyé Spécial gearbeitet. Wir haben eine Pressekarte, aber bei diesem Projekt haben wir eher die Arbeit von Dokumentarfilmern gemacht. (…) Wir wollten nicht unbedingt irgendetwas Bestimmtes zeigen, sondern eher die Dinge so zeigen, wie wir sie von innen heraus erlebt haben.
Die Schwierigkeit des Projekts bestand sicher darin, dass man am Anfang seine Richtung nicht erkennen konnte. Ihr habt quasi im Blindflug gearbeitet.
S.: Ja, absolut. Wir mussten uns auf die Reise mitnehmen lassen.
A.: Das war die Hölle! (lacht). (…) Wen sollten wir filmen? Wo? (…) Was ist da los? Ist das die Revolution? (…) Wir wussten es nicht. Die „Darsteller“ waren jeden Tag andere. Da war das bekannte Brodeln. (…) Als Journalisten sind wir mehr daran gewöhnt etwas zu zeigen, das einen Rahmen hat, im Vorfeld vorbereitet und überlegt ist. (…) Hier lief das eher so: „Los, geh hin, jetzt, sofort.“ Das war schwierig, aber sehr bereichernd. Die erste Bewegung, die einen Platz besetzt in Frankreich, das ist doch was! Aber wie soll man das erzählen? Aus welcher Perspektive? Wir mussten alles neu erlernen.
S.: Was bei dieser Arbeit so interessant war, ist, dass wir von dem Thema getragen und geführt wurden. Wir haben angefangen in der Hoffnung, dass daraus etwas wird, aber wir waren keineswegs sicher, dass das möglich werden würde. Wir haben einfach gedreht und gedreht, immer weiter. Wir haben uns parallel fortbewegt, die soziale Bewegung und wir. Als wir genug Material zusammenhatten, dachten wir, dass es jetzt an der Zeit wäre, die Bilder zu zeigen und den Sendern einen Film anzubieten. (…) Erst danach haben wir uns an die Arbeit mit dem Filmskript gemacht. Wir waren der Meinung, dass diese soziale Bewegung ein historischer Moment von Bedeutung war – man musste einfach Zeugnis davon ablegen.
Ihr habt einige Personen von April bis Juni begleitet. Wie habt ihr diese Auswahl getroffen? Ganz natürlich? Hatten diese Leute etwas Besonderes?
S.: Anfangs haben wir jede Menge Leute gefilmt. (…) Wir haben nichts Bestimmtes gesucht, wir hatten keine vorgefasste Meinung. Wir haben ganz unterschiedliche Personen gefilmt: die routinierten Aktivisten und andere, die zuvor noch nie aktiv waren, Mütter und Väter, die versucht haben, Arbeit, Familie und Nuit Debout unter einen Hut zu kriegen. Wir dachten, dass wir uns mitreißen lassen von der Bewegung, und wenn dann bestimmte Persönlichkeiten, die regelmäßig vor Ort waren, sich herauskristallisieren, dann würden wir ihnen auf den Fersen bleiben.
A.: Wir haben zum Beispiel Gérard kennengelernt, einen versierten Aktivisten, über den Facebook-Kontakt mit einer Kommission von Nuit Debout. Wir haben uns getroffen und ihn zunächst ein bisschen begleitet, aber Sylvain hatte so ein Gefühl und wollte ihm unbedingt weiter folgen.
S.: Wenn man schon jahrelang Leute porträtiert, dann merkt man, dass es sehr selten vorkommt, dass jemand immer Sinnvolles sagt und etwas Substanzielles beiträgt. Wir haben seine Spur aufgenommen und das hat uns zu dem Filmausschnitt geführt, wo der Lieferwagen von den CRS (Anm.: Compagnie républicaine de sécurité = mobile Bereitschaftspolizei) blockiert wird, was 5 Minuten im Film ausmacht, und das ist viel. Wir waren zur rechten Zeit am rechten Ort. Rémi hingegen, bei ihm war es eher das Erwachen eines politischen Bewusstseins. Er war nie in seinem Leben auf einer Demo gewesen. Das ist ein Typus, der in früheren sozialen Bewegungen nicht vorkam. Rémi ist auf die Straße gegangen wegen Nuit Debout, weil da viele Anliegen vertreten waren, ohne Parteiabzeichen, und auch, weil es um mehr ging als nur das Gesetz El-Khomri.
Und wenn ihr den Film nicht gemacht hättet, wäret ihr als Individuen auf die Place de la République gekommen?
