Wie steht es um die Gewaltprävention in Bundesasylzentren (BAZ)? Hat sich die Situation verbessert, drei Jahre nachdem ein ehemaliger Bundesrichter den Behörden wegen Missständen eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen hatte? Amnesty International hat neue Gewaltvorfälle gegen unbegleitete Jugendliche im BAZ Les Rochat dokumentiert, die auf anhaltende Probleme hinweisen.

Kinder brauchen besonderen Schutz. Dies gilt auch für unbegleitete jugendliche Asylsuchende, die auf der Flucht schwerwiegende Traumata erlebt haben. Darüber hinaus hat der Staat eine besondere Verpflichtung gegenüber unbegleiteten Minderjährigen. Sie müssen würdig und sorgsam betreut werden, wenn sie den langen Asylprozess in der Schweiz beginnen. Eine wichtige Rolle kommt dabei dem Personal in den Bundesasylzentren zu.

2021 hatte Amnesty International in einem Bericht Fälle von Gewalt und Missstände in den Bundesasylzentren aufgedeckt. Eine Untersuchung von Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer bestätigte damals viele der von Amnesty geäusserten Besorgnisse, insbesondere die mangelnde Überwachung der Sicherheitsangestellten und die unzuverlässige Rapportierung von Gewaltvorfällen.

«…sie fragten mich, wohin ich gehe, schoben mich in den Raum und setzten das Pfefferspray ein zweites Mal ein.» Fazal*

Drei Jahre später hat Amnesty International neue Berichte über Gewalt gegen minderjährige Asylsuchende dokumentiert, die zwischen März und Mai 2023 im BAZ Les Rochat (VD) untergebracht waren. Aus der jüngsten Untersuchung, die auf Aussagen der betroffenen Jugendlichen und eines ehemaligen Mitarbeiters beruht, der in den Bundesasylzentren der Westschweiz arbeitete, geht hervor, dass das Sicherheitspersonal Zwangsmassnahmen und Freiheitsentzug angewendet hat, die möglicherweise gegen die Menschenrechte verstossen. So wurden alle fünf von der Organisation befragten Jugendlichen mehrere Stunden lang in einem Raum unter Zwang festgehalten. Vier von ihnen beschrieben zudem, dass ein Armhebel angewendet wurde, sie auf dem Boden fixiert oder mit Pfefferspray besprüht wurden.

«Amnesty International ist besorgt über diese Zeugenaussagen, die auf unrechtmässige Freiheitsberaubung und Misshandlung hindeuten. Dies ist umso schockierender, weil sie gegen Kinder gerichtet waren, auf die das Einsperren in einem kleinen dunklen Raum bis zu acht Stunden schwerwiegende Auswirkung auf ihre Entwicklung haben kann», sagte Kishor Paul, Spezialist für Asyl und Migration bei Amnesty Schweiz.

Schockierende Zeugenaussagen

Fazal* wurde vorübergehend in einem kleinen Zimmer am Eingang bei der Loge, einem sogenannten «Chambre d’hébergement temporaire», festgehalten, nachdem er entgegen den Anordnungen des Sicherheitspersonals sein Mobiltelefon um Mitternacht im Gemeinschaftsraum aufladen wollte, weil er beunruhigende Nachrichten aus der Heimat erhalten hatte. Er berichtete, er sei mit Pfefferspray besprüht worden, weil er versuchte, den dunklen Raum, in dem er festgehalten wurde, zu verlassen.

«Meine Augen taten weh und ich konnte fast nichts sehen. Sie brachten mir Wasser, um meine Augen auszuspülen. Da ich die Sicherheitsbeamten an der Tür nicht sehen konnte, versuchte ich erneut, nach draussen zu gehen (…) Sie fragten mich, wohin ich gehe, schoben mich in den Raum und setzten das Pfefferspray ein zweites Mal ein.» Er ergänzte: «Ein Sicherheitsangestellter (…) zog an dem Arm, mit dem ich mein Telefon hielt (…) Als er zog, flog das Telefon gegen die Wand. Es fiel auf den Boden und zerbrach. Ich fragte ihn, warum er das getan habe und dass ich es brauche, um meinen Vater anzurufen. (…) Also setzte der Sicherheitsangestellte einen Armhebel ein und drückte mich zu Boden, kniete auf meinem Rücken und verdrehte meine Hände auf dem Rücken.»

Amir* berichtete Amnesty International, dass er eines Tages zu spät zum BAZ kam, worauf ihm der Zutritt zum Zentrum verweigert und er in einen Raum mit einem Metallbett gebracht worden sei: «Sie sagten mir, ich solle dort bleiben, aber ich weigerte mich, weil ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Ich war in einem emotionalen Zustand. Ich war gestresst und hatte Angst. Ich schrie, weil ich raus wollte. Ich versuchte mehrmals, die Tür aufzudrücken, aber das Sicherheitspersonal hinter der Tür liess mich nicht raus. Ich fühlte mich in diesem kleinen Raum gefangen. Es kümmerte sie nicht. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis und wollte nur noch raus. Ich hatte Durst. Ich bat um Wasser, aber sie wollten mir nichts geben.»

Unzulässige Praktiken

Die Hinweise, wonach Minderjährige in den «Chambres d’hébergement temporaire» mutmasslich zur Strafe festgehalten wurden, sind alarmierend. Diese Räume dienen als alternative Übernachtungsmöglichkeit für Personen, die beispielsweise die Nachtruhe stören könnten, und sie sollten jederzeit verlassen werden können. Eine Festhaltungspraxis in diesen Zimmern, die bereits von der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter kritisiert wurde, macht diese de facto zu Sicherheitsräumen und würde sowohl gegen interne Weisungen des SEM als auch gegen völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz verstossen. Nach Völkerrechtstandards sollte Pfefferspray zudem nicht in geschlossenen Räumen und niemals gegen eine Person eingesetzt werden, die bereits immobilisiert wurde.

Zaghafte Fortschritte

Nach dem Untersuchungsbericht Oberholzer und den dringenden Empfehlungen von Amnesty aus dem Jahr 2021 hatte das SEM eine Reihe von Massnahmen zur Verhinderung von Gewalt in den BAZ angekündigt. Dazu gehörten die Anstellung von ein bis zwei «Verantwortlichen für Gewaltprävention und Personensicherheit» pro Region, die Einrichtung von «externen Meldestellen» oder die Verabschiedung einer gesetzlichen Grundlage bezüglich der Anwendung von Zwang durch das Sicherheitspersonal.

Amnesty International begrüsst diese als einen Schritt in die richtige Richtung. Die Menschenrechtsorganisation ist jedoch besorgt, dass mangelnde Ressourcen die Wirksamkeit einiger Massnahmen gefährden und die Behörden gezwungen haben, Projekte einzustellen. In einigen Bereichen werden weiterhin strukturelle Mängel festgestellt.

Die Revision des Asylgesetzes (AsylG) regelt zwar neu den Einsatz von Zwangsmassnahmen, Amnesty International fordert jedoch, dass keine Jugendlichen unter 18 Jahren in einem Sicherheitsraum eingeschlossen werden dürfen und das Gesetz dies entsprechend verbietet.

Auch wenn das Rapportierungssystem überarbeitet wurde, ist nicht sichergestellt, dass jeder Vorfall erfasst und transparent aufgearbeitet wird. Amnesty International ist besorgt darüber, dass die Erhöhung der Präsenz des SEM in den Zentren, die eine bessere Überwachung des Sicherheitspersonals gewährleisten sollte, aus Ressourcengründen eingestellt wurde. Es ist fraglich, ob die Anstellung eines oder zwei Verantwortlicher pro Region ein umfassendes Monitoring von Hunderten von Sicherheitsangestellten ermöglichen wird.

Des Weiteren bedauert Amnesty International, dass das Pilotprojekt «Externe Meldestelle» voraussichtlich nicht im gleichen Rahmen weitergeführt werden kann und keine umfassenden Kompetenzen und Ressourcen erhält. Die Zentralisierung der Meldestelle könnte den Zugang für die Betroffenen erschweren. Zuletzt scheint es, als würden den Asylsuchenden nicht genügend Informationen zu den internen Beschwerdemöglichkeiten bereitgestellt.

Empfehlungen

«Sowohl die Berichte über neue Gewaltvorfälle gegen unbegleitete Minderjährige als auch die Verzögerung bei der Umsetzung der Empfehlungen von Niklaus Oberholzer lassen den Schluss zu, dass die strukturellen Probleme in den BAZ noch nicht ausreichend und zufriedenstellend verbessert worden sind. Amnesty ist daher der Ansicht, dass die Behörden ihrer Verpflichtung, wirksame Massnahmen zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen zu ergreifen, nicht vollumfänglich nachgekommen sind», sagt Kishor Paul.

Um zu verhindern, dass sich Missbräuche wiederholen, macht Amnesty International den Behörden im vorliegenden Bericht eine Reihe von Empfehlungen zur Prävention von Gewalt und der wirksamen Untersuchung von Beschwerden.

* Die Namen der befragten Personen wurden geändert, um ihre Anonymität zu wahren.

Der Originalartikel kann hier besucht werden