Das Sharehaus Refugio, eine Hausgemeinschaft von Flüchtlingen und Einheimischen in Berlin Neukölln, feiert am 18. September sein einjähriges Bestehen und wir haben uns mit Hélène Vilalta über die Erfahrungen dieses ersten Jahres unterhalten.
Mit Hélène ein Interview zu führen ist nicht leicht. Wir sitzen im Rooftop Café, schlürfen den Cold Brew Coffee, der hier aus einem Social-Entrepreneurship hervorgegangen ist, und immer wenn Hélène gerade in Redefluss kommt, entdeckt sie wieder eine bekannte Nase, die sie herzlich begrüsst: Laurids, der gerade sein FSJ abschliesst, Alma, die heute gekommen ist, um für die kleine somalische Familie, die gerade Nachwuchs bekommen hat, zu kochen, Alex, der vom Hermannplatz zurückkommt, wo er jeden Samstag seine syrische Suppe an Obdachlose verteilt („um den Deutschen etwas zurückzugeben“), Ali, der sich auf dem Dach etwas grillen möchte, …. Es ist lebendig hier, gleichzeitig entspannend – sitzliegend neben den kleinen Kräuterbeeten – und einfach auch sehr hübsch und freundlich.
Hélène beschreibt mir das Haus: Das Erdgeschoss als “Tor zum Aussen“ mit Café als Veranstaltungs- und Kommunikationsort, die erste Etage mit Seminarräumen, die zweite mit Künstlerateliers, dritte bis fünfte werden bewohnt von einer Mischung von „Ankommern“ aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Albanien und Einheimischen, wobei auch diese häufig Wurzeln in anderen Ländern der Erde haben. So lebe zum Beispiel auch eine Engländerin seit einem Jahr hier, die sich dann verliebte in einen Afghanen. „Hier gibt es alles wie in einer normalen WG oder Familie. Ganz viel passiert andauernd.“
Durch das Tun lernt man wie
Die Idee des Sharehauses stammt von Sven Lager, mit dem wir ein Interview im letzten Jahr, kurz nach Gründung, geführt hatten. Unterschiedlichste Nationalitäten, Religionen und Kulturen leben zusammen und jeder trägt zur Gemeinschaft bei, was er gut kann oder ihm Spaß macht. Der eine putzt, der andere ist eher handwerklich begabt, der nächste übernimmt Schichten im Café oder hilft beim Sprachcafé.
„Wie wagemutig!“, hatte sich Hélène gedacht als sie vor einem Jahr das erste Mal das Sharehaus betrat. „Lauter Leute, die sich nicht kennen!“ Heute sagt sie: „Durch das Tun erst lernt man, wie man etwas machen muss. Es ist großartig, wie es alles klappt und ineinander fliesst.“
Wir können in Liebe und in Frieden miteinander sein
Es sei alles andere als immer einfach. Es passiere viel: Dinge entstehen, Menschen verlieben sich, es gibt Trennungen, manche Schicksale sind traumatisch und müssten psychologisch aufgefangen werden, es wird gestritten, und es passiere ganz viel gleichzeitig. „Wir lachen zusammen, wir weinen, wir ärgern uns, wir machen alles zusammen.“ Vor drei Wochen habe die junge Somalierin eine sehr schwierige Geburt gehabt. Mehrere Tage habe sie auf der Intensivstation gelegen. Die ehrenamtliche Sabine habe zwei Tage am Stück die Geburt begleitet und das ganze Haus hat gemeinsam gebetet und gebangt um sie. Jetzt ist die Mutter wieder zuhause und der kleine Ahmed ist ein gesundes, rundes Baby und der Liebling aller.
Das besondere, wie Hélène es beschreibt, was man hier lerne: „Jeder ist gleichwertig. Wenn wir Zoff haben, dann ist das ganz menschlicher Streit wie in jeder Familie: du bringst den Müll nie raus, du trennst ihn nicht richtig.“ Nie werde der Streit auf die Nationalität bezogen: „Das ist, weil Du Syrer bist!“ oder „typisch deutsch!“ „Schau, hier ist der Alex, der geht seit einem Jahr raus und hilft Obdachlosen“, erklärt Hélène, „und dann gibt es einen anderen, der sitzt den ganzen Tag herum und vernachlässigt sogar seine Familie. Das hat nichts mit Nationalität zu tun.“ „Wir können in Liebe und in Frieden miteinander sein“, erklärt Hélène das, was sie in diesem Jahr im Sharehaus gelernt hat.