S.: Ganz bestimmt. (…)
A.: Ja, ich weiß, dass ich gekommen wäre, weil ich im Grunde auch wollte, dass sich etwas bewegt, ich wollte, dass etwas passiert. Da war ich übrigens oft hin und her gerissen. Ich hatte manchmal Lust in die Debatten einzugreifen, zum Beispiel. Außerdem hatten wir durch unsere Rolle als Journalisten mehr Abstand, das gab uns einen Überblick, und dadurch war es vielleicht leichter, gewisse Missstände zu sehen oder die notwendigen Veränderungen. (…)
S.: Wir spürten, dass da etwas noch nie Dagewesenes passierte. Diese ganze diffuse Wut, die sich zuvor auf die Tagespolitik richtete, auf unser politisches System, auf unser Gesellschaftsmodell, all das konzentrierte sich in dieser Bewegung, und zwar kollektiv. Aude und ich, wir haben oft gedacht, dass wir als Beobachter dabei sind, aber dass wir nicht richtig teilnehmen können. (…)
A.: Ich habe davon geträumt, tatsächlich. Ich habe davon geträumt, dass ich in den Versammlungen das Wort ergreife, und dass ich alles auspacke, alle Einzelheiten, wie ich die Gesellschaft sehe. (…)
S.: Meiner Meinung nach kommen da quasi philosophische Fragen auf, wie wir leben wollen und das geht uns notwendigerweise alle an. Wir haben Tage damit verbracht, zusammenzusitzen, Leuten zugehört, die von ihrem Leben erzählt haben, wie es ihnen geht, was sie frustriert, warum sie sich unverstanden fühlten. Du bist dabei, bei ihnen, und du hast auch jede Menge Dinge zu erzählen, (…) aber du musst im Hintergrund bleiben. (…) Das war schwierig, aber wir wollten unbedingt diesen Abstand behalten, aus Gründen der Berufsethik, auch wenn uns das Herz schwer wurde. (…)
Willst du damit sagen, dass Nuit Debout am Anfang eine Art Selbsttherapie in der Gruppe war?
S.: Die befreiende Wirkung des gesprochenen Worts war besonders stark in den ersten Tagen. Das konnte man mit Händen greifen. Die verschiedenen Elemente und Personen taten sich plötzlich zusammen ohne sich zu kennen und sagten: „Wir werden zusammen etwas aufbauen.“ Jeder, der da vorbei kam, sei er Journalist oder nicht, unabhängig vom politischen Lager, sagte: „Hier passiert etwas und ich will dabei sein.“ Im Laufe der Tage und Wochen haben wir uns oft gefragt, in welche Richtung die Bewegung gehen würde; wie die Medien davon berichten würden. (…)
Und wie war schließlich die Berichterstattung in den Medien?
A : Ich glaube, dass niemand auch nur das Geringste verstanden hat.
Aber war es denn möglich etwas zu verstehen, ohne es selbst zu erleben?
A.: Ich denke, dass man nach den ersten zwei Wochen auch keine große Lust auf diese Bewegung hatte. Als es dann heißer wurde, sind die Medien zurückgekommen, um über die gewalttätigen Ausschreitungen zu berichten. Danach sind sie wieder abgezogen.
S.: […] Es war auch schwierig für sie, denn die großen Sender (BFM, iTélé, les JT, etc.) haben weniger die Möglichkeit Abstand zu einem Ereignis zu bekommen: da wird dir gesagt, dass da etwas passiert, also ist man vor Ort, man hat eine oder maximal zwei Stunden, um das Thema zu bearbeiten. (…) Wenn es am Abend eine Räumung gibt, dann wirst du sagen: „Ich berichte über diese Räumung“, und du machst 1 Minute 30 oder 2 Minuten darüber. (…) Wenn es aber zum Beispiel um die Befreiung der Rede geht, dann ist das sehr schwer einzufangen in 1’30, vor allem, wenn du nur eine oder zwei Stunden hast, um das zu verstehen und rüberzubringen. Ich denke auch, dass die Journalisten mit vorgefertigten Fragen auf den Platz gekommen sind. Wir haben das in den ersten Tagen wohl auch gemacht. (…)
Lag es nicht auch daran, dass das Interesse in den Redaktionen nicht besonders groß war, und dass man mehr und mehr an „sensationellen“ Ergebnissen interessiert ist?
A.: Ehrlich gesagt, man muss auch sagen, dass die Journalisten auf dem Platz nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurden.
