Am 5. Mai führte DiEM25 in der österreichischen Hauptstadt eine weitere Großveranstaltung mit dem Titel „Europas Verantwortung gegenüber den Flüchtenden und gegenüber sich selbst“ durch. Yanis Varoufakis, einer der führenden Mitglieder der Bewegung, las folgenden Text von Chomsky vor.
In einigen Ländern gibt es eine echte Flüchtlingskrise. Zum Beispiel im Libanon, wo ungefähr ein Viertel der Bevölkerung inzwischen aus Flüchtlingen aus Syrien besteht, zusätzlich zu dem nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen aus Palästina und Irak. Andere arme Länder der Region, in denen ebenfalls zum Teil chaotische Verhältnisse herrschen, darunter Jordanien und auch Syrien haben, vor seinem Fall in den kollektiven Selbstmord, ebenfalls bereits Massen an Flüchtlingen aufgenommen. Diese Länder, die eine wahrhaftige Flüchtlingskrise erleben, tragen jedoch nicht die Verantwortung dafür. Sie liegt bei den Reichen und Mächtigen dieser Welt, die sich jetzt über ein im Vergleich dazu tröpfelndes Rinnsal an Flüchtigen beklagen, das mit Leichtigkeit aufzunehmen wäre.
Die amerikanisch-britische Invasion in Irak alleine hat an die 4 Millionen Menschen heimatlos gemacht, fast die Hälfte von ihnen floh in benachbarte Länder. Und die Iraker fliehen auch weiterhin aus einem Land, das inzwischen eines der elendsten dieser Erde ist, nach einem Jahrzehnt mörderischer Sanktionen und militärischen Interventionen der Reichen und Mächtigen, die damit das Land ruiniert und einen sektiererischen Konflikt entzündet habe, der alles in Stücke reißt.
Es ist nicht nötig, die europäische Rolle in Afrika zu überdenken, Ursache für noch mehr Flüchtlinge, die jetzt durch den von französisch-britisch-amerikanischem Bombardierungen in Libyen entstandenen Trichter fliehen, die das Land buchstäblich zerstört und es in den Händen von sich gegenseitig bekriegenden Milizen zurückgelassen haben. Oder die U.S.-Vorgeschichte in Zentralamerika, die wahre Folterkammern hinterlassen hat, aus denen die Menschen in Angst und Elend fliehen und zu denen jetzt noch mexikanische Flüchtlingen kommen, die Opfer eines Handelsabkommens geworden sind, das – wie vorherzusehen war – die mexikanische Landwirtschaft fast komplett zerstört hat, und die nun nicht mehr in der Lage ist, mit den hochsubventionierten U.S.-Agribusiness-Konglomeraten Schritt zu halten.
Die Reaktion der reichen und mächtigen Vereinigten Staaten besteht darin, Mexiko unter Druck zu setzen, die Opfer dieses Handelskrieges von den Grenzen fern zu halten und sie erbarmungslos zurückzutreiben, falls sie es schaffen sollten, Kontrollen auszuweichen. Die Reaktion der reichen und mächtigen Europäischen Union hingegen besteht darin, die Türkei zu bestechen, um die elendigen Überlebenden von ihren eigenen Grenzen fernzuhalten und sie in menschenunwürdigen Lagern wie Tiere zusammenzupferchen.
Unter den Bürgern gibt es ehrenwerte Ausnahmen. Aber die Reaktion dieser Staaten ist eine moralische Schande und eine Verleugnung der eigenen nicht unbeträchtlichen Verantwortung für die Umstände, die die Menschen dazu zwingen, um ihr Leben zu fliehen.
Die Schande ist jedoch nicht neu. Sehen wir uns die Vereinigten Staaten an, das priviligierteste und mächtigste Land der Erde, das Vorteile ohne Gleichen genießt. Fast während ihrer gesamten Geschichte haben sie Flüchtlinge aus Europa willkommen geheißen, um das Land, dass sie den indianischen Völkern, die dort lebten und die dadurch zerstört wurden, mit Gewalt entrissen haben, zu bewirtschaften. Dies änderte sich mit dem Immigration Act von 1924, der es zum Ziel hatte, hauptsächlich die italienischen und jüdischen Einwanderer auszuschließen. Es ist unnötig auf ihr weiteres Schicksal hinzuweisen. Sogar nach dem Krieg wurden Überlebende immer noch in Konzentrationslagern festgehalten und ihnen der Zugang verwehrt. Heute werden Roma aus Frankreich ausgewiesen, um in fürchterlichen Verhältnissen in Osteuropa leben zu müssen, als Nachkommen des Holocausts, falls es irgendjemand interessiert.
Die Schande sitzt tief und fest. Die Zeit ist gekommen, all dem endlich eine Ende zu setzen und ein halbwegs angemessenes Maß an Zivilisation anzustreben.
Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter