Vor einigen Wochen wird eine Reportage zum Skandal, in der behauptet wird, Schutzsuchende aus Afghanistan würden massenweise „Urlaub“ in ihrem Heimatland machen. Im Zusammenhang mit dem Attentat von Solingen, bei dem ein junger Afghane mehrere Menschen tötete und durch einen immer vehementer vorgetragenen Populismus gegen Menschen auf der Flucht wird in der Folge die Forderung laut, Afghanistan als sicher genug zu erklären, um grundsätzlich Abschiebungen dorthin möglich zu machen. Sie formt die Debatte um das heute im Bundestag behandelte sogenannte Sicherheitspaket der Regierung mit. Mariella Lampe, Referentin beim Flüchtlingsrat Berlin, hat mit afghanischen Geflüchteten darüber gesprochen.

Von Mariella Lampe

Es ist August 2024, genau drei Jahre nach der erneuten Machtergreifung der Taliban in Afghanistan. Die Versprechen der Bundesregierung, mit einem Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan Tausende gefährdete Afghan*innen, die sich für Menschenrechte und Demokratie in dem Land eingesetzt hatten und mit den westlichen Alliierten kooperiert hatten, aufzunehmen, sind weitestgehend leer ausgegangen. Statt der geplanten 1000 im Monat seit Mitte des Jahres 2022 sind nur wenige Hundert insgesamt gekommen. Ende des Jahres soll das gescheiterte Aufnahmeprogramm voraussichtlich gänzlich eingestellt werden. Zu diesem Zeitpunkt sitzen noch tausende Afghan*innen mit Aufnahmezusage in Nachbarländern wie Pakistan und dem Iran. Es ist bereits klar, dass nicht alle werden kommen können. Bleiben können sie wohl nicht einmal dort: Sowohl Pakistan als auch der Iran haben angekündigt, millionenfach Afghan*innen abschieben zu wollen. Es kommt zu offener Gewalt von Einheimischen gegen die Geflüchteten. Immer wieder gibt es Berichte von Tötungen. Die Lage in Afghanistan selbst ist fatal: Das Land liegt wirtschaftlich brach. Trotzdem verbieten die Taliban Frauen, zu arbeiten und schränken die Bildung von Mädchen signifikant ein. Der Begriff „Gender-Apartheid“ entsteht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet im Oktober, dass Frauen in Afghanistan grundsätzlich als verfolgt gelten und ihnen somit in der EU Asyl zu gewähren ist.

Nichtsdestotrotz schlägt die Nachricht, Afghan*innen mit Schutzstatus als Flüchtling seien in ihr Heimatland zum „Urlaub“ machen zurückgekehrt, ein wie eine Bombe. Die Journalistin hinter der Recherche möchte einen „Skandal“ aufgedeckt haben. Schnell ist in diversen Medien die Forderung zu lesen, Afghanistan als sicher genug einzustufen, um dahin abschieben zu können. Macht das Sinn?

Nein. Eine Reise in ein Kriegsgebiet macht dieses Gebiet nicht zu einem sicheren Ort. Ja, es kann trotz all der Unsicherheit Gründe geben, ein Land zu bereisen. Würde einem Journalisten, der aus dem Krieg berichtet, unterstellt werden, er sei der Beweis, dass das Land sicher sei? Nein. Die physische Möglichkeit, ein Land zu bereisen, macht es noch lange nicht sicher. Es ist also der Grund der Reise, der hier relevant für die öffentliche Beurteilung ist – zu sehen auch daran, dass selbst in den Verschärfungen des sogenannten Sicherheitspakets als „sittlich“ eingestufte Gründe wie Beerdigungen Reisen ins Heimatland erlaubt sein sollen. Gestört wird sich also daran, dass Menschen, die hier Schutz erhalten haben, vermeintlich Urlaub in dem Land machen, aus dem sie geflohen sind. Aber ist das wahr?

Ich würde der Journalistin, die den angeblichen Skandal aufgedeckt hat, gerne sagen: Sie fragen Menschen, die in ihrem bisherigen Leben wahrscheinlich wenig mit dem Konzept „Urlaub“ anfangen konnten, nach ihren Gründen, nach Afghanistan zu reisen. Sprechen Sie mit diesen Menschen ein paar mehr als drei Worte und sie werden erfahren, warum sie wirklich in ihr Heimatland gegangen sind und dass es nichts mit dem zu tun hat, was wir Urlaub nennen. Sie nennen es „Urlaub“, weil sie nicht wegen der Arbeit gehen, sondern aus privaten Gründen.