S.: Das stimmt, am Anfang war es sogar für uns schwierig. Aber als sie gesehen haben, dass wir jeden Tag wieder kommen, wurde es immer leichter, selbst wenn wir ständig aufs Neue erklären mussten, wer wir sind und warum wir da sind. Um auf die großen Sender zurückzukommen, die erste Berichterstattung war nicht unbedingt negativ. Die Medien sind gekommen, sie haben gesehen, dass der Platz besetzt war und, das sage ich jetzt aus dem Gedächtnis, die Berichterstattung war eher positiv. Danach ist die Maschine der großen Sender angesprungen. So kam es mir jedenfalls vor. Da haben sie nicht mehr verstanden, warum die Leute immer noch jeden Tag zusammenkamen, (…) welche Gründe sie wirklich hatten, dann kamen ständig Berichte, wie in einer Schleife: Zusammenstöße, Räumung, Randalierer. Die Journalisten haben den Hintergrund nicht verstanden, ihnen fehlte der Zugang.
Glaubt ihr nicht, dass es auch darum ging, die Bewegung in Misskredit zu bringen?
A.: So funktioniert das nicht. Die Dinge sind nie so einfach, wie sie aussehen. Die Chefredakteure bekommen keinen Anruf von oben „Macht dies, macht das“. Das ist eine falsche Vorstellung. (…) Ich glaube, dass es viel eher eine schlechte Angewohnheit ist, eine Art Faulheit. „Nuit Debout, was gibt’s Neues?“: Solange es da nichts Konkretes gibt, es passiert etwas Neues auf der Place de la République, dann geht man halt nicht hin, weil man ein großes Ding braucht, um auf Sendung zu gehen. (…) Ich glaube nicht, dass es eine Zensur oder vorsätzliches Handeln gab. (…) Sie müssen einfach 24 Stunden am Tag vollmachen. Und ich bin die Erste, die das beklagt. (…) Manche Journalisten sind auch frustriert über diesen Mechanismus, auch wenn sie jeden Tag selbst so funktionieren. Das war übrigens eine Triebfeder für unseren Film: Raus aus dieser Zwangsjacke, die Bewegung von innen erleben, erzählen ohne Vereinfachung.
S.: Ich glaube, dass die Journalisten auch ein System repräsentieren, wogegen die Bewegung kämpft. Sie haben genau so das politische System infrage gestellt und das Gesellschaftsmodell, ich denke, dass das Mediensystem genauso kritisiert werden sollte. Wir gehören auch zum System. Aude und ich, wir sind sehr kritisch gegenüber unserem Beruf und ich denke, dass man gleichzeitig kritisch sein kann und dennoch den Beruf ausüben kann. Im Film sagt Rémi, der zum Führungspersonal eines multinationalen Unternehmens gehört, und der sehr aktiv war bei Nuit Debout, er sagt sehr richtig, dass das nicht unvereinbar ist. Man kann beides, kritisch sein gegenüber dem eigenen Beruf und ihn dennoch ausüben.
Man sollte unbedingt sagen, dass, im Gegensatz zu der Vereinfachung, die man oft hört, Nuit Debout sehr breit angelegt war, was die Themen angeht, es ging nicht einfach um den Widerstand gegen ein Arbeitsgesetz, oder?
S.: Selbstverständlich. Ihr zum Beispiel als spontane autonome Medien wie TV Debout, Gazette Debout, das war unglaublich! Wir sahen zu, wie dieses kleine Dorf jeden Morgen aufgebaut und jeden Abend abgebaut wurde; Leute, die sich nicht kannten, haben sich zusammengetan, um Alternativen möglich zu machen. Jeder hat versucht, den anderen zu helfen. TV Debout brachte die Kabel mit und fragte: „Hast du keinen PC? – Doch!“ und jemand brachte einen Computer mit. Leute zwischen 17 und 70 Jahren haben spontan zusammengearbeitet, jeder hat vom anderen gelernt ohne Vorurteile. Wo kann man so etwas im Alltag finden? Das war schön. Die Krankenstation, die entstanden ist: „Hat jemand Medikamente? Nein? Also besorgen wir welche.“ Die Geschäftsleute rund um den Platz spendeten Baguette für die Kantine, normale Bürger brachten jeden Tag Essen vorbei und sagten: „Das ist gut, was ihr da macht.“ Um auf deine Frage zu antworten, das war wirklich der Ausgangspunkt. Genau deswegen haben wir den Film gemacht. Was da passiert ist, war keine Sache von Aktivisten. Es war ein Zusammenschluss von einfachen Bürgern, eine Begegnung.
A.: Genau das hat uns angesprochen. Ich muss zugeben, dass Demos nicht so mein Ding sind. (…) Aber als ich das gesehen habe, was Nuit Debout ausmacht, darin habe ich mich sofort wieder erkannt, wie viele Leute, die spontan auf den Aufruf zum Zusammenschluss der verschiedenen Kämpfe reagiert haben, der ging an einen großen Kreis, über die Aktivisten hinaus. Ich glaube, dass so etwas zum ersten Mal passiert ist.
