Wer in den 80er Jahren groß geworden ist, erinnert sich vielleicht noch an die Zeichentrickserie: „Ciao Marco, ciao“ klang die Titelmelodie und weckte Sehnsucht nach Italien. Damit verbunden immer auch die Erinnerung an den letzten Urlaub an der Adria, an Sonne, an Meer und mediterranes Lebensgefühl. Und an die Herzlichkeit und das lebensbejahende Temperament der Italiener, für das wir sie so schätzen und lieben.
Florenz ist die Stadt von Matteo Renzi, dort machte er Karriere und war auch ihr Bürgermeister, bevor er durch politische Umstände und ohne gewählt worden zu sein, zum Ministerpräsident der Republik aufstieg. Ich kenne Florenz gut, habe dort eine Zeit lang gelebt und als ich nach 25 Jahren wieder zurückkehrte, fand ich leider das vor, was inzwischen überall in Europa Einzug gehalten hat: das Stadtzentrum umfunktioniert zu einer Art Disney World mit teuren Hotels, schicken Büros und Luxusgeschäften für betuchte Touristen. Die Einwohner, die Menschen, die hier einst wohnten, können es sich nicht mehr leisten und sind in die Peripherie zurückgedrängt. Man arbeitet vielleicht noch im Zentrum, aber das Leben, das wahre Leben, findet zwangsweise woanders statt.
Der Kapitalismus mit all seinen hässlichen Gesichtern hat auch vor Italien nicht Halt gemacht. Vom Zug aus sieht man riesige Industriegebiete und aggressive Leuchtreklame, Konsumtempel mit McDonalds und multinationalen Handelsketten wie Ikea, Lidl und Co., manchmal meint man, in Deutschland zu sein, es macht fast gar keinen Unterschied mehr.
Das gleiche gilt auch für die am Zugfenster vorbeiziehende italienische Landschaft. Die Zypressen-Alleen sind zwar immer noch da, aber keine Kühe oder Schafe mehr weit und breit, dafür riesige Felder mit Agrarmonotonie, auf denen Traktoren Gift versprühen, und mehrspurige Autobahnen, auf denen Waren und Produkte sowie lebende Tiere, die niemals das Sonnenlicht gesehen haben, von einem Ende Europas zum anderen hin und her gekarrt werden. Im Namen des immerwährenden Wachstums und des freien Handels.
Die Menschen sind dabei außen vor geblieben und das hat sich nun im Ergebnis zum Referendum niedergeschlagen. Denn sie haben verstanden, dass ein Ja nur zu noch mehr von all dem führen würde. Weiter in Richtung Entmenschlichung der Gesellschaft zum Wohle einiger weniger, die behaupten, es würde uns allen etwas bringen. Am Anfang glaubten wir das noch, waren begeistert von der europäischen Idee. Inzwischen ist auch dem letzten in Europa bewusst geworden, dass das alles nur ein Vorwand ist, um Politik zu betreiben, die ausschließlich Big Business bedient und wer nicht drin ist im Club, kann sehen wo er bleibt.
Die Italiener haben letzten Sonntag auch für uns gesprochen. Sie haben bewiesen, dass Italien mehr ist als Renzi, Monti und Monte dei Paschi. Und dass die Menschen sehr wohl noch Lust auf Politik haben und den Willen, etwas zu verändern. Und dieser Wille ist groß, größer als die Herrschenden es gerne hätten. Die Italiener haben mehrheitlich Nein zu dieser neoliberalen Entwicklung gesagt, für die Renzi steht. Dass er einer sozial-demokratischen Partei angehört, macht dabei überhaupt keinen Unterschied, Renzi ist genauso links wie Gabriel. Interessant dabei ist aber, dass die Entscheidung sowohl von progressiven Kräften als auch von rechten Strömungen getragen wurde. Das erscheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Ist es aber nicht.
Geschichtlich gesehen gab es schon immer progressive Kräfte, ohne die die Entwicklung der Menschheit nicht möglich gewesen wäre. Progressiv bedeutet voranschreitend, gegen den Strom, gegen ein etabliertes System. Progressiv bedeutet Veränderung. Und auch die rechten Kräfte in Europa wollen Veränderung. Nur dass sie sich von Angst leiten lassen. Sie haben Angst. Angst, dass wir alle zum Islam konvertieren müssen, dass die Flüchtlinge uns alles wegnehmen und dass wir alle in die Luft gesprengt werden. Und diese Angst wird von den Massenmedien regelmäßig und bei jeder Gelegenheit geschürt und gleichzeitig die wahren Hintergründe und Verantwortlichen verdeckt.
Unsere Aufgabe ist es, diese Angst aufzulösen. Zu zeigen, dass unsere Vision von einer Welt, in der alle die gleichen Rechte haben und in der der Mensch wichtiger ist als die Märkte, nicht nur möglich, sondern bereits am Entstehen ist. Und wenn Kriege und Gewalt, von denen eine riesige Industrie profitiert, endlich aufhören, dann brauchen die Menschen auch nicht mehr ihre Heimat zu verlassen. Es ist genug für alle da, um ein würdiges Leben zu führen. Wir haben das Wissen und die Technologie dazu. Alles, was dem im Weg steht, ist die maßlose Gier einiger weniger, die den Hals einfach nicht voll bekommen.
Wenn wir es also schaffen, ein lebhaftes Bild dieser neuen Welt zu vermitteln, die an vielen Orten der Welt bereits existiert und wächst, in unzähligen Projekten, Initiativen und Bewegungen, in Solidarität miteinander und Respekt der Natur gegenüber, dann können wir diese Angst auflösen. Es gilt, die Menschlichkeit hinter dieser Angst zu sehen und sie durch Positives zu ersetzen. Gemeinsam die neue Welt zu gestalten, eine Welt ohne Hochfinanz und Börsenspekulation, eine Welt, in der Politiker, die sich für Lobbyismus prostituieren, keine Chance mehr haben und in der ein Mensch dem anderen hilft und ihn nicht als „Konkurrent“ nach den Spielregeln eines ausgedienten Systems betrachtet, den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird.
Eine der vielversprechendsten und hoffnungsvollsten Initiativen in diese Richtung ist die paneuropäische Bewegung DiEM25, die Transparenz anstatt Entscheidungen hinter verschlossenen Türen in Brüssel fordert, ein Ende der Finanz- und Bürokratiediktatur, und die EU- sowie nationale Kompetenzen wieder auf die lokale Ebene („Demos“) zurückholen will. Dazu entsteht bereits ein Netzwerk von rebellischen Städten und Gemeinden, zu denen unter anderem auch schon Barcelona und Neapel gehören.
Es geht um eine Welt, in der die Menschen wieder die Entscheidungsgewalt über ihr eigenes Leben haben. Und wir alle tragen dazu bei, Tag für Tag, indem wir uns engagieren, für Solidarität, für Basisdemokratie, für bedingungsloses Grundeinkommen, für erneuerbare Energien, für nachhaltige Landwirtschaft, für globales Denken und lokales Wirtschaften zugunsten des Planeten und unserer Zukunft. Alles was wir tun müssen, ist weiter machen und dieses Bild der neuen Welt in unseren Herzen tragen und es verbreiten. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, hat letzter Sonntag erneut bewiesen. Und der Abgang von Renzi zeigt einmal mehr: Aufstehen und Nein sagen wirkt!