Die massive Repression der Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei hat rund eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben. Zehntausende BewohnerInnen aus Diyarbakir können seit einem Jahr nicht in ihre Häuser zurück. Amnesty prangert in einem neuen Bericht Zwangsvertreibungen und die kollektiven Bestrafung der kurdischen Bevölkerung an.
Der Amnesty-Bericht «Displaced and dispossessed: Sur residents’ right to return home» erscheint in einer Zeit, in der das Klima gegenüber oppositionellen kurdischen Stimmen immer repressiver wird. Er beleuchtet die deprimierende Situation von Familien, die vor einem Jahr im Zuge der brachialen Operationen der Sicherheitskräfte aus ihren Häusern im Quartier Sur, der zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden Altstadt von Diyarbakir, vertrieben worden sind. Die Menschen können nach wie vor nicht nach Sur zurückkehren und stehen vor einer ungewissen Zukunft.
«Während die Unterdrückung von Medien und der Zivilgesellschaft einige Beachtung gefunden hat, ist das Schicksal der vielen Menschen, die unter dem Vorwand der Sicherheit ihre Häuser verlassen mussten, weitgehend unbeachtet geblieben», sagt John Dalhuisen, Europa-Direktor von Amnesty International. «Viele Häuser im ehemals lebendigen Altstadtquartier Sur sind durch Artilleriebeschuss zerstört oder in Vorbereitung für ein ‚Neuentwicklungsprojekt‘ der Altstadt abgerissen und ihre Bewohner enteignet worden.»
Unbegrenzte 24-Stunden Ausgangssperren
Nach dem Ende des Waffenstillstands im Juli 2015 kam es auch in Sur zu Zusammenstössen zwischen Bewaffneten und türkischen Sicherheitskräften. Die bewaffnete Gruppierung steht in Verbindung zur kurdischen Arbeiterpartei PKK und hatte Sur zuvor unter Selbstverwaltung gestellt, Barrikaden errichtet und Gräben angelegt.
Die türkischen Sicherheitskräfte gingen daraufhin in Sur und vielen anderen Orten im Südosten der Türkei mit grossangelegten Militäroperationen vor und verhängten zeitlich unbegrenzte Ausgangssperren, die rund um die Uhr galten. Die Polizei forderte die Leute per Lautsprecher auf, ihre Häuser zu verlassen. Die Kämpfe endeten zwar im März 2016, aber die Ausgangssperren gelten in grossen Teilen von Sur weiterhin. BewohnerInnen, die trotzdem in ihre Häuser zurückkehren wollten, fanden diese oft vollständig zerstört wieder. Rückkehrende berichteten gegenüber Amnesty auch von Einschüchterungen durch die Sicherheitskräfte.
Anhaltend schwierige Situation der Vertriebenen
Die Vertriebenen haben bis heute grösste Mühe, angemessene Ersatzunterkünfte zu finden. Die meisten haben ihre Arbeit verloren, Kinder sind aus ihren Schulen gerissen worden. Dies und unverhältnismässig geringe Entschädigungen haben viele Familien in grosse Armut getrieben. Zudem hat die Unterdrückung der Zivilgesellschaft dazu geführt, dass Hilfsorganisationen, welche die Vertriebenen unterstützten, schliessen mussten.
Die Vertriebenen erkennen das Argument der Regierung, dass die Massnahmen aus Sicherheitsgründen erfolgt seien, acht Monate nach Beendigung der Kämpfe nicht mehr an. Vielmehr sehen sie in den Vertreibungen die kalkulierte Interessensdurchsetzung eines «städtischen Entwicklungsprojekts», dessen Details wenig transparent sind und für das die BewohnerInnen nicht konsultiert wurden. Bei anderen ähnlichen Projekten in der Türkei wurden die BewohnerInnen dauerhaft aus ihren angestammten Unterkünften vertrieben.
Ähnliche Lage auch in anderen Städten
«Die BewohnerInnen von Sur sind nicht die einzigen: Ihr trauriges Schicksal widerspiegelt sich in Dutzenden weiteren Orten im Südosten der Türkei. Die Regierung muss die Ausgangssperren unverzüglich aufheben und sicherstellen, dass die Vertriebenen in ihre Häuser oder zumindest in ihr Quartier zurückkehren können und für den Verlust ihres Besitzes vollumfänglich entschädigt werden», so John Dalhuisen.
Hintergrund
Sur bildet das historische Zentrum von Diyarbakýr, der grössten Stadt im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei. 2015 erklärte die UNESCO dessen antike Befestigungsmauern und die benachbarten Hevsel Gartenanlagen zum Weltkulturerbe.
Seit Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch im Juli hat sich die Menschenrechtslage im Südosten der Türkei stark verschlechtert. Eine Reihe von Regierungserlassen, durch die Medienunternehmen und NGOs geschlossen wurden, hat oppositionelle kurdische Stimmen praktisch zum Schweigen gebracht. Gewählte BürgermeisterInnen, unter ihnen die des Stadtteils Sur und ganz Diyarbakýrs wurden durch VerwalterInnen ersetzt, die die türkische Regierung eingesetzt hat.
Im November wurden hunderte NGOs überall in der Türkei aufgrund nicht näher definierter «Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder Bedrohung der nationalen Sicherheit» geschlossen. Unter diesen NGOs befanden sich auch die wichtigsten Unterstützungsorganisationen der aus Sur vertriebenen Menschen.