CDU/CSU-Fraktionssprecher dringt mit Blick auf das Wiederaufflammen des Krieges in Syrien auf Flüchtlingsabwehr. In Syrien drohen ein Zerfall der 2016 etablierten prekären Ordnung und das Erstarken von Jihadisten.

Mit Blick auf das Wiederaufflammen des Krieges in Syrien sorgen sich deutsche Politiker in ersten Stellungnahmen zu dem Geschehen vor allem um die Abwehr von Flüchtlingen. „Sollten sich Fluchtbewegungen … ergeben“, erklärt der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm, „so haben diese innerhalb sicherer Bereiche des Landes oder in Nachbarstaaten zu erfolgen“. Das Stichwort „Nachbarstaat“ bezieht sich auf die Türkei. Die Jihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) hat mittlerweile gemeinsam mit von Ankara finanzierten Kämpfern nicht nur die zweitgrößte Stadt Syriens, Aleppo, eingenommen; sie kontrolliert auch die Straße von dort nach Damaskus und marschierte gestern in Richtung auf Hama, Syriens drittgrößte Stadt. Die prekäre Ordnung, die seit Ende 2016 in dem nahöstlichen Land errichtet und von Russland und der Türkei gemeinsam garantiert wurde – und zwar unter Ausschluss des Westens –, steht damit in Frage. Möglich wurde die Offensive, weil israelische Angriffe – laut Berichten „ein, zwei Dutzend“ pro Tag – Einheiten der Hizbollah und proiranische Milizen in Syrien, die beim Kampf gegen die Jihadisten halfen, stark dezimiert haben.

Die Jihadistenoffensive

Die Jihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) und mit ihr kooperierende Kämpfer, die der von Ankara finanzierten Miliz Syrian National Army angehören, haben im Verlauf ihrer am Mittwoch gestarteten Offensive größere Gebiete erobern können. So drangen sie nach Aleppo ein, Syriens zweitgrößte Stadt nach Damaskus, in der etwa zwei Millionen Menschen leben; mittlerweile sollen sie, wie berichtet wird, weite Teile der Stadt kontrollieren. Darüber hinaus haben sie Saraqib eingenommen, eine Kleinstadt, die an der M5 liegt, der wichtigsten Straße von Damaskus nach Aleppo; die M5 ist damit nun ebenso von der HTS blockiert wie die Abzweigung zur M4 in die Küstenstadt Latakia, nahe der die von Russland genutzte Luftwaffenbasis Khmeimim liegt. Entlang der M5 sind die Aufständischen am Wochenende in Richtung Süden vorgerückt, wo sich die Großstadt Hama befindet; sie ist mit nahezu einer Million Einwohnern Syriens drittgrößte Stadt. Berichten zufolge hat die türkische Regierung den Milizen der Syrian National Army zumindest grünes Licht für die aktuelle Offensive gegeben.[1] Die syrischen Streitkräfte suchen diese nun mit russischer Luftunterstützung zurückzuschlagen. Nach Angaben des im Londoner Exil ansässigen Syrian Observatory for Human Rights (SOHR) kamen bei den Kämpfen bereits mehr als 370 Menschen ums Leben, darunter Zivilisten.

Terrororganisation HTS

HTS, die Organisation, die die Offensive gestartet hat, ist eine Nachfolgeorganisation von Jabhat al Nusra, dem syrischen Ableger von Al Qaida. Jabhat al Nusra formierte sich im Jahr 2016 zunächst unter dem Namen Jabhat Fatah al Sham, bevor sie sich 2017 mit weiteren, oft ebenfalls jihadistischen Gruppierungen zu HTS zusammentat; eine von diesen, Ahrar al Sham, wurde damals von der deutschen Justiz ausdrücklich als Terrororganisation eingestuft (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Auch HTS gilt unter anderem den Vereinten Nationen, den Vereinigten Staaten, Russland, der Türkei, der EU und anderen explizit als ein terroristischer Zusammenschluss. Experten weisen zwar regelmäßig darauf hin, dass HTS dem Islamischen Staat (IS) nicht wohlwollend gegenübersteht, sondern in einer Art Rivalität, und dass die Organisation im Gouvernement Idlib, das sie diktatorisch beherrscht, Kämpfer des IS verfolgt und inhaftiert hat. Dies sei, so heißt es meist, eine Folge auch des Bemühens, sich international als reguläre Regierung des Gouvernements Anerkennung zu verschaffen. Allerdings müsse man festhalten, heißt es etwa in einer Analyse der US Military Academy in West Point, dass HTS in Idlib kleinere jihadistische Terrorgruppen beherberge und sich bis heute in manchen Fällen für terroristische Gewalt im Westen offen gebe.[3]