S.: Wir haben auch in der Provinz gedreht, in Toulouse, in Besançon, um zu sehen wie das anderswo funktioniert. Und die Leute sagten überall: „Es ist möglich etwas gemeinsam zu machen.“ Es gab zum Beispiel Gemeinschaftsgärten auf Parzellen, die von der Stadt bereitgestellt wurden. Nuit Debout hat den Beweis erbracht, dass viele Dinge, die man gestern noch für unmöglich hielt, schließlich doch umsetzbar sind. Und genau das bleibt, denke ich, in den Köpfen und Herzen der Teilnehmer: „Wir haben längst nicht das Gesellschaftsmodell umgekrempelt, ja sicher, aber wir haben gemeinsam gezeigt, dass es möglich ist.“
A.: In der Tat, das war ein riesiges Experimentierfeld unter freiem Himmel. Es wurden so viele Sachen ausprobiert.
Wahrscheinlich ist es deswegen schwierig zu sagen, ob es ein Erfolg war oder daneben ging, weil der Prozess noch andauert, auch wenn seine Form sich verändert hat.
S.: Ja, und auch, weil die Erwartungen eines jeden natürlich verschieden waren. Es gab nicht ein einziges Ziel, sondern eher der gemeinsame Wunsch und Wille die Funktionsweise des Systems zu erschüttern. Nuit Debout lässt sich nicht auf einen einzigen Schauplatz reduzieren, es gab da wirklich einen gemeinsamen Willen etwas gemeinsam aufzubauen, man wollte zeigen, dass ein anderer Weg möglich ist, ohne Hierarchien, ein anderer Weg als der, wo die Führer uns sagen „Macht das“ und wo man sich systematisch ihren Vorstellungen und ihrem Willen unterordnet. (…) Es ist übrigens ziemlich lustig, dass später, mitten im Präsidentschaftswahlkampf die Kandidaten, alle ohne Ausnahme, ein bisschen von Nuit Debout in ihr Programm aufgenommen haben. Sogar Emmanuel Macron1 (…) hat ein parteiübergreifendes Programm und Elemente der partizipativen Demokratie aufgenommen. Wir haben darüber gelacht und sind zum Schluss gekommen, dass sogar sie, trotz der Kritik, die sie geäußert haben, sahen, dass da etwas Großes passiert ist, und dass es einen echten Willen, ein regelrechtes Bedürfnis der Bürger gab, die Wege der Entscheidungsfindung grundlegend zu ändern. (…)
Das ist doch ganz schön demagogisch. Alle übernehmen die äußere Form und den Diskurs, aber kaum jemand glaubt wirklich daran und will es ernsthaft umsetzen, wenn es überhaupt jemanden gibt. Man sägt eben nicht den Ast ab, auf dem man sitzt …
S.: Ja, aber es ist gut, dass sie letztlich Nuit Debout beachtet haben, wo es doch von allen verächtlich gemacht wurde. Im Film sagt Frédéric Lordon übrigens, dass dies politische Kräfte weckt, die sich einen Weg bahnen werden, und dass jeder Präsidentschaftskandidat am Ende einige der Werte von Nuit Debout sich zu eigen machen wird.
Obwohl paradoxerweise Nuit Debout möglicherweise eine Aneignung der Politik durch die Bürger im ursprünglichen Sinne war, das heißt im Sinn einer Aneignung des öffentlichen Lebens, indem sie klar gemacht haben, dass das nicht einigen Individuen gehört, egal ob gewählt oder nicht, sondern allen. Wenn man sich das bewusst macht, dann führt das eher zum Niedergang des „auserwählten Mannes“, also der Präsidentenwahl als solche, oder?
A.: Ja, und in den Debatten auf dem Platz hat übrigens jemand das zurecht mit einer pubertären Phase verglichen, im guten Sinne. Die politische Reifezeit einer Gesellschaft, die die Fehlkonstruktion des Systems begriffen hat, die in der Lage ist eigene Entscheidungen zu fällen; eine Gesellschaft, die plötzlich nicht mehr wie ein Kind behandelt werden will und sich Gehör verschaffen will.
S.: Und die Widerstand leistet gegen das Modell im Angebot, das man ihr aufzwingt; die ein Modell eigener Prägung einfordert.
