Angst, Scham, Stigmatisierung und viele andere Hürden hindern unzählige Opfer sexueller Gewalt daran, medizinische Versorgung und psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder auch nur danach zu suchen. Dabei sind die ersten 72 Stunden nach der Vergewaltigung entscheidend, um die Übertragung von HIV und sexuell übertragbaren Krankheiten sowie ungewollte Schwangerschaften zu verhindern und um sich gegen Tetanus und Hepatitis B impfen zu lassen.

Sexuelle Gewalt ist ein medizinischer Notfall, aber oft mangelt es an Gesundheitsdiensten für die Opfer, warnt Ärzte ohne Grenzen (MSF), deren Teams im Jahr 2023 mehr als 62.200 Opfern sexueller Gewalt, vor allem Frauen, halfen und damit einen Anstieg von 22.300 Fällen gegenüber dem Vorjahr verzeichneten.

Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt sind häufig in Konfliktsituationen anzutreffen, wo sie eingesetzt werden, um zu demütigen, zu bestrafen, zu kontrollieren, zu verletzen, Angst zu schüren und Gemeinschaften zu zerstören. Sie können auch eingesetzt werden, um Kämpfer zu belohnen oder zu bezahlen und Truppen zu motivieren. Aber auch Millionen von Menschen, die in einem stabilen Umfeld leben, sind Opfer sexueller Gewalt. In diesen Fällen handelt es sich bei den Tätern oft um Bekannte oder Familienmitglieder der Opfer.

„Sexuelle Gewalt ist eine der gefährlichsten Folgen von humanitären Notsituationen, und in vielen Ländern, in denen wir tätig sind, ist sie an der Tagesordnung. Die Betroffenen bleiben jedoch oft unsichtbar und unbehandelt: Sie haben Angst, sich zu äußern, und sind sich der Auswirkungen der Gewalt auf ihre Gesundheit nicht bewusst – ein Schweigen, das sie umbringen oder ihr zukünftiges Leben ernsthaft beeinträchtigen kann“, erklärt Concetta Feo, Psychologin und Koordinatorin der Aktivitäten zur psychischen Gesundheit in den Projekten von Ärzte ohne Grenzen.

„Es ist eine traumatische Erfahrung, die aus sozialen oder kulturellen Gründen im Verborgenen gelebt wird. In einigen Ländern, in denen wir arbeiten, ist es immer noch ein Tabu, um Hilfe zu bitten. Das ist auch der Grund, warum Ärzte ohne Grenzen die Opfer ermutigt, innerhalb der ersten 72 Stunden nach der Gewalttat eine Klinik aufzusuchen. Viele Frauen sind auch durch Schuldgefühle über das Ereignis blockiert, was sie in einen langanhaltenden Zustand von Depression oder Wut versetzen kann. Die psychischen Wunden sind oft lähmend; bei etwa einem Drittel der Opfer sexueller Gewalt besteht die Gefahr, dass sie eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln“.

Ein gemeinsames Merkmal vieler Länder, in denen Ärzte ohne Grenzen Opfern von sexueller Gewalt hilft, ist die Straffreiheit der Täter. Die Gesetze sind oft unzureichend und das Justizsystem versagt beim Schutz der Opfer. Ärzte ohne Grenzen fordert die Regierungen und die internationale Gemeinschaft auf, Frauen und Mädchen zu schützen: Zum einen muss eine umfassende medizinische und psychologische Versorgung gewährleistet sein, zum anderen müssen die Opfer Zugang zu Rechtsbeistand, Schutz und vertrauenswürdigen Mechanismen zur Anzeige von Gewalt sowie Möglichkeiten zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung haben. Außerdem müssen sexuelle Übergriffe verhindert und die Strafverfolgung der Angreifer garantiert werden.

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!