Den ersten Schritt mit der Gründung einer neuen demokratischen linken Bewegung „DiEM25“ hat er gemeinsam mit vielen anderen Bürgerinnen und Bürger in Berlin getan. In dem Buch “Time for Change“ erklärt Yanis Varoufakis die Grundlagen seines Denkens in allgemeinverständlicher Sprache seiner Tochter Xenia über die Welt der Wirtschaft. Behutsam bringt er ihr und dem Leserpublikum seine kritische Perspektive auf die europäische Finanzpolitik nahe. Als Empfehlung zum Lesen dieses Buch von Yanis Varoufakis, möchte ich Ihnen ein wichtiges Kapitel zitieren.

„Fürchte die Wirtschaftswissenschaftler und ihre blauen Pillen“ von Yanis Varoufakis

In einem gewissen Sinn ist dieses Buch meine Vision der roten Pille. Im ersten Kapitel hatte ich die Frage gestellt: „Wie gelang es den Herrschenden, ihre Macht zu erhalten und den Überschuss von der Mehrheit unbehelligt weiterhin für sie vorteilhaft zu verteilen?“ Und die Antwort lautete: „Durch die Herausbildung einer legalisierenden Ideologie, die die Mehrheit davon überzeugte, dass die Herrschenden rechtmäßig herrschten. Dass es so sein musste.“

Ich habe von den Priestern erzählt, die die herrschende Ideologie pflegten, mit deren Hilfe der Herrschende legalisiert, seine Macht etabliert und die Opfer der Ausbeutung davon überzeugt wurden, dass es keine Ausbeutung gebe, dass sie durch Leiden ins Paradies kämen, dass es eine Sünde sei, das zu begehren, was die Herrschenden hätten.

Vor dem Aufkommen der Marktgesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die herrschende Ideologie immer eine religiöse Gestalt. Die Ungleichheit, der Absolutismus, die Gewalt der Regierenden wurde als gottgewollter natürlicher Zustand legalisiert. Doch nach dem Triumph der Tauschwerte, der die Marktgesellschaften auf die Weltbühne brachte, nahm die herrschende Ideologie die Gestalt einer scheinwissenschaftlichen Wirtschaftstheorie an.

Schon seit einiger Zeit erinnern die Wirtschaftshandbücher, die herrschende Form der Wirtschaftstheorie, die Wirtschaftsteile der Zeitungen, die wirtschaftswissenschaftlichen Kommentatoren, die meinen, uns davon überzeugen zu müssen, dass Wirtschaftsfragen zu kompliziert sind, als dass gewöhnliche Sterbliche dazu eine Meinung haben könnten (und wir sie insofern lieber den Banken, den Technokraten, den „Fachleuten überlassen sollten), erinnert also dieses ganze Gerede über Wirtschaft an eine Matrix, wie ich sie im Kapitel über „Morpheus und Neo“ beschrieben habe: eine Scheinwelt, ein Gefängnis für den Verstand, dass uns die bittere Wahrheit für immer verbergen soll.

Und welche Wahrheit ist das?

  • Die Wahrheit, dass wir Menschen so weit gekommen sind, selbst Sklaven der Maschinen zu sein, die wir erfunden haben, damit sie uns dienen.
  • Die Wahrheit, dass wir Menschen nicht nur zu Dienern der Märkte geworden sind, statt sie uns dienen zu lassen, sonder zu Sklaven völlig unpersönlicher, unmenschlicher Märkte.
  • Die Wahrheit, dass wir unsere Gesellschaft so strukturiert haben, dass die Mehrheit an einen Faust ohne Mephisto erinnert und die Minderheit an einen Frankenstein, der Ungeheuer geschaffen hat, die sein Leben bedrohen.
  • Die Wahrheit, dass wir Tag für Tag dem Erwerb von Dingen nachlaufen, die wir gar nicht wirklich wollen oder brauchen, einzig und allein, weil die Matrix des Marketings und der Werbung sie uns erfolgreich in den Kopf gesetzt hat.
  • Die Wahrheit, dass wir uns verhalten wie idiotische Viren, die den Organismus, den Planeten zerstören, auf dem sie leben.
  • Die Wahrheit, dass unsere Gesellschaften nicht einfach nur ungerecht sind, sondern bestürzend ineffektiv darin, wie sie unsere Möglichkeiten verschleudern, echten Reichtum zu erzeugen, was dazu führt, dass sie auch ungerecht sind.
  • Die Wahrheit schließlich, dass derjenige, der diese Wahrheit sieht und ausspricht gnadenlos von der Gesellschaft bestraft wird, die es nicht erträgt, sich selbst im Spiegel der Logik und des kritischen Denkens ins Auge zu sehen.

Meine liebe Tochter Xenia und liebe Leserinnen und Leser, genau wie im Kapitel „Morpheus und Neo“ stehen wir vor der harten Wahl zwischen der blauen (der Traumwelt) und der roten (der Wahrheit) Pille.

Nimm die blaue Pille, und Du lebst in einer trügerischen Scheinwelt wie die, die glauben, was die Wirtschaftshandbücher über die Gesellschaft erzählen, die „ernsthaften“ Wirtschaftsanalytiker, die Europäische Kommission, die erfolgreichen Werbemanager. Wenn Du die blaue Pille nimmst, bist du nicht mit dem sadistischen Absolutismus der herrschenden Ideologie konfrontiert. Dein Leben wird schmerzlos verlaufen, unkompliziert, in Harmonie mit den Erwartungen der Machtausübenden.

Nimm die rote Pille, die Dir die Denk- und Sichtweise dieses Buches bietet, und ich erwartet ein schwieriges und gefährliches Leben. Wie es Morpheus zu Neo gesagt hat, ist alles, was ich Dir anbiete, die Wahrheit, nicht mehr.

Unsere rote Pille

Leider gibt es keine rote Pille, die Du wie Neo mit einem Glas Wasser schlucken kannst. Es gibt nur das kritische Denken und das Beharren, nie etwas zu akzeptieren, weil man es Dir gesagt hat oder weil die Starken, die Mehrheit, die „anderen“ daran glauben.

Auf den Seiten dieses Buches versucht Yanis Varoufakis zu zeigen, wie man das Beharren auf Wahrheit mit kritischem Denken verbinden kann, um die grundlegenden und oft traurigen Realitäten um uns herum wahrzunehmen.

Zweifellos werden wir häufig bereuen, nicht die blaue Pille genommen zu haben. Aber es wird auch die anderen Momente geben, in denen man die rote Pille gewählt hat, die Lügen der Starken durchschauen und in ihrer ganzen Hässlichkeit und Sinnlosigkeit begreifen wirst. Das wird Deine und unsere Belohnung sein.

Nach dem Lesen dieser sehr zu empfehlenden Lektüre, wissen wir, warum es Zeit für einen demokratischen Wechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik innerhalb von Europas ist. Yanis Varoufakis ist ein brillanter Erklärer, die die Ökonomie in einen größeren Zusammenhang stellt.

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ISBN 978-3-446-44524-6, S. Patakis S.A. & Yanis Varoufakis Athens 2013, Hanser Verlag