Um auf den Widerstand zurückzukommen gegen ein hierarchisches Modell von oben nach unten – wo man den Befehlen und Vorgaben von oben gehorcht -, bei Nuit Debout gab es keinen Anführer oder Sprecher. Aber die Medien haben sich recht schnell auf Frédéric Lordon und François Ruffin konzentriert, die als Rädelsführer der Bewegung betrachtet wurden. Die beiden sind, ebenso wie Myriam El-Khomri, wie ein roter Faden in eurem Film. War das Interview mit ihnen unbedingt notwendig, wo es doch genau darum geht, eine Bewegung zu verstehen, die gerade die Idee der Repräsentation zurückweist?
S.: Das Eigenartige dabei ist, wenn man einen Dokumentarfilm macht, dass man sich im Augenblick der Montage des Films einen Abstand zum Thema erarbeiten muss. Wenn man die 200 oder 300 Stunden Rohmaterial beisammenhat, dann sagt man sich: „Wie kann ich die Geschichte genau so erzählen, wie ich sie erlebt habe oder wie die Leute sie erlebt haben?“ Und wenn man sich die Bilder der ersten Wochen anschaut, dann merkt man, dass diese Spannung um das Thema der Anführer gar nicht auftaucht. (…)
Ja, aber ich will deutlicher sein. Wäre es möglich gewesen einen Dokumentarfilm für France 5 zu machen, ohne die öffentlich anerkannten Hauptfiguren zu zeigen, obwohl sie kaum je auf dem Platz waren und ihre direkte Beteiligung gleich zu Anfang beendet war? War das eure Entscheidung oder war das eine innere Notwendigkeit der Medien?
A.: Das war unsere Entscheidung. Meiner Meinung nach haben die beiden die Bewegung in Gang gebracht. Es war interessant nachträglich die Meinung von Leuten zu hören, die solch eine Bewegung ins Rollen gebracht haben, auch wenn die Bewegung ihnen später entglitten ist. Es wäre möglich gewesen den Film ohne sie zu machen, aber mir scheint, dass da etwas gefehlt hätte. Es kommt darauf an, wer der Adressat ist. Wir wollten uns an ein breites Publikum wenden, der Film sollte allen verständlich machen, was da auf der Place de la République passiert ist zwischen dem 31. März und Juni/Juli 2016. Durch ihren Beitrag gelingt das. Wenn ich etwas hören würde über eine soziale Bewegung in Mexiko zum Beispiel, dann wären mir solche Beiträge wichtig, um ganz zu verstehen, worum es geht.
S.: In unserer Fachsprache würden wir von „strukturgebenden Interviews“ sprechen. Es ist wahr, dass François Ruffin, Frédéric Lordon und Myriam El-Khomri im Laufe des Films immer wieder zu Wort kommen, aber unsere Basismitglieder von Nuit Debout auch. So ergeben sich Etappen in der Chronologie und man sieht, zum Beispiel auf halber Strecke, wo man gerade ist. Zum Beispiel stellt Ruffin einmal fest, dass es jetzt 80 thematisch verschiedene Kommissionen auf dem Platz gibt, und dass er das nicht fassen kann. Es war tatsächlich interessant zu sehen, wie sie auf dieses Baby schauen, das sie ja letztlich in die Welt gesetzt und dann aus der Entfernung haben wachsen sehen. Das ist ein Schlüssel zum Verständnis für Leute, die die Bewegung nicht miterlebt haben. Wir haben sie auch nicht zu ihrer eigenen Beteiligung befragt, sondern sie um ihre Perspektive, ihre Analyse aus der Ferne gebeten. Wir fanden es wichtig, dass diese historische Dimension auftaucht. Lordon liefert diesen Beitrag, ob man ihn nun mag oder nicht, niemand kann seine große Kenntnis der sozialen Bewegungen bestreiten. (…) Aber ich räume ein, dass man das im Widerspruch zur horizontalen Funktionsweise von Nuit Debout sehen kann. Das ist übrigens eine Frage, die wir uns vier Monate lang gestellt haben: „Kommt man ohne Anführer vorwärts?“ In den 300-Stunden-Aufnahmen, in allen Kommissionen und Gruppen, in allen Versammlungen ist diese Frage wieder aufgetaucht. Die Frage, wie man sich strukturieren soll, ohne dass jemand die Macht ergreift, ist recht spät aufgetaucht, ich glaube es war im Mai, mit der Frage der Kontaktpersonen in jeder Kommission; (…) Nach etlichen Wochen, (…) bedingt durch die Ermüdungserscheinungen, dem natürlichen Schlafmangel, ein bestimmtes legitimes Misstrauen – denn man kannte sich zuvor nicht -, all das führt dazu, dass man die Notwendigkeit sieht, sich zu organisieren, ohne dass die Teilnehmer darauf wirklich eine Antwort haben.
Hat das eurer Meinung nach zum Ende der Bewegung beigetragen?
S.: Man vergisst oft, dass diese Bewegung etliche Fußfesseln mit sich rumschleppte – zum Beispiel den Regen und die Kälte. Das hört sich vielleicht dumm an, aber das sind Hindernisse, die bei einer sozialen Bewegung ins Gewicht fallen. Man musste unglaublich motiviert sein, um unter diesen Umständen den Platz jeden Tag zu besetzen. Hinzu kam die Berichterstattung in den Medien, das versuchen wir übrigens im Film herauszuarbeiten: Wie ist es möglich, dass diese anfangs sympathische Bürgerbewegung recht schnell als eine Serie von gewalttätigen Demonstrationen in den Medien abgehandelt wurde? Und schließlich hat die Tatsache, dass es ja keine Wahlbekanntschaften waren, aber man hat trotzdem versucht zusammenzuarbeiten, das führt zwangsläufig zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, wie in jeder Gruppe. (…) Ehrlich gesagt, die pure Tatsache, dass die Bewegung bis Juni/Juli durchgehalten hat, (…) ist schon großartig. Die Medien haben alle gesagt, dass das nicht funktioniert hat, und sogar Leute in unserer Umgebung, wenn wir vom Film gesprochen haben, sagten: „Du machst einen Film über Nuit Debout? Gibt’s das noch?“ Ich glaube, das braucht Zeit, Zeit zum Reifen. Zum Beispiel sind die Indignados in Spanien nicht in ein paar Wochen entstanden.
Wir rechnen da nicht die Stunden mit ein, die man gegen die Tränengaseinsätze kämpfen musste oder, wie man im Film sieht, wie man einen Transporter freibekommen musste, der außerordentlich „gefährliche“ Gegenstände transportierte wie Planen, Mikrofone oder Lautsprecher. Solche Zwischenfälle haben manchmal 2 oder 3 Stunden Zeit gekostet bei einem Abend von 5 Stunden, die Generalversammlung verhindert, die Versammlungen, die Diskussionen, die Themenabende oder Filmprojektionen, deretwegen viele Leute gekommen waren. Das kam einer Art von Sabotage gleich, die der Bewegung geschadet hat und der Umsetzung der konkreten Vorschläge. Man kann schlecht in Ruhe nachdenken, wenn man sich andauernd verteidigen muss …
A.: Für mich persönlich gilt: Mir hat Nuit Debout die Augen geöffnet über das Verhalten und die Rolle der Polizei. Zuvor hatte ich ein naives Schwarz-Weiß-Bild von der Polizei: Das sind die Guten gegen die Bösen. Bei Nuit Debout habe ich selbst die Polizeitaktik beobachten können, wie sie verhindern, blockieren, die Leute aufreiben. Ich habe das entdeckt, die Befehle, die dazu führen.
S.: Meiner Meinung nach war das nicht der Kern. Die Müdigkeit hat den Ausschlag gegeben, auf beiden Seiten. Das entschuldigt nichts, aber die Polizei, die CRS, die waren auch müde.
Mancheiner würde dir antworten, dass der große Unterschied darin besteht, dass die Polizei bezahlt wird – übrigens von eben diesen Bürgern – um letztlich die Bürgeraktionen zu behindern und sogar zu verhindern. Die Nuitdeboutisten hingegen aus Paris und anderswo, haben freiwillig ihre Zeit auf Kosten von Privat-und Berufsleben eingesetzt, um ein Gesellschaftsmodell zu erarbeiten, das kein gewählter Vertreter auf die Beine stellen kann. Hier wird doch mit zweierlei Maß gemessen, oder?
S.: Ich glaube, dass es enorm wichtig ist, die Sache nicht hierarchisch zu untersuchen. Ich denke da zum Beispiel an Edgar Morin, der von Systemen und Untersystemen spricht und von der Art und Weise, wie das alles ineinandergreift. Man darf aber nicht die Hindernisse unterschätzen, von denen ich sprach: der Regen, die Kälte, die Müdigkeit.
Du bist also der Meinung, dass es gar keine Absicht gab, die Bewegung schlecht zu machen?
S.: Doch, das gab es, aber es gab auch Fehler auf Seiten von Nuit Debout. Auch wenn wir sehr weit entfernt waren von der Gewalt im Mai 1968, wir haben doch mit eigenen Augen brennende Autos, ausgegrabene Pflastersteine gesehen. Der Anblick war sehr beeindruckend. Ja, ich glaube, dass es politische Manöver gab, insbesondere die Anweisungen während der Demo, zum Beispiel vor dem Krankenhaus Necker.
