Höchstes EU-Gericht erklärt EU-Abkommen mit Marokko für rechtswidrig und dringt auf Anerkennung der von Marokko besetzten Westsahara. Berlin und Brüssel weigern sich – vor allem wegen Marokkos Beitrag zur Flüchtlingsabwehr.

(Eigener Bericht) – Die EU bricht mit mehreren Abkommen mit Marokko internationales Recht und stützt mit ihnen Rabats Fremdherrschaft über die letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent – die Westsahara. Dies bestätigt der Europäische Gerichtshof (EuGH), das oberste Gericht der EU, in einem Urteil, das Anfang Oktober die Handels- und Fischereiabkommen der Union mit dem nordafrikanischen Land für rechtswidrig erklärt hat. Ursache ist, dass die Abkommen mit Marokko geschlossen wurden, sich aber auch auf die Westsahara beziehen, die Marokko, wie der EuGH bekräftigt, rechtswidrig besetzt hat; dem Gericht zufolge muss die EU Abkommen, die das Gebiet betreffen, mit der legitimen Repräsentanz der sahrauischen Bevölkerung schließen – mit der Frente Polisario. Damit entspricht das EuGH-Urteil der Position der Vereinten Nationen, die der Westsahara aktuell einen Kolonialstatus zuschreiben. Brüssel und Berlin nehmen das Urteil „zur Kenntnis“, leiten aber keinerlei Schritte ein, ihm Rechnung zu tragen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigt an, sie wolle die „tiefe Freundschaft“ mit Marokko „auf die nächste Ebene heben“. Es geht um Flüchtlingsabwehr und um erneuerbare Energien.

Fischerei und Handel

Die Fischerei wie auch der Handel mit Agrargütern, um die es in den strittigen Abkommen mit Marokko geht, haben für die Westsahara hohe Bedeutung. Die Gewässer vor ihrer Küste sind überaus fischreich, ein Umstand, der schon in den 1960er Jahren die Kolonialmacht Spanien veranlasste veranlasste, sich systematisch an den dortigen Fischbeständen zu bedienen. 1975 ließ sich Spanien von seinem Kolonialnachfolger Marokko zusagen, vor der Küste der Westsahara weiter fischen zu dürfen, bis nach seinem EU-Beitritt (1986) die EU 1988 ihr erstes Fischereiabkommen mit Rabat schloss und damit die weitere Plünderung der Fischbestände der Westsahara durch Fangflotten aus Europa sicherstellte. Im Jahr 2021 importierte die EU Fisch und Fischprodukte im Wert von rund 604 Millionen Euro von dort; im Jahr 2022 beliefen sich die Einfuhren auf einen Wert von ungefähr 504 Millionen Euro. Von den etwa 87.000 Tonnen Agrargütern, die 2022 in der Westsahara geerntet wurden – überwiegend waren es Tomaten und Melonen –, gingen 74.000 Tonnen mit einem Wert von 85,6 Millionen Euro in die EU; das waren ungefähr 85 Prozent sämtlicher Agrargüter der besetzten Westsahara.[1]

Das Urteil des EuGH

In Konflikt mit dem internationalen Recht gerät die EU dabei, weil sie die Fischerei vor der Küste der Westsahara und die Einfuhr der Agrarprodukte nicht mit der legalen Vertretung der einheimischen Bevölkerung geregelt hat, sondern mit Marokko, das in der Westsahara als koloniale Besatzungsmacht auftritt. Rabat wendet die Handels- und Fischereiabkommen, die es mit Brüssel geschlossen hat, umstandslos auf die Westsahara an; die EU wiederum billigt das genauso umstandslos. Das Gericht der Europäischen Union (EuG) sowie der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben dies seit 2015 in insgesamt sieben Urteilen für rechtswidrig erklärt.[2] Die EU wiederum hat regelmäßig versucht, die Urteile trickreich zu umgehen – so durch kosmetische Änderungen im Wortlaut der Abkommen; zudem hat sie Revision gegen die Urteile eingelegt. In seinem Entscheid vom 4. Oktober hat der EuGH abschließend entschieden, dass die Abkommen weiterhin rechtswidrig sind; für ihre Korrektur hat er der EU eine Frist von einem Jahr gesetzt.[3] Insbesondere hat er festgestellt, dass Marokko keine Souveränität über die Westsahara besitzt und dass die rechtmäßige Repräsentanz von deren Bevölkerung die Frente Polisario ist. Mit ihr, nicht mit Rabat, muss die EU Fischerei und Handel mit der Westsahara regeln.

„Zur Kenntnis genommen“

Die bisherigen Reaktionen der EU-Kommission wie auch der Bundesregierung, die sich beide bei jedem nur denkbaren Anlass rühmen, internationales Recht nicht nur zu befolgen, sondern ihm auch weltweit Geltung verschaffen zu wollen, sprechen für sich. Beide kündigen nicht etwa an, dem Urteil des obersten EU-Gerichts umgehend Folge zu leisten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel äußern, sie nähmen das Urteil „zur Kenntnis“, betonten aber „den hohen Wert“, den die EU ihrer „strategischen Partnerschaft mit Marokko“ beimesse.[4] Man wolle die „tiefe Freundschaft“ mit Rabat „in den nächsten Wochen und Monaten auf die nächste Ebene heben“. In Berlin teilt das Auswärtige Amt mit, man nehme das EuGH-Urteil „zur Kenntnis“, messe jedoch der „strategischen, multidimensionalen und privilegierten Partnerschaft“ zwischen der EU und Marokko „großen Wert“ bei.[5] Auch „bilateral“ habe man zudem „die Beziehungen zu Marokko erst im Juni durch den regelmäßig stattfindenden strategischen Dialog auf Außenministerebene intensiviert“. Maßnahmen, die geeignet wären, der Westsahara, Afrikas letzter Kolonie, gegenüber Marokko zu ihrem Recht zu verhelfen, stellen weder von der Leyen in Brüssel noch Außenministerin Annalena Baerbock in Berlin in Aussicht.

