Israel und Palästina: ein Konflikt, eine koloniale Besatzung, ein rassistisches Apartheidsystem und ein „stetig fortschreitender Völkermord“, der seit rund 80 Jahren andauert und nach dem 7. Oktober 2023 gewaltsamer als zuvor fortgesetzt wurde. Welche politische Lösung gibt es heute für Palästina? Wir diskutieren darüber mit Rana Salman, palästinensische Aktivistin und – zusammen mit Eszter Koranyi Co-Direktorin der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung „Combatants for Peace“.
Was denken Sie als Palästinenserin und „Friedenskämpferin“ über den Zionismus? Ist das eine gefährliche Ideologie im Hinblick auf einen Frieden zwischen Israel und Palästina?
Meine Überlegungen bezogen auf den Zionismus sind geprägt vom anhaltenden Kampf für Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Menschenrechte. Der Zionismus als Ideologie entstand im späten 19. Jahrhundert mit dem Ziel, in Palästina ein jüdisches Heimatland zu gründen. Während einige Anhänger des Zionismus für friedliche Koexistenz und gegenseitige Anerkennung eintreten, haben andere eine Politik der Vertreibung, der Enteignung und der Verweigerung der Rechte des palästinensischen Volkes unterstützt. In seiner jetzigen Form wird der Zionismus oft mit der fortwährenden Besetzung der palästinensischen Gebiete, dem Ausbau der Siedlungen und der Einschränkung der Freiheit der Palästinenser:innen in Verbindung gebracht. Für mich stellt diese Form des Zionismus eine Bedrohung für den Frieden dar, weil sie Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Gewalt und die jüdische Vorherrschaft aufrechterhält. Diese Spielart des Zionismus, welche die Rechte und Bestrebungen der Palästinenser:innen missachtet, stellt eine Gefahr dar und ein großes Hindernis für dauerhaften Frieden und eine gerechte Lösung.
In der aktuellen Situation lässt sich nicht leugnen, dass es einen „militärisch vorgehenden“ Besatzungsstaat, nämlich Israel, gibt, und eine rassistisch und kolonial diskriminierte Region, die darauf wartet, befreit und als politische Einheit anerkannt zu werden. Bezeichnen Sie die Reaktionen aus Gaza auf die israelische Unterdrückung als „palästinensischen Terrorismus“ oder als „palästinensischen Widerstand“?
Von der Bedeutung her können die Reaktionen aus Gaza auf die israelische Unterdrückung eher als Widerstand, denn als Terrorismus verstanden werden. Es ist eine Situation, in der ein Volk unter Besatzung steht und mit systematischer Unterdrückung, Gewalt und dem Entzug grundlegender Menschenrechte konfrontiert ist. Für die Palästinenser:innen, insbesondere in Gaza, wo sie unter einer Blockade leben und häufigen Militäroperationen ausgesetzt sind, werden die Widerstandsaktionen oft als Reaktion auf jahrzehntelange Besatzung und als Versuch verstanden, ihr Land, ihre Würde und ihr Überleben zu verteidigen.
Es ist wichtig, zwischen dem Etikett „Terrorismus“, welches oft verwendet wird, um Widerstandsakte zu kriminalisieren und zu delegitimieren, und der umfassenderen Bedeutung eines Kampfes um Selbstbestimmung zu unterscheiden. Nach internationalem Recht haben die besetzten Völker das Recht, sich einer Besatzung zu widersetzen. Dieser Widerstand kann verschiedene Formen annehmen, von gewaltlosen Protesten bis hin zu bewaffneten Kämpfen, und entwickelt sich oft aus der Verzweiflung angesichts der anhaltenden Unterdrückung. Auch wenn einige Aktionen Zivilisten Schaden zufügen können, ist die Gewalt doch in der Besatzung selbst begründet, welche kollektive Bestrafung, Vertreibung und die systematische Verweigerung der Rechte der Palästinenser:innen beinhaltet. Als Palästinenserin und Friedensaktivistin bei Combatants for Peace glaube ich jedoch an den gewaltfreien Widerstand gegen die Besatzung als den Weg, mit dem eine langfristige und nachhaltige Lösung erreicht werden kann. Gewalt erzeugt Gewalt und Rache schürt Rache.
