Sprache spielt eine wichtige Rolle beim Verständnis des Konzepts der Zahlen.

 Von Marjorie Hecht

Rechnen bzw. Numerosität, oder die Fähigkeit, über Zahlen nachzudenken und mit ihnen umzugehen, unterscheidet sich zwischen menschlichen Kulturen und innerhalb von Bevölkerungen genau so wie die Intelligenz.

Viele bekannte Sprachen haben zum Beispiel kein Wort für Zahlen größer als 2 oder 3. Nach der Einschätzung eines Sprachwissenschaftlers, der 2015 eine Datenbank der Weltsprachen anlegte, enden in 1093 der 6880 Sprachen, für die veröffentlichte Daten zu Zahlwörtern vorliegen, die Zahlensysteme bei 2 oder 3.

Im Vergleich zu diesen weniger entwickelten Zahlensystemen trifft heutzutage der durchschnittliche Mensch in einer technologisch komplexen Gesellschaft im Alltag auf etwa 1000 Zahlen pro Stunde, laut einer Einschätzung des Kognitionswissenschaftlers Brian Butterworth, eines emeritierten Professors an der University College London.

Auf einer einfachen Ebene lesen wir die Uhr, führen einen Kalender, lernen Adressen und Telefonnummer auswendig und auf einer komplexeren Ebene berechnen wir Zinssätze und Aktienbewertungen, den prozentualen Anteil der Wahlbeteiligung, Temperaturen und Niederschlagsmengen, die Flugbahn von Raketen sowie astronomische Verhältnisse.

Kulturen mit eingeschränkten rechnerischen Fähigkeiten

 Wie sieht eine Kultur mit einem eingeschränkten Zahlensystem aus? Frühe Berichte hierüber stammen von Forschungsreisenden im 16. Jahrhundert, die ihre Begegnung mit Stämmen von Jägern und Sammlern beschrieben, wie zum Beispiel den Taino und Tupinambá auf dem amerikanischen Kontinent. Anthropolog:innen beschrieben später weitere Hunderte von Gesellschaften, die nur die Zahlen bis 2 oder 3 nutzten.

Heute sind die Pirahã in Brasilien der „einzige bekannte Stamm bzw. Volk, dessen Sprache und Kultur sich anscheinend nicht weiter über eine analoge Vorstellung von Größenordnungen hinaus entwickelt hat, ähnlich zur Vorstellung von höheren Tieren“, so ein Mathematiker in seiner Übersicht 2023 der Ursprünge der vorgeschichtlichen Mathematik. Als Grund hierfür wird angenommen, dass die Pirahã in ihrer Kultur „den Wert einer zukunftsorientierten Planung ablehnen und mit einer nicht-materialistischen Weltanschauung leben“.

Der Anthropologe Caleb Everett, der als Sohn von Missionaren seine Jugend mit den Pirahã verbrachte, beschreibt den Stamm als „kognitiv normal und gut angepasst“ an deren Umgebung, mit einer „ausgezeichneten Kenntnis“ über die örtliche Flussökologie.

Die etwa 700 Pirahã wohnen in sehr kleinen Dörfern entlang des Maici-Flusses, eines kleinen Nebenflusses des Amazonas. Sie leben zum Teil nomadisch und begegnen daher regelmäßig Menschen außerhalb ihrer Gesellschaft. Eine umfangreiche Studie aus dem Jahr 2011 zu den rechnerischen Fähigkeiten der Pirahã beschrieb Experimente in zwei Pirahã-Dörfern. Diese untersuchten die Fähigkeit von Stammmitgliedern, Gruppen von mehr als 3 Gegenständen einander zuzuordnen, sodass sich die Stückzahlen genau entsprach, da das Pirahã-Zahlensystem bei 3 aufhört. Die Aufgabe bestand darin, eine Anzahl leerer Gummiballons auszuwählen, die 3 hingelegten Garnrollen in verschiedenen Anordnungen entsprechen würde.

Everett und seine Mitautorin Keren Madora sahen vorherige Forschungsarbeiten über das Rechnen der Pirahã durch. Diese zeigten widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Fähigkeit der Pirahã zur Identifikation einer genauen Entsprechung für Mengen größer als 3. Der Grund hierfür, laut Everett und Madora, sind die fehlenden Zahlwörter der Pirahã für Ganzzahlen größer als 3. Ihre Schlussfolgerung beruhte auf Untersuchungen vor Ort, die Madora mit den Pirahã durchgeführt hatte.

Madora, die schon 30 Jahre die Sprache der Pirahã spricht, verbrachte mehrere Monate in einem Dorf und brachte ihnen auf Wunsch der Pirahã grundlegendes Rechnen bei. Hierfür erfand sie auf Basis des bestehenden Wortes für „Hand“ neue Wörter für die Zahlen 4 bis 10. Nach der Eingewöhnung in die neuen Zahlwörter zeigte sich, laut der Übersicht der Forschungsergebnisse, „eine verbesserte Leistung bei der Durchführung der Mengenvergleichsaufgabe“.

Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass das exakte Erkennenn von Größen größer als 3 „auf einem kulturell konstruierten konzeptionellen Werkzeug beruht, nämlich einer präzisen Zahlenterminologie, die nicht für alle menschlichen Gesellschaften in gleicher Weise gültig ist“.

Das Gehirn und Zahlen

Dass Erwachsene in einer Gesellschaft mit einem eingeschränkten Zahlensystem nach einer Einführung in neue Wörter für größere Zahlen fehlerfrei mit Zahlen größer als 3 arbeiten können, deutet auf die wichtige Rolle von Sprache bei Zahlen sowie die innewohnende Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Gehirns hin.

Eventuell besteht eine grundsätzliche Fähigkeit zum Rechnen, egal ob diese in den jeweiligen menschlichen Kulturen entwickelt ist oder nicht. Untersuchungen des Gehirns und des Rechnens könnten Beweise einer universellen rechnerischen Fähigkeit vorlegen, auch wenn eine Sprache für Zahlen nicht vorhanden ist.

Fortgeschrittene bildgebende Technologien, darunter Magnetresonanztomographie (MRT) und andere neurologische bildgebende Ansätze, können uns heute bei der Einschätzung der rechnerischen Fähigkeit helfen, indem sie Gebiete der Hirnrinde sowie neuronale Netzwerke identifizieren, die mit gewissen mathematischen Kompetenzen verknüpft sind.

Eine Forschungsübersicht vom Jahr 2023 über die neuronalen Grundlagen von mathematischen Fähigkeiten schlug vor, dass ein „verteiltes und ineinandergreifendes Netzwerk verschiedener Gehirnregionen, hauptsächlich gebündelt in den Frontal- und Parietallappen“ für komplexe mathematische Fähigkeiten ausschlaggebend ist. Das frontoparietale Netzwerk des Gehirns koordiniert vorrangig zielorientierte Aufgaben.

Der Artikel identifizierte bei Jugendlichen mit besseren mathematischen Kompetenzen die wichtige Rolle, die das Volumens der grauen Substanz im frontoparietalen Bereich spielt, neben einer Verdünnung der Hirnrinde sowie einer größeren Fläche des frontoparietalen Netzwerks. Die Autor:innen betonten, dass aufgrund der „Plastizität der Gehirnrinde (Neuroplastizität)“ in der Kindheit, die mathematische Ausbildung vor allem in dieser Lebensphase wichtig ist.

Obwohl die Anzahl der Studien zu den Auswirkungen von kurzzeitiger mathematischer Ausbildung bei Kindern „gering“ sei, so die Autor:innen, belegen die vorhandenen Studien verbesserte „neurale Prozesse und Funktion“ durch eine geeignete Ausbildung. Sie zitierten ebenso eine Studie, die „zeigte, dass Gymnastik zu einer Ausdünnung der Gehirnrinde und somit einer Verbesserung des mathematischen Lernens bei Kindern führte“.

Generell zeigen Studien, dass mathematische Übungen zu einer Verbesserung der neuralen Effizienz in Mathematik beitragen und über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer Automatisierung gewisser mathematischen Aufgaben führen. Mathematische Kompetenzen wurden erwartungsgemäß mit allgemeiner Intelligenz, sowie Lesekompetenz und kognitiver Fähigkeit verknüpft.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass es noch weiterer Studien bedarf, die die genauen neuralen Verbindungen bei mathematischen Kompetenzen untersuchen. Außerdem betonten die Autor:innen, dass die Ergebnisse der aktuellen Studien keine „Kausalzusammenhänge“ zwischen Gehirnstruktur und mathematischen Kompetenzen aufzeigen können, sondern Wechselbeziehungen deutlich machen..

Was sind Zahlen und welche Arten können zählen?

Eine anhaltende Debatte in der Forschung zum Rechnen befasst sich damit, ob der Zahlensinn der Sprache in der geschichtlichen Entwicklung vorausgeht oder umgekehrt. Eine weitere kontrovers diskutierte Frage besteht darin, ob Rechnen die Grundlage für abstraktes Denken darstellt.

Homo sapiens ist wohl die einzige Art, die über symbolisches Denken verfügt, jedoch zeigt die Forschung, dass viele Tierarten zählen können und dass ihre neuralen Mechanismen eventuell denen von Menschen ähneln. Einem Spezialisten in Psychologie und Sprachwissenschaft zufolge „neigen Tiere zur Mathematik, allerdings nur bis zu einem bestimmten Grad.“ Dieser Forscher gab als Beispiel an, dass Affen sich an Zahlenreihen erinnern, sie miteinander vergleichen (ähnlich, wie es Kleinkindern möglich ist,) und sie die Bedeutung von arabischen Ziffern lernen können.

