NATO-Generalsekretär hält Krieg zwischen dem westlichen Militärbündnis und Russland in vier bis fünf Jahren für möglich und fordert massive Aufrüstung. Berlin legt Industriestrategie dafür vor, verlangt weltweite Einsatzfähigkeit.

(Eigener Bericht) – NATO-Generalsekretär Mark Rutte fordert von den NATO-Staaten Europas einen Schwenk hin zu einer „Kriegsmentalität“. Demnach hält das Militärbündnis es für möglich, dass es in „vier bis fünf Jahren“ im Krieg mit Russland steht. Schon heute lebe man „sicherlich“ nicht mehr „im Frieden“, erklärte Rutte vergangene Woche auf einer Veranstaltung, die von der PR-Stelle der NATO mitorganisiert wurde und zum Ziel hatte, Multiplikatoren – darunter Journalisten – für die Verbreitung der „Botschaft“ der NATO einzuspannen. Dabei geht es darum, die Bevölkerung auf Kürzungen bei Renten sowie Gesundheits- und Sozialsystemen einzustimmen, um die Rüstungsetats auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung aufzustocken, die Hälfte mehr als die aktuellen zwei Prozent. Rutte stützte sich dabei auf die Behauptung, Russland könne die NATO in Sachen Rüstung abhängen – eine Behauptung, die längst widerlegt ist. Zugleich hat die Bundesregierung eine Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie vorgelegt, die die deutsche Aufrüstung vorantreiben soll. Vorgesehen ist keine Beschränkung auf Landesverteidigung, sondern Einsatzfähigkeit „in allen … klimatischen Bedingungen“, also weltweit.

Vorrang für die Rüstung

NATO-Generalsekretär Mark Rutte hat in der vergangenen Woche zum wiederholten Mal eine massive Aufstockung der Rüstungshaushalte in den europäischen NATO-Staaten und in Kanada gefordert. Russland und China weiteten ihre Waffenarsenale aus, erklärte Rutte; die NATO riskiere, in Rückstand zu geraten. Das sei „sehr gefährlich“, denn was gegenwärtig in der Ukraine geschehe, könne „auch hier geschehen“: „Die Gefahr bewegt sich mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zu.“ Der NATO-Generalsekretär nannte in diesem Kontext einen Zeitraum von „vier bis fünf Jahren“.[1] Die NATO befinde sich zwar noch „nicht im Krieg“, aber „sicherlich“ auch nicht mehr „im Frieden“. „Verteidigung muss Vorrang erhalten“, verlangte Rutte. Die Rüstungsindustrie in Europa sei „in Jahrzehnten zu niedriger Investitionen“ und kleinlicher nationaler Interessen „ausgehöhlt“ worden; sie sei heute „zu klein, zu fragmentiert und zu langsam“. Das müsse sich ändern. Dazu seien mindestens drei Prozent der Wirtschaftsleistung erforderlich. Während des Kalten Kriegs hätten die NATO-Staaten Europas „weit über drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung“ ausgegeben, erinnerte Rutte: „Mit dieser Mentalität haben wir den Kalten Krieg gewonnen.“

Renten und Gesundheit kürzen

Rutte tätigte seine Äußerungen im Rahmen einer Veranstaltung, die von der Außenstelle der US-Denkfabrik Carnegie Endowment in Europa in Zusammenarbeit mit der PR-Stelle der NATO (NATO Public Diplomacy Division) organisiert wurde.[2] Sie richtete sich explizit an Bürger der NATO-Staaten Europas und Kanadas, die online zuschauen und Fragen stellen konnten. Vor Ort nahmen etwa Mitarbeiter der EU-Kommission sowie des Europaparlaments, Experten aus europäischen Think-Tanks sowie Journalisten teil. Rutte erklärte, „viele“ der Anwesenden seien „in Positionen“ tätig, in denen sie „eine große Anzahl an Menschen erreichen“ könnten; er bat darum, die Aussagen, die auf der Veranstaltung getroffen worden seien, „zu verstärken“: „Verbreitet die Botschaft! Helft mir, die eine Milliarde Menschen zu erreichen!“[3] Die NATO-Staaten haben zusammengenommen eine Bevölkerung von fast einer Milliarde. Zu der „Botschaft“, die Rutte vermitteln will, gehört die Forderung, künftig bei den Ausgaben für Renten, Gesundheit und Sozialsysteme Kürzungen vorzunehmen; dafür gäben die Staaten Europas „bis zu einem Viertel“ ihrer gesamten Wirtschaftsleistung aus – aus NATO-Sicht zu viel. Rutte äußerte wörtlich: „Es ist Zeit, zu einer Kriegsmentalität umzuschwenken.“

„Sie irren sich“

Während Rutte suggerierte, die NATO könne in Sachen Rüstung in Rückstand gegenüber Russland geraten, ist in Wirklichkeit genau das Gegenteil der Fall. Erst kürzlich kam eine von Greenpeace publizierte Analyse zu dem Resultat, die NATO-Staaten gäben schon heute „etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland“ – nämlich 1,19 Billionen US-Dollar im Vergleich zu 127 Milliarden US-Dollar.[4] Selbst wenn man die USA ausklammere und die Differenzen in der Kaufkraft berücksichtige, gäben die NATO-Staaten Europas und Kanada derzeit rund die Hälfte mehr für ihre Streitkräfte aus als Russland – 430 Milliarden US-Dollar gegenüber 300 Milliarden US-Dollar. Die NATO verfüge über drei Millionen Soldaten, Russland über 1,33 Millionen; das westliche Militärbündnis habe mindestens das Dreifache der russischen Großwaffensysteme in seinen Beständen. „An der allgemeinen militärischen Überlegenheit der NATO“ könne es bereits heute „keinen Zweifel“ geben, stellt Greenpeace fest und schlägt deshalb vor, „die bestehende konventionelle Überlegenheit der Nato“ zu nutzen, um Rüstungskontrolle und Abrüstung zu forcieren.[5] Rutte warnte sein Publikum auf der Carnegie-PR-Veranstaltung, „manche Leute“ hielten Aufrüstung nicht für „den Weg zum Frieden“, und setzte dem die schlichte Behauptung entgegen: „Sie irren sich.“[6]