„Auf Gegensätzen beruhende Kooperation“

Der Angriff von HTS und den von Ankara unterstützten Kämpfern hat die prekäre Ordnung erschüttert, die sich in Syrien herausgebildet hatte, nachdem die syrischen Regierungstruppen Ende 2016 Aleppo von jihadistischen Milizen zurückerobert hatten. Zu diesen Milizen zählte damals auch Fatah al Sham, einer der Vorläufer der HTS.[4] Nach der Rückeroberung von Aleppo wurden Verhandlungen über einen Machtabgleich in Syrien eingeleitet, die maßgeblich Russland – als Kooperationspartner der Regierung unter Bashar al Assad – und die Türkei als Kooperationspartnerin der Aufständischen führten. Im Astana-Prozess, benannt nach dem Ort der Verhandlungen, gingen Moskau und Ankara daran, die Lage in Syrien zumindest so weit zu stabilisieren, dass die Kriegshandlungen zum Ende kamen. Im März 2020 gelang es Russland und der Türkei, das bislang letzte Aufflammen des Krieges zu stoppen – ohne Mitwirkung der USA und der Mächte Europas. Dies war möglich, da Moskau und Ankara bei jeweils einer der verfeindeten Parteien starken Einfluss hatten und die Einhaltung eines Kompromisses durchsetzen konnten.[5] Die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat diese Methode einmal als „auf Gegensätzen beruhende Kooperation“ bezeichnet.[6] Sie öffnete den Weg, den Einfluss der westlichen Mächte weitgehend aus Syrien zu verdrängen.

„Das Potenzial des Astana-Formats“

Ob die „auf Gegensätzen beruhende Kooperation“, die unter anderem auch im Südkaukasus zu einer russisch-türkischen Vermittlung zwischen den dortigen Konfliktparteien – Armenien und Aserbaidschan – unter Ausschluss des Westens führte [7], in Syrien Bestand haben kann, scheint angesichts der aktuellen HTS-Offensive nicht sicher, wenngleich die Außenminister beider Staaten, Sergej Lawrow sowie Hakan Fidan, am Samstag miteinander telefonierten und sich dabei laut Angaben des russischen Außenministeriums über die Bedeutung des Bemühens einig waren, das gemeinsame Vorgehen zu koordinieren, um die Verhältnisse in Syrien zu stabilisieren – „vor allem“, indem man „das Potenzial des Astana-Formats“ nutze, wie es in Moskau heißt.[8] Entscheidend ist dabei zunächst, ob es den syrischen Streitkräften mit russischer Unterstützung gelingt, die HTS-Offensive zu stoppen. Bis vor kurzem hatte Damaskus sich gegenüber den Jihadistenmilizen aus Idlib auch auf die Kampfkraft von Milizen der Hizbollah und anderer proiranischer Kräfte stützen können. Diese sind jetzt aber durch israelische Luftangriffe stark geschwächt; „regelmäßig“ habe es „ein, zwei Dutzend“ israelische Luftangriffe pro Tag gegeben, über die nur nicht berichtet worden sei, heißt es.[9] Ob die Kampfkraft heute noch ausreiche, um bei der Abwehr der Jihadisten zu helfen, sei ungewiss.

Flüchtlingsabwehr zuerst

Während unklar ist, ob die Jihadisten von HTS in Syriens Nordwesten ihr Herrschaftsgebiet ausweiten können – und ob sie zur offenen Unterstützung jihadistischen Terrors zurückkehren –, sorgen sich deutsche Politiker in ersten Äußerungen um die Flüchtlingsabwehr. Mit Blick darauf, dass Syrer aus dem Kampfgebiet fliehen, erklärte am gestrigen Sonntag Alexander Throm, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Sollten sich Fluchtbewegungen aufgrund des Vorrückens dschihadistischer Gruppierungen in Nordsyrien ergeben, so haben diese innerhalb sicherer Bereiche des Landes oder in Nachbarstaaten zu erfolgen“.[10] Man müsse „nach dem Grundsatz“ verfahren: „Kurze Wege in die Sicherheit und kurze Wege wieder zurück ins Heimatland.“ Mit „Nachbarstaaten“ ist nach Lage der Dinge die Türkei gemeint. Immerhin teilt das Bundesinnenministerium mit, man werde bei der Prüfung, ob man Menschen erneut nach Syrien abschiebe, das aktuelle Kriegsgeschehen berücksichtigen: „Abschiebungen von vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern sind nur denkbar, wenn die Sicherheitslage vor Ort dies zulässt“, wird ein Sprecher des Ministeriums zitiert.[11]

 

[1] Christoph Ehrhardt, Friederike Böge, Friedrich Schmidt: Assads Truppen sind ausgezehrt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.12.2024.

[2] S. dazu Doppelte Standards.

[3] Aaron Y. Zelin: Jihadi ‘Counterterrorism:‘ Hayat Tahrir al-Sham Versus the Islamic State. ctc.westpoint.edu Februar 2023.

[4] S. dazu Aleppo, Mossul und die Hegemonie.

[5] S. dazu Pufferzonen im Luftraum.

[6] Güney Yildiz: Turkish-Russian Adversarial Collaboration in Syria, Libya, and Nagorno-Karabakh. SWP Comment 2021/C 22. Berlin, 24.03.2021.

[7] S. dazu Machtlos im Südkaukasus.

[8] Press release on Foreign Minister Sergey Lavrov’s telephone conversation with Foreign Minister of Türkiye Hakan Fidan. mid.ru 30.11.2024.

[9] Christoph Ehrhardt: Druck auf Assad von vielen Seiten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.11.2024.

[10], [11] Bürgerkrieg wieder eskaliert: Unionsinnenpolitiker gegen Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen. tagesspiegel.de 01.12.2024.

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