Der Vergleich von Zahlen ist für das Überleben von Tieren wichtig. „Jedes Lebewesen hat bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen, wenn es einen Baum mit 10 Früchten von einem mit nur 6 Früchten, oder zwei von drei Raubtieren am Horizont, unterscheiden kann“, merkte der Forscher an.

Nicht nur Primaten können Zahlen vergleichen: Studien belegen, dass andere Säugetiere (darunter Hunde, Katzen, Nagetiere und Delfine) sowie einige Fisch-, Vogel-, Reptilien- und Amphibienarten in unterschiedlichen Maßen Zahlen auseinanderhalten können. Ein 2021 erschienener, tiefergehender neurowissenschaftlicher Übersichtsartikel darüber, „wie die Evolution unterschiedliche Tiergehirne zur Verarbeitung numerischer Information gestaltete“, weist auf das derzeit schon Bekannte und die noch benötigte Forschung in diesem Bereich hin.

Von eingeschränkten rechnerischen Fähigkeiten bis hin zur Differenzial- und Integralrechnung

Es ist immer noch eine faszinierende Frage, wie Homo sapiens sich von elementaren rechnerischen Fähigkeiten zur Anwendung der Differenzial- und Integralrechnung entwickelte.

Begann das Rechnen mit unseren Händen und Füßen, wie unter anderem einige Sprachwissentschaftler:innen und Anthropolog:innen nahelegen? Mehrheitlich beruhen die Zahlensysteme der Welt auf Vielfachen der Basis 5, 10 oder 20 – entsprechend der Anzahl der Finger an einer Hand, an zwei Händen, sowie der Zehen an beiden Füßen. Das Wort „fünf“ leitet sich in vielen Sprachen vom Wort für „Hand“ ab, schrieb Everett.

Anderen zufolge ist das Rechnen von Natur aus abstrakt. Der Philologe Miguel Valério und die Philologin Silvia Ferrara der Universität Bologna schrieben 2020, „linguistische Erkenntnise belegen keine Evolution der Zahlen vom Konkreten hin zum Abstrakten. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Zahlen ursprünglich als mit gezählten Gegenständen zusammenhängend aufgefasst worden sind“.

Der Autor und die Autorin analysierten die frühe Entwicklung der Sprache und des Rechnens in Mesopotamien sowie in weiteren antiken Kulturen, in denen eine Schrift sich möglicherweise eigenständig entwickelt hat, und kamen zur Schlussfolgerung, dass Zahlen „immer abstrakt“ waren.

Das gleichzeitige Auftreten der Zahlen und der Schrift „beruht auf der Entwicklung einer Zahlenschreibweise, der ein potenzbasiertes System zugrunde liegt“, so die Forschenden. Anders gesagt entstand ein System der Zahlenschreibweise auf der Grundlage von Basiszahlen und deren Potenzen, welches gleichzeitig mit dem Anfang des Schreibens in Mesopotamien auftrat.

Weitere Belege, die das Argument unterstützen, das Rechnen etwas Abstraktes ist, stammen aus Experimenten mit Neugeborenen. Eine internationale Forschungsgruppe zeigte in einem 2008 erschienenen Artikel, dass Neugeborene „stationäre, visuell-räumliche Anordnungen von 4 bis 18 Gegenständen mit auditiven Abläufen instinktiv und auf der Grundlage von Zahlen verknüpfen“. Anders gesagt erkennen und vergleichen die Säuglinge Zahlen, wenn sie sie hören.

Im Experiment wurden die Säuglinge mit einer gewissen Abfolge von Geräuschen oder Bildern vertraut gemacht und anschließend wurde die Dauer ihrer Blicke auf zusammenpassende oder nicht zusammenpassende Bilder gemessen. Die Säuglinge schauten länger auf die zusammenpassenden Geräusch-Bild-Paare.

Die Forschungsgruppe kam zu dem Schluss, dass „ihr Verhalten Beweise für abstraktes numerisches Vorstellungsvermögen bereits unmittelbar nach der Geburt liefert“.

Ein offener Forschungsbereich

Bei der Erforschung der rechnerischen Fähigkeiten von Menschen und Tieren gibt es zusätzlich zu den hier dargestellten noch weitere faszinierende Fragen. Zum Beispiel: Führte das Rechnen zur neurologischen Grundlage des abstrakten und symbolischen Denkens? Oder welche Rolle spielten Pflanzen in der menschlichen Entwicklung der Mathematik?

Zusammenfassend ist einige Forschung zu diesem Thema ganz praktisch: Sie lässt sich unmittelbar auf Unterstützung für Kinder und Erwachsene mit Lernschwierigkeiten in Mathematik anwenden, damit weniger Menschen sagen können, „Ich bin nicht gut in Mathe“.


Marjorie Hecht ist eine langjährige Redakteurin und Autorin von Zeitschriften mit einem Spezialgebiet für wissenschaftliche Themen. Sie ist eine freiberufliche Autorin, die auf Cape Cod lebt.

Der Originalartikel kann hier besucht werden