Berliner Politiker dringen auf Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele tief in Russland; die Bundesregierung schickt Kriegsschiffe durch die Taiwanstraße: Rote Linien werden trotz evidenter Kriegsgefahr immer öfter willentlich ignoriert.
Gleich mehrere führende Politiker der Berliner Regierungskoalition dringen auf die Freigabe weitreichender westlicher Waffen für ukrainische Angriffe auf Ziele weit in Russland. Das sei „alternativlos“, behauptet etwa Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen). Auch aus der SPD werden Stimmen laut, die die Freigabe fordern. Moskau hat festgestellt, wegen der notwendigen Beteiligung westlicher Soldaten müsse ein Einsatz etwa von Marschflugkörpern des Typs Storm Shadow als Eintritt in den Krieg gewertet werden – mit entsprechenden Folgen. Hofreiter erklärt ganz im Stil eines Pokerspielers, davon dürfe man sich nicht beeindrucken lassen: Moskaus „Drohungen“ hätten sich „wiederholt als leer erwiesen“. Das trifft nicht zu, wie Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beweist. Auch mit der Durchfahrt zweier deutscher Kriegsschiffe durch die Taiwanstraße nähert sich Berlin dem Überschreiten weiterer roter Linien an. Dabei schlugen Berliner Regierungsberater vor kurzem vor, die Bundesregierung solle gegen Fahrten fremder Kriegsschiffe vor den deutschen Küsten vorgehen, jedenfalls dann, wenn es sich um russische Kriegsschiffe handle.
Kriegsschiffe in Hoheitsgewässern
Der Konflikt mit Beijing spitzt sich nach der Durchfahrt der Fregatte Baden-Württemberg und des Einsatzgruppenversorgers Frankfurt am Main durch die Taiwanstraße Ende vergangener Woche weiter zu. China beansprucht die Gewässer bis zu zwölf Meilen vor seiner Festlandsküste als Hoheitsgewässer für sich; die Gewässer von zwölf bis zu 200 Meilen vor der Küste hat es, gemäß der United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS), zu seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) erklärt. Davon ist die gesamte Taiwanstraße abgedeckt, die an ihrer breitesten Stelle gut 96 Seemeilen misst.[1] Klar ist, dass in den Hoheitsgewässern das Recht auf friedliche Durchfahrt gilt: Fremde Kriegsschiffe dürfen sie passieren, dürfen aber keine militärischen Aktivitäten entfalten.[2] Eine Reihe von Staaten – solche, die einst ganz oder auch teilweise kolonisiert wurden, darunter China – legen die UNCLOS enger aus und fordern eine vorherige Anmeldung der Durchfahrt fremder Kriegsschiffe durch die Hoheitsgewässer ein. In der AWZ sind laut UNCLOS militärische Aktivitäten grundsätzlich erlaubt; Ausnahmen bestehen, wenn dabei souveräne Rechte der Küstenstaaten beeinträchtigt werden. Auch diesbezüglich legen vor allem einst kolonisierte Staaten striktere Regeln fest, darunter China, aber auch diverse andere, beispielsweise Vietnam.[3] Dabei geht es etwa um Spionage, die bei der Fahrt vor fremden Küsten nicht selten ausgeübt wird.
Eingriffsbefugnisse
Bedenken wegen der Durchfahrt fremder Kriegsschiffe durch die eigene AWZ melden mittlerweile auch deutsche Experten an. Auslöser ist, dass sich russische Schiffe vor allem in der Nord- und in der Ostsee, zuweilen aber auch in südlicheren Gewässern immer wieder in der AWZ anderer europäischer Staaten – auch Deutschlands – aufhalten. Es sei „umstritten“, heißt es in einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), „welche Eingriffsbefugnisse Küstenstaaten in ihrer [AWZ] haben“.[4] Das Papier befasst sich explizit mit Meerengen, in denen Staaten eine AWZ beanspruchen. Dies trifft beispielsweise auf die Taiwanstraße zu. In der AWZ einer derartigen Meerenge dürften Anrainerstaaten etwa „Vorschriften zum Schutz von Einrichtungen, Anlagen, Kabeln und Rohrleitungen erlassen“, aber auch „Sicherheitszonen schaffen“. „Uneinigkeit herrscht darüber“, heißt es weiter bei der SWP, ob die Küstenstaaten ausländische Schiffe hindern dürften, „Vermessungsarbeiten vorzunehmen oder Informationen für sonstige Zwecke zu sammeln“, faktisch: zu spionieren. Es gebe durchaus „Argumentationsspielräume, um Eingriffe gegen Spionageschiffe zu rechtfertigen“. Die SWP räumt ein, damit nähere man sich der Rechtsauffassung, die China und eine Reihe weiterer Staaten verträten. Zu diesen zähle etwa auch Indien.
