Die schöpferische Zerstörung von Dingen, des Denkens und des Lebendigen durchdringt als ökonomische Formel der ständigen Erneuerung die kulturelle, soziale und politische Sphäre der an das Kapital geketteten Subjekte. Noch sind sie als Gesellschaft im Staat gebündelt. Diese Organisationsstruktur, die den Anforderungen der Profitmaximierung im 21. Jahrhundert nicht mehr genügt, wird abgelöst durch ein Netzwerk aus Regionen. In ihren Zentren wuchert zwischen Leere und Sinnlosigkeit die Anomie. Sie geht der Freude an der Utopie voraus.

Von Gunther Sosna

Der Neoliberalismus, der in den 1980er-Jahren mit der Maxime „Profit over People“ (1) und seinen politischen Galionsfiguren Ronald Reagan und Margaret Thatcher aufbrach, um die Welt zu plündern, verformte praktisch alle für das gesellschaftliche Miteinander relevanten Bereiche bis zur Unkenntlichkeit. Nach dem „Sieg“ über den kommunistischen Osten gab es kein Halten mehr. Krebsartig breitete sich das Finanzkapital aus. Wo es seinen Fuß hinsetzt, bleibt verbrannte Erde zurück. Europa wurde zur Beute (2).

Der Schatten der Krise

Der organisatorische Überbau wurde von den systemkonformen Parteien und ihren karrierebewussten Funktionskadern an die Bedürfnisse der „freien Marktwirtschaft“, die staatlich subventioniert wird, angepasst. Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Nahrung, Trinkwasser und Wohnraum, um nur einige Bereiche zu nennen, wurden dem Kapital zum Fraß vorgeworfen. Länder wie Portugal, Spanien, Griechenland und Großbritannien, wo das Finanzkapital der City of London sein Wohnzimmer hat, wurden abgewirtschaftet und die Zukunft ganzer Generationen dem Profit geopfert.

Im Windschatten der Finanzkrise ab 2007 und der Eurokrise ab 2010 wurden Arbeitsrechte beschnitten, Sozialstandards weggefegt und flächendeckende Privatisierungen vollzogen. Der vielfach genannte begleitende Verfall der Demokratie in der Europäischen Union, unter anderem mit neuen Polizei- und Überwachungsgesetzen flankiert, war genau genommen nur die Bestätigung, dass es in einem Herrschaftssystem, in dem die Macht vom Kapital ausgeht, keine Volksherrschaft geben kann.

Das System ist zersetzt und driftet auseinander. Anzeichen für den sozialen Niedergang gibt es in Zentraleuropa zuhauf. Dazu gehören die Zunahme des Drogenkonsums und der psychischen Erkrankungen, die wachsende Altersarmut, Jugendarbeitslosigkeit, der allgegenwärtige Narzissmus, die Akzentuierung der sexuellen Identität, die intellektuelle Uniformität in Kunst, Lehre und Forschung, die kaum noch steigerbare Kakistokratie in den Parlamenten und Institutionen, die Aufhebung der kulturellen oder ethnischen Homogenität und die freudige Militarisierung des öffentlichen Raums.

In diese Aufzählung fallen die Segmentierung der Arbeit in Mini- und Teilzeitjobs, digitale Tätigkeiten ohne reale Wertschöpfung, die erzwungene räumliche Flexibilität der Lohnarbeiter, die für Unternehmen kostengünstige Auslagerung der Verwaltungs- und Bildschirmarbeit ins „Homeoffice“, die wirtschaftliche Fokussierung auf Dienstleistungen, mieten statt kaufen, Service für alles, Betreuung für jeden und so weiter.

Der degenerative Verschleiß der Staaten spiegelt sich unter anderem in der Verlagerung von politischen und ökonomischen Entscheidungen auf supranationale Gebilde, der Hypermobilität des Kapitals, der Infantilisierung des Politischen und im Einfluss der global agierenden Vermögensverwalter und Monopole, deren Macht durch Deregulierung und Privatisierung unaufhaltsam wächst.

