Dass ich dich, den hier Lesenden / die hier Lesende, nicht umbringen würde – selbst dann nicht, wenn du mir völlig unsympathisch wärst, wenn ich dich hassen würde, allein mit dir wäre und meine Entdeckung ausgeschlossen scheint –, steht für mich außer Frage. Da die Furcht vor Strafe in diesem Fall entfiele, muss es also noch einen anderen Grund für meine Nachsicht geben.

Von Bobby Langer

Unsere Tötungshemmung ist ganz normal

Ich gehe davon aus, dass du dich im umgekehrten Fall ebenso verhalten würdest, wie das überhaupt so gut wie alle Menschen tun, Soziopathen vermutlich ausgenommen. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb die meisten Raubüberfälle weltweit nicht tödlich enden. Die Erwähnung des Soziopathen, den wir um den Psychopathen ergänzen sollten, bringt uns auf die Spur, nämlich zu folgender Hypothese: Unsere Tötungshemmung beruht auf unserer in aller Regel automatisch einsetzenden Fähigkeit, Schmerz und Leid des anderen nachzuvollziehen. Würden wir ihm oder ihr etwas antun, dann würde sich zumindest ein Teil unseres Handelns gegen unsere eigenen Empfindungen richten. Also lassen wir es lieber bleiben. Im Kopf bezeichnen wir das dann als „für unser Handeln Verantwortung übernehmen“. Selbst wenn wir das gar nicht tun, so klingt es doch wenigstens ethisch hochstehend.

Neutrale Spiegelneuronen

Sobald ich versuche, mir ein mir fremdes menschliches Handeln vorzustellen, versagt meine Empathiefähigkeit auf beunruhigende Weise. Wenn ich mich in das Hungergeschrei eines Säuglings einfühlen soll (dem ich vor allem deswegen Nahrung wünsche, um diesen nervigen Ton abzustellen) oder in die Gefühle einer stillenden Mutter, dann verhalten sich meine Spiegelneuronen verdammt neutral. Auch die Hungerschreie der überall auf der Welt verhungernden Kinder sind mir letztlich schnuppe, solange ich nicht ein sehr allgemeines Verantwortungsgefühl bemühe. Wozu aber sollte ich letzteres tun, da es doch nur negative Emotionen zur Folge hätte? Das ist wohl ein Grund, weshalb wir lieber Lebensmittel vernichten, anstatt sie jenen angedeihen zu lassen, die sie so dringend benötigen.

Ein ganz ordentliches Mitgefühl

Aber um diesen kleinen Hungerexkurs geht es mir gar nicht, sondern um die Vermutung, dass meine Empathiefähigkeit sich im Großen und Ganzen auf einen Menschen beschränkt. Gestern erfuhr ich von einem Autounfall auf Mallorca, bei dem ein Betrunkener in eine Gruppe Jugendlicher gefahren war und fünf von ihnen ums Leben kamen. Natürlich verfüge ich – wie du als Leserin auch – über das Standard-Repertoire von Entsetzensbekundungen à la „Das ist ja schrecklich“ oder „Die armen Kinder“! usw. und so fort. Damit ist normalerweise meinem Gruppenverhalten äußerlich Genüge getan. Nur: Was geschieht in mir selbst? Nachdem ich mir die Szene in Gedanken ausgemalt habe – was innerhalb einer Sekunde geschieht –, suche ich mir eine Person dieser Gruppe heraus (dies alles, ohne darüber auch nur einen Augenblick nachzudenken) und stelle mir seine oder ihre Schmerzen vor, sein oder ihr Blut etc. So gelingt mir dann – quasi pars pro toto – ein ganz ordentliches Mitgefühl.

Ein kurzer, moralischer Schauder

Wie aber ergeht es mir mit noch größeren Gruppen, etwa 10.000 Notleidenden in einem Flüchtlingslager (im Lager Kutupalong in Bangladesch kämpfen zurzeit ca. 600.000 Menschen um ihr Leben)? Angesichts solcher Not ist meine Empathie restlos überfordert. Außer einem „Das ist ja schrecklich!“ regt sich in mir nichts mehr, und sollte ich zufällig vom Lager Kutupalong erfahren – denn auch die Medienberichte darüber halten sich in engsten Grenzen –, dann greife ich, eventuell nach einem kurzen moralischen Schauder, schnell nach der Chipstüte oder zum Pilsglas. Und sollte mich ein Spendenappell erreichen, dann landet er auf der linken Waagschale meiner inneren Handlungswaage. Die rechte beschwert sich mit meiner Ratenzahlung für den SUV oder, viel banaler, mit meinem aktuellen, miesen Kontostand. Und bei uns allen wiegt die rechte Waagschale meistens schwerer; dies umso zuverlässiger, als jene Flüchtlinge ja keine Deutschen, ja nicht einmal Europäer sind.

Den guten Schuss feiern

Schon an dieser Stelle ist die Ernüchterung über unser ethisch hochstehendes Verantwortungsgefühl am Nullpunkt angelangt. Aber eines geht noch, nämlich das Verantwortungsgefühl des Soldaten. Er befindet sich von Anfang an in der glänzenden Situation, offiziell nichts verantworten zu müssen. Befehl ist Befehl. Das aber war schon im Dreißigjährigen Krieg nicht anders. Der moderne Soldat genießt ungleich größere Gewissensentlastungen: Zum einen tötet er ja nicht, Mann gegen Mann, einen Gegner, sondern immer gleich ganze Menschengruppen, ist also von vorneherein so empathieunfähig, dass er etwa das gelingende Abfackeln einer feindlichen Wohnanlage als hundertprozentigen Erfolg feiern und mit seinen Kumpanen auf den „guten Schuss“ trinken kann. Angesichts solcher Heiterkeit ist der Bomberpilot geradezu zu bemitleiden, da ihm für jeden präzisen Abwurf zum Feiern nur sein Copilot zur Verfügung steht.

Keine Tötungshemmung

Die These, dass die mitmenschliche Verantwortung mit dem quantitativen Tötungserfolg exponentiell sinkt, scheint mir naheliegend. Und da nun einmal der Soldat stellvertretend für seine Nation steht, wäre auch diese theoretisch in einer Verantwortungspflicht. Praktisch ist sie es natürlich nicht, denn einerseits steht die Nation dem Geschehen noch ferner als der Soldat und andererseits ist die Zahl der Ermordeten völlig unüberschaubar. Mitgefühl ist da außen vor, und Verantwortung ebenfalls. Das gilt für das Verantwortungsgefühl des Bauarbeiters ebenso wie für das des Hochschullehrers oder Verteidigungsministers. Menschliche Überlegungen stehen ihnen (und uns) in so einem Fall nur auf einer hypothetischen Ebene zur Verfügung; das Herz bleibt kalt. Rein praktisch sind uns deshalb nicht nur die zerfetzten Feinde, sondern auch das getötete eigene Menschenmaterial emotional egal. Zu einer Tötungshemmung kommt es nicht einmal ansatzweise. Deshalb kann es uns – wie auch dem Verteidigungsminister – gleichgültig sein, wenn es im schlimmsten Fall zu einem Atomkrieg kommen sollte. Dessen Ausmaß und Vernichtungskraft übersteigt unsere Vorstellungskraft so sehr, dass wir mit ihm umgehen, als handele es sich dabei um eine ganz normale Gefahr – etwa die, bei Glatteis zu stürzen. Vor letzterem haben wir im Zweifelsfall sogar mehr Angst als vor einem Atomkrieg.