Problematik ignoriert
Die Argumentation der SWP, es gebe „Spielräume“, um Eingriffe gegen auswärtige Schiffe zu rechtfertigen, greift im Grundsatz auch im Fall der Fregatte Baden-Württemberg. Zum Aufgabenspektrum der Fregatte F125 zähle „vor allem die Seeraumüberwachung“, teilt die Bundeswehr mit.[5] Die Fregatte Baden-Württemberg, die zu dieser Gattung gehört, hat soeben erst an US-geführten Operationen zur Seeüberwachung der UN-Sanktionen gegen Nordkorea teilgenommen. Dass bei der Seeraumüberwachung vor fremden Küsten Erkenntnisse über Ereignisse in küstennahen Landregionen anfallen, ist bekannt. Zwar muss die Fregatte ihre Überwachungstechnik bei der Durchfahrt durch die Taiwanstraße nicht zwingend aktivieren. Klar ist jedoch, dass dies prinzipiell möglich wäre. China, das damit nicht einverstanden ist, muss die Fahrt des deutschen Kriegsschiffs deshalb kontrollieren. In Berlin wird die Problematik bewusst ignoriert. „Internationale Gewässer sind internationale Gewässer, es ist der kürzeste Weg, es ist angesichts der Wetterlage der sicherste Weg“, sagte am Freitag Verteidigungsminister Boris Pistorius – „also fahren wir durch“.[6]
„Beteiligt ist beteiligt“
Ähnlich gehen führende Berliner Politiker mit Moskaus Ankündigung um, man werde den Einsatz weitreichender Waffen aus westlicher Produktion durch die Ukraine gegen Ziele auf russischem Territorium als Kriegseintritt werten. Dass Waffen wie etwa die britischen Marschflugkörper Storm Shadow nur sinnvoll genutzt werden können, wenn dafür Daten westlicher Streitkräfte genutzt und westliche Militärs eingebunden werden können, ist nicht zuletzt aus dem Mitschnitt eines Gesprächs einiger deutscher Luftwaffenoffiziere bekannt, der Anfang März geleakt wurde.[7] Die Offiziere diskutierten, wie sich die unumgängliche Beteiligung der Bundeswehr an einem möglichen Einsatz des Marschflugkörpers Taurus durch die Ukraine verschleiern lasse. Man könne die benötigten Datensätze, wenn erforderlich, „mit dem Auto“ nach Polen, also an die Grenze zur Ukraine bringen, schlugen die Offiziere vor. Womöglich könnten auch statt deutscher Soldaten britische Militärs den ukrainischen Streitkräften die unverzichtbare Hilfestellung beim Einsatz der Waffen leisten. Trotz allem komme man um eine aktive Rolle zumindest bei der Übermittlung der Daten nicht umhin: „Beteiligt ist beteiligt“, räumte ein Offizier ein. Schon die aktive Übermittlung der Daten, geschweige denn eine etwaige steuernde Beteiligung deutscher Militärs, erfülle das „Kriegskriterium“.[8]
„Alternativlos“
Dessen ungeachtet fordern nun Politiker auch aus der Berliner Regierungskoalition, die Ukraine müsse Waffen wie den Storm Shadow auf Ziele weit auf russischem Hoheitsgebiet abfeuern dürfen. Es gelte nun, Kiew „gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten und Großbritannien und den USA in die Lage [zu] versetzen, auch militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu zerstören“, erklärt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP).[9] Strack-Zimmermann fügt hinzu: „Das bedeutet auch, dass Deutschland endlich den Taurus liefern muss.“ Der Vorsitzende des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), schließt sich an und fordert, die Ukraine solle „in die Lage versetzt werden, russische Abschussbasen auf russischem Territorium mit weitreichenden Waffen zu bekämpfen“. Das sei „alternativlos“. Aus der SPD spricht sich der Bundestagsabgeordnete Andreas Schwarz für die Freigabe weitreichender Waffen aus: Sie sei „abgesichert und grundsätzlich zu begrüßen“, behauptet Schwarz.[10]
Ein Irrtum
Mit Blick auf die russischen Ankündigungen, den Einsatz weitreichender westlicher Waffen als Kriegstritt zu werten, gibt sich der Grünen-Politiker Hofreiter als Pokerspieler: „Die russischen Drohgebärden haben sich wiederholt als leer erwiesen“.[11] Das trifft nicht zu. Auf das Überschreiten von Russlands roten Linien bei der Annäherung der Ukraine an die NATO reagierte Moskau am 24. Februar 2024 mit der Eröffnung des Ukraine-Kriegs. Diesmal ist der Einsatz freilich noch höher – nach Lage der Dinge ein dritter Weltkrieg.
[1] Lynn Kuok: Narrowing the differences between China and the US over the Taiwan strait. iiss.org 13.07.2022.
[2], [3] Michael Paul: Die USA, China und die Freiheit der See. SWP-Aktuell 14. Berlin, März 2016.
[4] Christian Schaller: Spionage und Sabotage vor Europas Küsten – Kritische Infrastruktur im Fadenkreuz. SWP-Studie 2024/S8. Berlin, 28.02.2024.
[5] Die Baden-Württemberg-Klasse: Marathonläufer für den Einsatz. bundeswehr.de.
[6] Deutsche Marine durchquert umstrittene Taiwanstraße. tagesschau.de 13.09.2024.
[7] Reinhard Lauterbach: Ist ein Pilot an Bord? junge Welt 14.09.2024.
[8] S. dazu Das Kriegskriterium.
[9], [10], [11] Die Taurus-Debatte ist zurück. spiegel.de 13.09.2024.