Nach internationalem Recht sind koloniale Siedlungen im Westjordanland illegal und israelische Siedler gelten als „Kriegsverbrecher“. Doch im Laufe der Jahre hat ein Teil der israelischen Gesellschaft begonnen, einige Siedlungen als „moderate Kolonien“ zu definieren. Kann man Ihrer Meinung nach diesen Ausdruck verwenden? Gibt es „moderate Siedler“? Kann es als moderat angesehen werden, dass sie die Unterdrückung dulden?
Der Begriff „moderate Kolonien“ ist zutiefst problematisch, insbesondere wenn er verwendet wird, um illegale israelische Siedlungen im Westjordanland zu beschreiben. Nach internationalem Recht, insbesondere nach der Vierten Genfer Konvention, ist die Errichtung von Siedlungen durch eine Besatzungsmacht in den von ihr besetzten Gebieten illegal. Dazu gehört auch das Westjordanland, das als unter Besatzung stehendes palästinensisches Gebiet gilt. Der Begriff „moderate Kolonien“ versucht, die rechtlichen und moralischen Implikationen dieser Siedlungen zu verschleiern und ignoriert die Tatsache, dass sie Teil eines umfassenderen Systems von Besatzung, Vertreibung und Enteignung sind. Die Idee der „moderaten Siedler“ beinhaltet aber im Wesentlichen auch, dass wenn sich einige Individuen in der israelischen Gesellschaft auch als „friedlicher“ oder weniger ideologisch extrem darstellen als andere, sie immer noch in Siedlungen leben, die auf Land gebaut wurden, das den Palästinenser:innen gehört, und ihre Anwesenheit in diesen Gebieten trägt zur fortdauernden Besatzung und deren unterdrückerischen Strukturen bei. Auch wenn einige Siedler nicht direkt Gewalt ausüben, profitieren sie dennoch von einem illegalen System, das die Palästinenser:innen ihres Landes, ihrer Ressourcen und ihrer Rechte beraubt.
Es gibt eine Argumentationslinie, dass Israel als Staat auf der Grundlage der Grenze anerkannt werden sollte, die durch die „Grüne Linie von 1967“, in Verbindung mit der UN-Resolution 181, festgelegt wurde. Diese Resolution sah jedoch keine Teilung vor und nicht einmal eine Vereinbarung über eben diese Grenzen, da Israel zu der Zeit rechtlich nicht existierte. Wie stehen Sie als „Kämpferin für den Frieden“ zur Grünen Linie?
Die Grüne Linie ist keine international anerkannte Grenze für Israel. Es diente als praktischer Bezugspunkt in den Diskussionen rund um den israelisch-palästinensischen Konflikt. Als Kämpfer:innen für den Frieden befürworten wir jedoch eine Zwei-Staaten-Lösung (in der Grenze von 1967) oder jede andere Lösung, auf die sich beide Parteien einigen.
Glaubst du, dass es zum jetzigen Zeitpunkt, in der ein Völkermord stattfindet, auch wichtig ist, an der BDS-Kampagne teilzunehmen, zusätzlich also am Boykott von kolonialen Produkten?
Die BDS-Bewegung ist eine gewaltfreie und weltweite Initiative, um Israel für seine Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen, insbesondere in Bezug auf seine Behandlung der unter Besatzung stehenden Palästinenser:innen, auf seinen Ausbau illegaler Siedlungen und die systemische Diskriminierung und auf die Verstöße gegen das Völkerrecht. Als Friedensaktivistin, die für Gewaltfreiheit eintritt, ist diese Kampagne als gewaltfreies Mittel des Widerstands legitim. Es ist wichtig zu beachten, dass der Boykott nicht darauf abzielt, einzelne Israelis oder Juden ins Visier zu nehmen, sondern vielmehr die Politik des israelischen Staates in Frage zu stellen, welche die Besatzung aufrechterhält und die Rechte der Palästinenser:innen verletzt.