In Bezug auf das Krankenhaus Necker, haben wir uns ernsthaft die Frage gestellt, insbesondere als die Glasfront des Krankenhauses eingeschlagen wurde. Manche Nuitdeboutisten wollten unbedingt ihren Protest gegen die Allmacht des Kapitalismus auf die Art zeigen, dass sie zum Beispiel die Banken angegriffen haben oder sie wollten die Werbeplakate und Werbeflächen an den Bushaltestellen angreifen, damit wollten sie zeigen, dass Werbung allgegenwärtig ist. Aber zu keinem Zeitpunkt von April bis Juli hat jemand einen kleinen Einzelhändler oder ein Krankenhaus angegriffen. Das war das einzige Mal. Das ist doch merkwürdig, wenn man weiß, dass die Ziele ja nie zufällig ausgewählt wurden, und dass – weil ich das mit eigenen Augen gesehen habe – zahlreiche Bullen als Randalierer verkleidet waren. Der Vandalismus gegen das Krankenhaus Necker hat die öffentliche Meinung stark beeinflusst.
S.: Das ist eine uralte Technik, die auf den Verfassungsschutz zurückgeht. Die RG-Zellen (Renseignements Généraux, N.D.L.R.)2 gibt es nicht mehr, aber die Techniken der Infiltration von sozialen Bewegungen, wo man zur Gewalt gegen Sachen treibt, die ist sehr sehr alt. Aus Prinzip aber, wenn man ein Thema behandelt und solange man noch keine stichfesten Beweise hat, darf man nur Fragen formulieren, aber keine Behauptungen aufstellen. Da muss man wachsam bleiben, vor allem in einer Zeit, wo viele zu Verschwörungstheorien neigen.
Aber liegt da nicht eine Verschwörungstheorie vor, gerade weil es tatsächlich Manipulationen gibt, die vor den Bürgern geheim gehalten werden? Sind wir da nicht auf Abwegen, gegen die man berechtigte Zweifel haben kann, auch wenn sie von Polizeispitzeln begangen werden?
S.: Es sind gerade im Moment einige Untersuchungen im Gange gegen Politiker, denen solche Manipulationen vorgeworfen werden. Aber (…) man kann damit nicht alles erklären. Obwohl diese Kluft zwischen den zwei Welten sicherlich ein Grund dafür ist, warum Nuit Debout überhaupt entstanden ist. Ein Grund dafür, warum die Bewegung auch heute noch existiert, ist, dass Monate später immer noch gewählte Vertreter im Fernsehen erklären, dass sie nicht in der Lage sind, Sparrücklagen zu bilden bei einem Monatsnetto von 5100 Euro. (…)
Nuit Debout hat es auch anderswo auf der Welt gegeben und kaum jemand spricht davon. Paris und Frankreich haben Nachahmer gefunden in verschiedenen Ländern. Bedeutet der Besuch von Aktivisten der Occupy Szene, von der griechischen Syriza und der spanischen Podemos, dass es einen echten Versuch gibt, diese Bewegungen auf internationaler Ebene zusammenzuführen?
A.: Wir haben Global Debout gefilmt (Anm.: am 15./16. Mai 2016 waren Bürger aus aller Welt auf die Place de la République eingeladen), aber wir haben diese Sequenz letztlich nicht im Film aufgenommen. Wir wollten uns auf den historischen Moment in Frankreich beschränken, das schien uns wichtig, denn die Öffentlichkeit schien die internationale Dimension überhaupt nicht wahrgenommen oder verstanden zu haben.
Wenn man hätte zeigen können, dass überall auf der Welt die Leute nach Frankreich blicken und sich von der französischen Bewegung inspirieren lassen, dann hätten die Franzosen auch verstehen können, dass Nuit Debout nicht eine beliebige Demo unter vielen ist. Wenn man hätte zeigen können, dass die angestrebten Ziele grenzenlos sind, unabhängig von Sprache oder Kultur, und dass die verschiedenen Bäche sich sammeln zu Flüssen und schließlich zu Strömen, dann wird es auch möglich die Kräfte und Überlegungen zu vereinen, die nötig sind für einen echten Gesellschaftswandel, im Plural.
S.: Vielleicht. Wie dem auch sei, es ist gut, dass die Organisation im Aufbau ist. Die Netzwerke sind von jetzt ab vorhanden. Wir haben uns oft gefragt, was bei Nuit Debout gefehlt hat. Wenn es nicht die Führungspersönlichkeit war, dann waren es vielleicht tatsächlich die gemeinsamen konkreten Ziele und somit die verschiedenen Etappenziele auf dem Weg dahin. Der Prozess also.