Die Gründe, aus denen Menschen nach Afghanistan reisen, sind meist familiäre Notlagen oder Verpflichtungen. In meinen Gesprächen mit schutzsuchenden Afghan*innen in Deutschland habe ich von einem Mann erfahren, der seiner alleinstehenden Schwester geholfen hat, in den Iran zu fliehen. Von Menschen, die sich um die Hinterlassenschaften ihrer verstorbenen Eltern gekümmert haben. Und von Leuten, die versucht haben, wichtige Dokumente zu beschaffen. Dokumente: Sie verschließen und öffnen Türen, für immer, unwiderruflich. Sie ändern Leben. Sie ermöglichen Bildung, Hochzeiten, Geburtsurkunden, Bewegungsfreiheit, Zukunft. Es geht um die Chance auf ein Leben hier. Sie ist oft jedes Risiko wert. Diese Menschen haben immer und immer wieder alles riskiert, um eine Zukunft zu haben. Eventuell werden sie für ebendiese auch noch einmal zurück in die Höhle des Löwen. Wird diese dadurch sicher?

Das sind dennoch keine Gründe, sich in ein Land zu begeben, in dem man Verfolgung befürchtet?

Was hier außer Acht gelassen wird, ist, dass die Flucht und der damit einhergehende Abschied aus der Heimat kein Momentum sind, sondern eine dauerhafte Realität. Es wird voraussichtlich nie wieder sicher für diese Menschen sein, nach Afghanistan zurückzukehren. Sie können nicht sagen „das mache ich, wenn die Situation wieder besser ist“. Sie müssen ganz darauf verzichten oder sie riskieren alles, was sie haben, für etwas, für das es sich aus ihrer Sicht lohnt.

Wie eine Journalistin in ein Kriegsgebiet reist, um dort etwas zu tun, für dass es sich aus ihrer Sicht lohnt, ihr Leben zu riskieren, so entscheiden sich auch Menschen mit Fluchthintergrund mitunter dafür, unter meist schwierigsten Bedingungen in ihr Heimatland zu reisen, um etwas Unaufschiebbares zu erledigen.

Der Skandal an der Geschichte ist in den Augen der Journalistin, dass es Menschen mit Flüchtlingspass sind, die dies teilweise gemacht haben sollen – einem Reisedokument von der Gültigkeit von drei Jahren, das Menschen bekommen, die Asyl bekommen haben oder anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Das ist gesetzlich verboten. Skandalös aber wird es dem Report nach erst dadurch, dass diese Menschen ja Schutzsuchende sind. Wo aber ist der moralische Unterschied, ob diese Leute eine solche Reise in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland machen oder später, wenn sie vielleicht Deutsche geworden sind? Aus einem Land wie Afghanistan geflüchtet zu sein und nicht zurück zu können, ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine lebenslange Realität. Sie werden nie wieder in dem Heimatort leben können, in dem sie groß geworden sind. Sie werden das Altern ihrer Eltern nicht begleiten können, sie werden nicht auf die Beerdigungen ihrer Angehörigen gehen. Sie werden die Geburt ihrer Nichten und Neffen nicht mitbekommen und werden nicht helfen können, wenn ein Erdbeben das Haus der Familie in Schutt und Asche gelegt hat. Sie haben den Generationenvertrag aufgekündigt. Eltern werden alt und sterben und ihre Kinder leben weit entfernt, für die Zukunft ihrer eigenen Kinder wiederum.

Das ist die überwiegende Realität von Fluchtmigration. Für immer, nie wieder. In einem solchen Zustand, der für die Ewigkeit gemacht ist, spielt es eine geringe Rolle, wann man den Schritt in die Hölle noch einmal wagt.

Ich kenne viele Afghan*innen, die ihre Eltern wenigstens noch einmal sehen wollen. Dennoch kenne ich niemanden persönlich, der oder die sich wirklich getraut hätte, nach Afghanistan zu gehen. Sie trafen ihre Angehörigen, wenn überhaupt, in Nachbarstaaten. Die Afghan*innen, mit denen ich gesprochen habe, haben einhellig gesagt, dass ein Betreten des Landes für sie wäre, wie mit einem Fuß in der Hölle zu stehen. Aber selbst wenn Menschen nur nach Afghanistan reisen sollten, um ihre Eltern noch einmal zu sehen, wäre das zu verurteilen? Wäre es mehr zu verurteilen, wenn sie erst wenige Jahre hier sind als wenn sie bereits länger hier sind? Macht das Sinn?

Ich würde mir wünschen, dass die Journalistin, die diesen angeblichen Skandal aufgedeckt hat, mit den Menschen das Gespräch sucht, die wirklich gegangen sind, nicht mit Verkäufern in Reisebüros oder Bekannten von Bekannten. Dass sie fragt, was diese Leute wirklich dazu bewegt hat, nach Afghanistan zu reisen. Ich wette mit Ihnen, was Sie und ich unter Urlaub verstehen, war es in keinem Fall.