Martina Frei für die Online-Zeitung INFOsperber
Im August 2024 rückte eine Putzequipe in einer zugemüllten Wohnung in Kyoto an. Beim Reinigen des Bodens entdeckte sie, von Decken bedeckt, ein Skelett. Zuerst hielt die Putzequipe es für ein Modell zu medizinischen Zwecken. Dann stellte sich heraus: Es war die frühere Bewohnerin. Die Familie hatte sie rund zehn Jahre zuvor als vermisst gemeldet.
Diese schauerliche Entdeckung steht exemplarisch für ein immer grösser werdendes Problem in Japan: «Kodokushi», der einsame Tod.
«In Japan, einer sozialen Gesellschaft, gilt der einsame Tod als eine der schlimmsten Arten zu sterben. Die Art und Weise, wie die Medien über Kodokushi berichten, zeigt die Angst und Furcht, die mit dem einsamen Tod in Japan verbunden sind. Er wird als soziale Epidemie angesehen», sagt Chikako Ozawa-de Silva, Professorin für Anthropologie an der Emory University in Atlanta, gegenüber «The Lancet». Die Fachzeitschrift berichtete Ende November über das einsame Sterben in Japan.
Länger als ein Jahr tot in der Wohnung gelegen
Anlass dafür war der erste nationale Bericht über «Kodokushi», der das Ausmass ungefähr beziffert: Im ersten Halbjahr 2024 wurden in Japan 37’227 allein lebende Personen tot in ihren Wohnungen aufgefunden. 130 davon lagen dort schon länger als ein Jahr, 4000 wurden erst über einen Monat nach ihrem Ableben gefunden, 40 Prozent fand man innerhalb eines Tages.
Angesichts von über 1,5 Millionen Verstorbenen pro Jahr in Japan machen die «Kodokushi»-Toten etwa 4,8 Prozent der Todesfälle aus – Tendenz steigend. Drei Viertel der einsam Verstorbenen waren über 65 Jahre alt.
Aufgrund der niedrigen Heirats- und Geburtenraten werde das Phänomen zunehmen, prophezeit Ozawa-de Silva. Jüngere würden das Heiratsalter hinausschieben oder auf Kinder verzichten, auch aus finanziellen Gründen, berichtete die «Japan Times». Wenn sie selbst alt sind, werden dann noch weniger Verwandte als jetzt da sein, die sich kümmern könnten.
Grosser Mangel an Pflegekräften
Bis 2050 ist schätzungsweise jeder fünfte Haushalt in Japan ein Ein-Senioren-Haushalt. 10,8 Millionen ältere Menschen werden dann allein leben.
Sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten habe die Einsamkeit insbesondere älterer Menschen zugenommen. Ihre Familien lebten oft weit entfernt. Der Mangel an Pflegekräften ist «The Lancet» zufolge «überwältigend». Auch wegen der zunehmenden Alterung der Gesellschaft würden dem Land im Jahr 2040 etwa 570’000 Pflegende fehlen, schätzte das japanische Sozialministerium.
Viele ältere, einsame Menschen zögerten überdies, Hilfe anzufordern, so «The Lancet». Denn dann würden die Angehörigen verständigt und die Pflegekosten für ihre alten Verwandten auf sie abgewälzt.
Forderung: «Verantwortungsvoll Altern»
Hinzu komme der zunehmende öffentliche Diskurs über das «verantwortungsvolle Altern», in dem die Menschen ermutigt würden, die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit, Pflege und sogar die Vorbereitungen auf das Lebensende zu übernehmen, anstatt eine Last für ihre Familie oder den Staat zu hinterlassen. «Das ist ein enormer sozialer Druck», zitiert «The Lancet» die Assistenzprofessorin Jieun Kim von der University of Leeds.
Die japanischen Behörden bemühten sich zwar, etwas gegen den einsamen Tod zu unternehmen, zum Beispiel mit in der Wohnung installierten Überwachungssystemen oder freiwilligen Helfern, die alte Menschen daheim besuchen. Nicht immer sind diese Vorhaben jedoch wirklich erfolgreich: In der Stadt Yokohama beispielsweise setzten sich Helfer dafür ein, dass arbeitslose und obdachlose Menschen Unterschlupf in Zimmerchen fanden, die kleiner als fünf Quadratmeter waren. Dort waren sie einsam und isoliert. «Sie hatten ein Dach über dem Kopf, aber viele starben in diesen Einzelzimmern», sagt Kim. «Entdeckt wurden sie erst, nachdem sie gestorben waren.»