Denkt ihr, dass Nuit Debout missverstanden worden ist und vielleicht später einmal rehabilitiert werden wird?
S.: Ich denke, dass Dies ein Schlüssel sein wird zum Verständnis dessen, was in den nächsten Jahren – vielleicht sogar in den nächsten Monaten – passieren wird. Und es ist auch so: Die schiere Tatsache, dass Die Bewegung vier Monate lang gelebt hat, ist ein Erfolg an sich. Ich möchte auch den Artikel 49.33 (Anm.: der französischen Verfassung) festhalten, der am Ende ein Thema im Präsidentschaftswahlkampf 2017 werden wird. Daraus ist eine Forderung von Arnaud Montebourg (Anm.: einer der Präsidentschaftskandidaten des PS) entstanden, und das wiederum bringt Manuel Valls (aktueller Premierminister Frankreichs) dazu, zu sagen, dass er – das ist komisch – gar nicht dafür war. François Ruffin spricht davon im Film. Er sagt: Wir haben sie wenigstens dazu gebracht, dass sie Druck machen im Parlament, so wie sie es schon außerhalb machen. (…)
Nuit Debout, das steht für viel Kampf, manchmal dafür und manchmal dagegen. Und wenn ihr mir einen einzigen erhebenden Augenblick nennen solltet, was wäre das?
A.: Orchestre Debout!
S.: Ja, ohne Zweifel. Damit beginnt unser Film. Wir haben mehrere Sequenzen gefilmt, das war unglaublich. Sogar im Regen, das war einfach zauberhaft.
Auch eure Freunde und Verwandte werden Nuit Debout kennenlernen. Das muss toll sein, ihnen einen „historischen Moment“ zu zeigen, mit den Augen des Journalisten, aber auch als Person …
S.: Das stimmt absolut. Einzelne Leute, die den Film schon gesehen haben, hatten genau diese Reaktion. Das hatten sie sich nicht so vorgestellt. (…)
A.: Ja, und vor allen Dingen, weil es ungerecht und nahezu verletzend war, wenn man Kommentare hörte, in dem Sinn „Die haben halt sonst nichts zu tun“ oder „nette Spinner, die besser schlafen gehen sollten oder zur Arbeit“. Ich bin froh, dass ich diesen Film gemacht habe, um zu zeigen, dass die Teilnehmer bei Nuit Debout ganz anders waren, dass sie daran geglaubt haben und immer noch daran glauben, dass sie gekämpft haben, und dass sie gute Gründe dafür hatten. Wir wollten das Zerrbild, das in der Presse gezeichnet wird, entlarven und – jenseits der Klischees – der Komplexität der Sache gerecht werden.
Jetzt werden viele Leute feststellen, dass sie auch dabei waren, im Geist, ohne es zu wissen?
S.: Ich denke vor allem, dass viele Leute erkennen werden, dass sie dabei sein hätten müssen. Sie beklagen sich ständig über das gegenwärtige System, auch heute noch, und reden dauernd davon, dass sich was ändern muss. Sie hatten täglich die Gelegenheit dazu, über vier Monate lang, aber sie wollten oder konnten die Gelegenheit nicht ergreifen und mitmachen. Das hätte vieles geändert. Aber vielleicht kommt die Gelegenheit wieder …
Mit besonderem Dank an Dr. Susanne Hildebrandt für die deutsche Übersetzung.
Fotos: Sylvain Louvet, Aude Favre und Gazette Debout.
Le monde en face: Nuit Debout!
Dokumentation.
Dauer: 70 Min.
Autoren: Sylvain Louvet und Aude Favre.
Produktion: Hergestellt mit Unterstützung von France Télévisions.
Herstellung: 2016
Erstausstrahlung: 17. Januar 2017 auf France 5.
Emmanuel Macron ist einer der drei Präsidentschaftskandidaten des PS für die Wahlen 2017. ↩
Renseignements Généraux (RG) entspricht dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND); seine Funktion ist die Ausspähung und Bekämpfung staats- und verfassungsfeindlicher Aktivitäten und Organisationen. Die RG wurden in ihrer alten Form 2008 aufgelöst. ↩
Artikel 49.3. der französischen Verfassung erlaubt der Exekutive (der Regierung) unter bestimmten Umständen die Legislative (das Parlament) zu umgehen und ein Gesetz im Alleingang zu verabschieden. Das Parlament kann sich gegen diese zeitweilige Entmachtung mit einem Mißtrauensantrag innerhalb von 24h wehren. Bei einem erfolgreichen Mißtrauensantrag würde das Gesetz zurückgezogen werden und die Regierung müsste zurücktreten. ↩