„Schnellstmöglich wehrhaft werden“

Die Bundesregierung treibt eine massive Aufrüstung, wie Rutte sie fordert, schon längst aus eigenem Antrieb voran [7] und hat, um sie weiter zu verstärken, zu Monatsbeginn eigens eine Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie beschlossen. In dem Papier heißt es, Deutschland müsse „schnellstmöglich wehrhaft werden“; dazu müsse „der rasant gestiegene Bedarf an militärischen Gütern, Dienstleistungen und Innovationen“ so rasch wie möglich gedeckt werden. Um dies zu gewährleisten, habe die Bundesregierung jetzt die neue, in Kooperation mit der deutschen Rüstungsindustrie erstellte Strategie vorgelegt.[8] Dabei setzt Berlin einerseits auf eine enge rüstungsindustrielle Kooperation innerhalb Europas; „nur im Zusammenschluss mit unseren europäischen Partnern“ könne man die gewünschten Kapazitäten aufbauen, heißt es. Dies sei aber nur „in geeigneten Fällen“ und bei Beteiligung deutscher Unternehmen „auf Augenhöhe“ angebracht, heißt es weiter – denn andererseits sei es „zur Aufrechterhaltung und Stärkung der strategischen Souveränität sowie [der] Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland“ erforderlich, „gewisse sicherheits- und verteidigungsindustrielle Kernfähigkeiten und Kapazitäten … national vorzuhalten“. Dies sichert zugleich die rüstungsindustrielle Führung Deutschlands in der EU.

Abschied von der Zivilklausel

Konkret schlägt die Bundesregierung eine ganze Reihe an Maßnahmen vor. So soll etwa eine „engere[…] Verzahnung von ziviler sowie sicherheits- und verteidigungsbezogener Forschung und Entwicklung“ geprüft werden. Dazu sei auch „eine ergebnisoffene Diskussion über die Zivilklauseln“ erforderlich [9], die es seit geraumer Zeit an einigen Hochschulen gibt. Zudem sollen die geltenden Auflagen für den Bau und den Betrieb von Waffenschmieden reduziert werden; zugleich sollen für die Rüstungsfinanzierung verstärkt auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Europäische Investitionsbank herangezogen werden. Außerdem strebt Berlin Maßnahmen zur „Diversifizierung und Resilienz von Lieferketten“ an, um von gegnerischen Staaten – in der Praxis vor allem von China – unabhängig zu werden. Dies wird die Preise für Rüstungsprodukte weiter in die Höhe treiben. Kürzlich berichtete das Wall Street Journal, Bestrebungen einiger Start-ups aus der US-Rüstungsbranche, auf chinesische Rohstoffe und Bauteile vollständig zu verzichten, hätten gezeigt, dass dies zwar mit großem Aufwand möglich, aber teuer sei; die Ausgaben stiegen, so hieß es, in teils „sechs- bis zehnfache Höhe“.[10]

Überall einsatzfähig

Aufschlussreich ist, dass die Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie ausdrücklich festlegt, die „militärischen Fähigkeiten, Ausstattung und Ausrüstung“ für die deutschen Streitkräfte müssten „in allen Lagen, Dimensionen, geostrategischen Räumen und klimatischen Bedingungen einsetzbar und einsatzfähig sein“.[11] Dies straft die Behauptung, bei der Aufrüstung gehe es lediglich um die Landesverteidigung, Lügen. Zugleich bestätigt es, dass die Bundesregierung die anschwellenden Operationen der Bundeswehr in der Asien-Pazifik-Region [12] zu verstetigen gedenkt; dort und auf dem Weg dorthin bewegen sich deutsche Truppen tatsächlich in verschiedensten „klimatischen Bedingungen“ und „geostrategischen Räumen“. Dass die Bundeswehr auch überall „einsatzfähig“ sein soll, legt nahe, dass Berlin sich eine deutsche Kriegsbeteiligung in aller Welt, also auch in der Asien-Pazifik-Region, explizit offenhält.

 

[1] “To Prevent War, NATO Must Spend More”. nato.int 12.12.2024.

[2] “To Prevent War, NATO Must Spend More”: A Conversation With NATO Secretary General Mark Rutte. carnegieendowment.org 12.12.2024.

[3] “To Prevent War, NATO Must Spend More”. nato.int 12.12.2024.

[4], [5] Christopher Steinmetz, Herbert Wulf: Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands. Herausgegeben von Greenpeace. Hamburg, November 2024. S. dazu „Groß denken und groß machen”.

[6] “To Prevent War, NATO Must Spend More”. nato.int 12.12.2024.

[7] S. dazu Die Konzentration der europäischen Rüstungsindustrie und Die Welt der Kriege.

[8], [9] Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie. Berlin, 4. Dezember 2024.

[10] Heather Somerville: Defense-Tech Startups Need a New Supplier: Anyone but China. wsj.com 30.09.2024.

[11] Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie. Berlin, 4. Dezember 2024.

[12] S. dazu Kriegsübungen im Pazifik.

Der Originalartikel kann hier besucht werden