Gegen die Vereinten Nationen

Damit stellen sich Berlin und Brüssel offen nicht nur gegen den obersten Gerichtshof der EU, sondern auch gegen die Vereinten Nationen, die die Westsahara weiter auf ihrer Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung führen. Die Liste wurde im Jahr 1946 geschaffen und umfasste ursprünglich eine hohe Zahl damaliger Kolonien, von denen die meisten inzwischen unabhängige Staaten geworden sind. Auf der Liste verblieben sind 17 Kolonialgebiete [6], von denen die Westsahara mit ihren über 600.000 Einwohnern dasjenige mit der größten Bevölkerung ist. Die NGO Western Sahara Resource Watch (WSRW) weist außerdem darauf hin, dass „das Recht des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung“ inzwischen „durch mehr als 100 UN-Resolutionen“ anerkannt wird und bereits im Jahr 1975 in einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag bestätigt wurde.[7] WSRW verlangt, dem Urteil des EuGH Rechnung tragend, von Brüssel eine „sofortige Aufnahme von Sondierungsgesprächen mit der Polisario-Front zur Entwicklung rechtskonformer bilateraler Beziehungen mit dem Gebiet“. Außerdem solle die EU in ihre Verträge mit Marokko eine „Territorialklausel“ integrieren, „die die Westsahara ausdrücklich ausschließt“. Nicht zuletzt fordert WSRW „alle privaten Unternehmen, die sich an Marokkos Plünderung der Ressourcen des Territoriums beteiligen, auf, die Rechtsstaatlichkeit zu respektieren“ und ihre Geschäfte „sofort zu beenden“.[8]

Gegen den EuGH

Gegenwärtig deutet allerdings nichts darauf hin, dass Berlin und die EU bereit sein könnten, dem Urteil des EuGH zu entsprechen. Marokko gilt seit Jahrzehnten als einer der wichtigsten Handlanger der EU bei der Flüchtlingsabwehr (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat am Dienstag bei einem Besuch in Marokko vor dem dortigen Parlament erklärt, Paris strebe einen Ausbau der Beziehungen zu Rabat an – und zwar insbesondere mit Blick auf die Bestrebungen der EU, unerwünschte Einwanderung zu stoppen.[10] Macron äußerte zudem, man könne die Kooperation auch auf dem Feld der Ökonomie intensivieren, so etwa bei der Nutzung erneuerbarer Energien in Marokko, die mit der Produktion und dem Export grünen Wasserstoffs für die EU verfügbar gemacht werden könnten. Im Gegenzug bekräftigte Macron seine bereits Ende Juli verkündete Auffassung, „die Gegenwart sowie die Zukunft“ der Westsahara sollten „im Rahmen der marokkanischen Souveränität“ gesehen werden.[11] Ähnlich hatte bereits 2022 Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez Position bezogen.[12] Beobachter spekulieren bereits, die EU könnte sich in naher Zukunft anschließen. Dies bedeutete dann allerdings den endgültigen Bruch mit der Rechtsprechung ihres eigenen obersten Gerichts.

 

[1] 2023 Report on the impact and benefits for the population of Western Sahara of the extension of tariff preferences to products originating in Western Sahara. SWD(2024) 57 final. Brussels, 15.03.2024.

[2], [3] Urteil des EU-Gerichtshofs: Besetzte Westsahara nicht Teil der EU-Marokko-Abkommen. wsrw.org 04.10.2024.

[4] Joint Statement by President von der Leyen and High Representative/Vice-President Borrell on the European Court of Justice judgements relating to Morocco. ec.europa.eu 04.10.2024.

[5] Auswärtiges Amt zum Urteil des EuGH bezüglich der Handelsabkommen der EU mit Marokko. auswaertiges-amt.de 07.10.2024.

[6] S. dazu Kolonien im 21. Jahrhundert (I), Kolonien im 21. Jahrhundert (III) und Kolonien im 21. Jahrhundert (IV).

[7] Die Besatzung der Westsahara. wsrw.org. S. auch Kolonien im 21. Jahrhundert (II).

[8] Urteil des EU-Gerichtshofs: Besetzte Westsahara nicht Teil der EU-Marokko-Abkommen. wsrw.org 04.10.2024.

[9] S. dazu Flüchtlingsabwehr und grüner Wasserstoff und Berlin und die Menschenrechte (II).

[10] Au Maroc, Emmanuel Macron appelle à plus de « résultats » contre l‘immigration illégale et réaffirme son soutien à la « souveraineté marocaine » au Sahara occidental. lemonde.fr 29.10.2024.

[11] Frédéric Bobin: A Rabat, Emmanuel Macron propose un « nouveau cadre stratégique » avec le Maroc. lemonde.fr 29.10.2024.

[12] Francisco Peregil, Miguel González: España toma Partido por Marruecos en el conflicto del Sáhara. elpais.com 18.03.2022. J.A.R.: Sánchez ratifica su apoyo a la propuesta marroquí sobre el Sáhara y Podemos le acusa de seguir la estela de Trump. elpais.com 08.06.2022.

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