Nach der Amtsenthebung von Dilma Roussef ist Brasilien unter dem neuen Präsidenten Michel Temer auf dem Weg ein El Dorado des Raubtierkapitalismus zu werden. Franz Quixtner berichtet aus dem größten Land Lateinamerikas und schildert seine Eindrücke.
Die Gier der Menschen und des Kapitals kennt keine Moral und keine Grenzen. Schon gar nicht in Brasilien. Nach der Entmachtung von Dilma Rousseff beginnt unter der Regierung von Amtsnachfolger Michel Temer der schnelle Ausverkauf. Staatliche Betriebe sollen zügig privatisiert werden. Ein neues Arbeitsgesetz soll es den Unternehmen ermöglichen, jeden Arbeiter und Angestellten über Leiharbeitsfirmen zu beschäftigen.
Deshalb spielt es in diesem Bericht nur eine untergeordnete Rolle, ob Dilma Rousseff von ihren politischen Gegnern aus dem Präsidentenamt geputscht oder zu Recht abgesetzt wurde, weil sie durch das Frisieren des Haushalts bewusst gegen Regeln verstoßen hat, nur um ihre Wiederwahl zu sichern.
Bedrohlich für die brasilianische Gesellschaft ist die von Gewalt begleitete Spaltung der politischen Lager, die uferlose Korruption und vor allem der Kniefall des neuen Präsidenten Michel Temer vor dem Raubtierkapitalismus, der den sozialen Kahlschlag auf eine neue Dimension hebt.
Politik vereint in Korruption
Doch der Reihe nach. Auf der einen Seite finden sich mit der Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) und der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMBD), der auch Temer angehört, die Sieger des mutmaßlichen Staatsstreichs. Ihnen gegenüber steht die Schar der politischen Kräfte, die einen Putsch erkennt und den Umsturz bekämpfen will.
Die landesweiten Proteste, die unmittelbar auf die Absetzung der Präsidentin folgten, ebben nicht ab. Immer wieder kommt es zu Protestkundgebungen und Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, die auch gegen unbeteiligte Personen massive Gewalt anwendet.
Es ist unzweifelhaft, dass die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) von Rousseff in zahlreiche Korruptionsfälle verwickelt war und ist. Ohne dieses Spiel aus Machtgelüsten und Bestechlichkeit wäre die PT mit hoher Wahrscheinlichkeit in Brasilien niemals ans Ruder gekommen. Die Machtgier wurde ihr allerdings zum Verhängnis. Ihre Glaubwürdigkeit ist dahin. Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass ebenfalls Mitglieder der PMDB und Sozialdemokraten der PSDB sowie andere Parlamentarier tief im Schlamm der Korruption stecken. Gegen mehr als 300 Abgeordnete ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Vor wenigen Tagen wurde Strafantrag gegen den Ex-Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva gestellt. Lula, der der PT angehört, soll Drahtzieher einer Schmiergeldkratie rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras (Petróleo Brasileiro S.A.) sein.
Der Strafantrag wurde von einer Pressekonferenz begleitet, auf der insbesondere die politische Dimension hervorgehoben wurde. Juristische Aspekte blieben Mangelware. Lula, der sich unter anderem eine Ferienwohnung habe sanieren lassen und an dessen Partei 200 Millionen Dollar geflossen sein sollen , bestreitet die Vorwürfe. Sie seien politisch motiviert.
Michel Temer, dessen PMBD Ende März das Regierungsbündnis mit der Arbeiterpartei aufkündigte und so die Entmachtung Rousseffs einleitete, hätte in absehbarer Zeit niemals legal das Präsidentenamt erreicht. Er ist rechtskräftig wegen der Annahme von illegalen Wahlkampfspenden verurteilt und darf acht Jahre lang nicht zu Wahlen antreten.
Außerdem lehnt der überwiegende Teil der Bevölkerung Temer und dessen Sparpolitik ab, die vor allem aus Steuererleichterungen für Reiche und der Beendigung von Sozialprogrammen für die Armen besteht. Gerade sie sind die Mehrheit in Brasilien. Doch die Entmachtung Rousseffs machte für Temer den Weg frei. Jetzt sitzt der Liebling des Kapitals sogar bis zu den Wahlen 2018 auf dem Präsidentenstuhl.
Arbeitsgesetze im Sinne des Kapitals
Kaum als Präsident installiert, kommen die Karten auf den Tisch. So schnell wie möglich sollen staatliche Betriebe privatisiert werden. Im Sinne des Kapitals fällt zudem ein neues Arbeitsgesetz aus, das Temer durchboxen will, um es Unternehmen und Konzernen zu erlauben, jeden Angestellten und Arbeiter über Leiharbeitsfirmen zu beschäftigen.
Leiharbeiter müssen im Vergleich zu normalen Angestellten mit Lohneinbußen von über 20 Prozent rechnen. Die effektive wöchentliche Arbeitszeit liegt etwa drei Stunden höher als bei Festangestellten. Betriebsräte oder vergleichbare Arbeitnehmervertretungen haben sie nicht. Gefeuert werden können sie ohnehin von einem Tag auf den anderen.
Bei einem Blick auf die üblichen Gehälter einer Stadtverwaltung, den Mindestlohn und die Konsumpreise, lassen sich die Folgen erahnen. Der monatliche Mindestlohn beträgt bei einer Wochenarbeitszeit von 44 Stunden rund 880 Real (knapp 238 Euro). Zwei Drittel aller Angestellten in der Stadtverwaltung verdienen weniger als RS 2000 (rund 540 Euro). Über ein Drittel muss mit weniger als RS 1000 (270 Euro) auskommen. Die Privatwirtschaft zahlt ihren Angestellten meist weniger.
Dagegen bewegen sich die Kosten für Lebensmittel und Konsumgüter in den Großstädten teilweise auf europäischem Niveau. Ein Ei kostet 0,14 Euro, ein Kilo Tomaten 1,17 Euro, ein Kilo Fisch 4,31 Euro, ein iPhone 6s über 930 Euro und die wohl billigste Version eines VW Golf 9400 Euro. Dass ausgerechnet in einem Erdöl exportierenden Land der Liter Benzin 1,05 Euro kostet, überrascht nicht nur den Zaungast.
Entwicklung mit unbekanntem Ausgang
Wie kann es in Brasilien weitergehen? Sollte sich Temer mit seinen Arbeitsgesetzen und dem Spardiktat auf Kosten der armen Bevölkerungsschichten durchsetzen, sind die Reaktionen kaum vorhersehbar. Massendemonstrationen dürften dann zum Alltag werden und die Armut, die sich vorwiegend in den Favelas sammelt, wird sich in den Städten ausbreiten wie ein Virus.
Ein politisch angeschlagenes Brasilien, das mit Russland, Indien, China und Südafrika die aufstrebenden BRICS-Staaten bildet, weckt zudem Begehrlichkeiten. Gerade der durch Skandale erschütterte Erdölkonzern Petrobras dürfte für internationale Konzerne ein willkommenes Filetstück sein, sollte Michel Temer die Privatisierung vorantreiben und das Tafelsilber verscherbeln.
Dabei hätte Brasilien durch seine gewaltigen Erdölvorkommen, die vor der Küste in der Tiefsee unter einer Tausende von Metern dicken Salzkruste lagern, das nötige Potenzial, um sich beim Internationalen Währungsfonds zu entschulden und alle sozialen Schichten vom Ölboom profitieren zu lassen. Das scheint aber nicht gewollt.
Über den Autor: Franz Quixtner stammt aus Österreich und lebt als Auswanderer in Brasilien. Er berichtet regelmäßig für NEUE DEBATTE vom Zuckerhut und beschreibt die Menschen, die Kultur und die politischen Ereignisse in Südamerika aus dem Blickwinkel eines Reporters.