Glauben Sie, dass pro-palästinensische Demonstrationen wichtige friedliche und demokratische Stimmen sind, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Menschenrechte des palästinensischen Volkes systematisch verletzt werden?
Gewaltfreie Demonstrationen im Allgemeinen sind unglaublich wichtig, da sie friedliche und demokratische Stimmen sind, die dazu beitragen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Menschenrechte des palästinensischen Volkes systematisch verletzt werden. Diese Demonstrationen spielen eine entscheidende Rolle, um auf die anhaltende Besatzung, die Vertreibungen und die Verweigerung grundlegender Rechte aufmerksam zu machen, mit denen die Palästinenser:innen konfrontiert sind. Sie bieten eine Plattform, um Solidarität mit dem palästinensischen Volk auszudrücken, seinen Stimmen Gehör zu verschaffen und internationale Rechenschaftspflicht zu fordern. Aber gleichzeitig zielen pro-palästinensische oder pro-israelische Demonstrationen manchmal darauf ab, „den anderen“ zu entmenschlichen, und unterstützen keine Lösung, die garantiert, dass beide Seiten in Freiheit und Sicherheit leben. Es ist wichtig, dass die Demonstranten die Tatsache anerkennen, dass die Palästinenser:innen nirgendwo anders hingehen und die Israelis auch nirgendwo anders hingehen. Wir müssen uns für die Menschenrechte einsetzen, in denen jeder vom Fluss bis zum Meer in Würde, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit lebt, dort, wo wir alle unsere Heimat liegen sehen.
Im Jahr 2003 wurde das „Weißbuch“ von Muammar Gaddafi auf einer staatlichen libyschen Plattform veröffentlicht, das in 15 Sprachen übersetzt wurde und Lösungen und Vorschläge für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Grundlage der Schaffung eines einzigen Staates namens „Israel“ vorschlug. Wie stellen Sie sich eine demokratische und friedliche Zukunft für das israelische und das palästinensische Volk vor? Welche politische Lösung wäre heute die beste?
Eine demokratische und friedliche Zukunft sowohl für Israelis als auch für Palästinenser:innen erfordert eine Lösung, die Gerechtigkeit, Gleichheit und gegenseitige Achtung der Rechte und der Bestrebungen beider Völker wahrt. Auch wenn die Idee einer Ein-Staaten-Lösung eine Form von Koexistenz beinhaltet, ist ein derartiger Lösungsansatz möglicherweise schwierig und umstritten, insbesondere angesichts des tiefsitzenden historischen Grolls, der aktuellen politischen Realitäten und der anhaltenden Gewalt. Die ideale politische Lösung sollte sich heute darauf konzentrieren, die Besatzung zu beenden, die volle Gleichheit für beide Völker zu gewährleisten und ihre jeweiligen Rechte auf Selbstbestimmung anzuerkennen.
Meiner Ansicht nach bleibt die tragfähigste und gerechteste politische Lösung eine Zwei-Staaten-Lösung auf der Grundlage der Grenzen von vor 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästinas. Diese Lösung würde bedeuten, dass Israel und Palästina als zwei souveräne Staaten existieren, die Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben, mit anerkannten Grenzen, die den Schutz der Rechte beider Völker gewährleisten. Völkerrechtlich ist die Zwei-Staaten-Lösung nach wie vor weitgehend unterstützt und ist immer noch der Rahmen, der am ehesten zu Frieden führen wird, auch wenn ihre Verwirklichung aufgrund des fortgesetzten israelischen Siedlungsausbaus, der militärischen Besatzung und der Spaltung in der palästinensischen Führung auf erhebliche Hindernisse stößt.
Als Combatants for Peace setzen wir uns für eine Zwei-Staaten-Lösung oder jede andere Lösung ein, auf die sich beide Parteien einigen. Diese Lösung muss nicht Spaltung bedeuten, sondern sollte Partnerschaft ermöglichen. Es wird den Israelis Sicherheit garantieren und ihnen ein Leben ohne Angst vor Gewalt ermöglichen, und es wird den Palästinenser:innen ihr Recht auf Staatlichkeit und Freiheit garantieren.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrich Karthaus vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!