Austausch über Werte, von Kleidern, Kochen, …
Viele freiwillige Helfer ermöglichen dieses Projekt. Hélène arbeitet vor allem im Café. Aber zusätzlich ist sie an vielen anderen Aktivitäten beteiligt. Wie zum Beispiel einem Glaubenskurs, der in Kooperation mit dem Kreuzbergprojekt (Freie Kirche) durchgeführt wird. Als sie merkten, dass es einige Bewohner gibt, die sich für das Christentum interessieren, sogar daran denken zu konvertieren, fingen sie mit dem sechswöchigen Kurs an. Er fand so viel Anklang, dass sie ihn fortzusetzen gedenken.
Es ist dazu wichtig zu wissen, dass die Idee des Sharehauses auf christlichen Wurzeln ruht. Sven Lager, der bereits in Südafrika ein Sharehaus gegründet hatte, nehme seine Zuversicht und seine großartige emotionale Zuwendung zu jedem aus seinem christlichen Glauben. „Es ist das unterste Gerüst des ganzen“, sagt Hélène. Das Sharehaus ist auch ein Stadtkloster, in dem es ein Pilgerzimmer gibt. Keineswegs geht es aber um Missionierung. Die Religion oder Nichtreligion eines jeden wird hundertprozentig respektiert.
Ein anderes Projekt, das aus einer Bilanzierung des ersten Jahres hervorgegangen ist, ist ein regelmäßiges Community Treffen für alle – Bewohner, Praktikanten und Freiwillige. Inhalt sei unter anderem die Diskussion über Werte und dabei gemeinsame Werte zu definieren. Das sei unglaublich spannend, so Hélène. So sagte ein Syrer zum Beispiel, Pünktlichkeit sei für ihn nicht so wichtig. Ob jemand pünktlich komme oder eine Stunde später, würde ihm nichts ausmachen. Eine Helferin dagegen meinte, das mache sie unglaublich wütend, denn für sie habe Pünktlichkeit mit Respekt zu tun und sie fühle sich dann nicht respektiert.
Aber es gibt auch ganz praktische Projekte: Nähwerkstatt, Kochen mit Tanz („Es wird hier viel gekocht!“), Sprachkurse, Kleidertausch und vieles mehr. Oft brächten die Praktikanten und Ehrenamtlichen neue Ideen und frischen Wind herein.
Frustrationen und daraus lernen
Auf Frustrationen angesprochen bemerkt Hélène diplomatisch, dass es wichtig sei, wenn man sich als Freiwilliger beteiligen wolle an einem Projekt wie dem Sharehaus Refugio, eine gewisse Zuverlässigkeit zu zeigen. „Komisches Helfen“ nennt sie Aktivismus aus unklaren Motivationen, der meist nicht lange anhält. Sie rät Leuten, die gerne mitmachen wollen, sich darüber Gedanken zu machen: „Was mache ich gerne? Was möchte ich einbringen?“
Schön sei auf der anderen Seite zu sehen, wie sowohl Bewohner als auch Helfer sich während ihrer Tätigkeit oft emanzipierten, mit der Zeit eigene Ideen entwickelten. Manchmal treiben sie diese Ideen auch weg vom Sharehaus. „Das ist zwar schade fürs Projekt, aber ich freue mich natürlich für die Leute.“ So mancher bleibt aber auch, wie Hélène.
„Das erste Jahr ist jetzt rum und eigentlich geht es jetzt erst richtig los. Der Organismus formt sich und gewinnt an Struktur.“ Ein wichtiger Schritt sei nun die Definition von Werten für das Haus und mehr Struktur reinzubringen. Nachgedacht werde auch bereits über die Gründung weiterer Sharehäuser.
Und was ihr sonst noch fehle? „Wir sind hier jetzt viele Muslime, Christen und Atheisten. Es fehlen noch Juden und Buddhisten zum Beispiel“, sagt Hélène lachend.
Wir wünschen dem Sharehaus Refugio viele weitere spannende Erkenntnisse und Projekte im zweiten Jahr und erstmal eine gute Party, die übrigens am Sonntag, 18.September um 13 Uhr startet.
„Für mich sind die christlichen Werte der Nächstenliebe wichtig: Indem ich dem anderen diene, diene ich Gott. Jeden in seinem Wesen zu respektieren, ihn nicht zu beurteilen oder verurteilen. Was ich hier verstanden habe: Jeder Mensch ist ein Mensch.“ [In den Interviews frage ich meine Interviewpartner nach den Werten, die ihnen besonders wichtig sind, Anm. der Autorin]