Der Todesstoß

Die Verdichtung der Bevölkerung in urbanen Zentren sowie die Vernetzung der Metropolen durch Hochgeschwindigkeitsverbindungen, dem infrastrukturellen Ausdruck einer Komprimierung, die die Peripherie absterben lässt, versetzt den Staaten den Todesstoß. Illusionen von Gemeinschaft und Nation, die spätestens durch die Ereignisse in der verordneten Pandemie verflogen sein sollten, halten diese vergreisten Organisationseinheiten noch zusammen. Ihre Abwicklung, die über die Zwischenstation des Repressionsstaats erfolgt, ist eine Erscheinung im ökonomischen Evolutionsprozess, der den Finanzkapitalismus in einen digitalen Feudalismus transformiert.

In der digitalen Revolution wird die Existenzgrundlage des Kapitalismus unumkehrbar vernichtet. Die Verdrängung des arbeitenden Menschen aus der Produktion durch Automatisierung, Robotik und künstliche Intelligenz zerstört den Kapitalgesamtkreislauf und führt zu einer beispiellosen Pauperisierung. Die herrschende Klasse, die ihren Reichtum dem ausgefeilten System aus Privatbesitz, Lohnarbeit, Schulden, Mieten, Pachten und Zinsen verdankt, braucht also keine Kultur, keine Moral, keine Religion und keine Nation mehr, die bereits verwertet wird, sondern Krieg als Profitmaschine, Kranke, Süchtige und riesige Gefängnisse, um sich auf die unausweichliche Konfrontation mit den überflüssigen Produktivkräften vorzubereiten. Der Staat ist dabei Mittel zum Zweck.

Durch Bevormundung und eine schleichende Eskalation der Überwachung, die der Bevölkerung als Maßnahme für ihre „Sicherheit“ verkauft wird, verwandelt sich die Lebensrealität der urbanisierten Menschen in ein von Angst geflutetes, farbenfrohes Panoptikum mit unsichtbaren Mauern und schwerbewaffneten Wächtern. In der Ödnis dieser transparenten Tristesse mit ihrer 24-Stunden-Überwachung, der existenziellen Leere und bunten Sinnlosigkeit aus Konsumrausch, Überfütterung und Selbstoptimierung erblüht die Anomie.

Worte eines Rebellen

Die Gegenwart wäre ohne historische Parallelen unvollständig. Entsprechend den Bedürfnissen der industriellen Revolution und somit im Sinne der kapitalistischen Diktatur des Profis, erfolgte im 19. Jahrhundert der Umbau der europäischen Gesellschaften. Die vormals dominierende Landwirtschaft trat in den Hintergrund. Handel, Industrie und Finanzwesen bestimmten die Konjunkturzyklen. Nach dem Einbruch der Finanzmärkte 1873, der begleitet wurde von zahlreichen Bankinsolvenzen, bis in die späten 1890er-Jahre hinein erlebten die meisten Industriestaaten schnell wechselnde Perioden ökonomischer Auf- und Abschwünge. Dieser Zeitabschnitt wurde als „Große Depression“ bekannt.

Der russische Vordenker des kommunistischen Anarchismus, Peter A. Kropotkin (1842 bis 1921), der dem Ansatz des Sozialdarwinismus vom Kampf ums Dasein als Antreiber der Evolution mit dem evolutionär mindestens ebenso wirkmächtigen Kooperationskonzept der gegenseitigen Hilfe begegnete, formulierte in der Phase der Hochindustrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Buch „Paroles d’un révolté“ (3) seine Beobachtungen über den Zustand und den Verfall der europäischen Staaten. Kropotkins Schlussfolgerungen lassen sich wie eine Schablone über die gegenwärtigen Verhältnisse legen.

„Wenn sich die wirtschaftliche Lage Europas in den Worten zusammenfassen lässt: industrielles und kommerzielles Chaos und Bankerott der kapitalistischen Produktion, so kann man die politische Lage durch die Worte kennzeichnen: rascher Verfall und baldiger Bankrott der Staaten. Überblicken wir sie alle, und wir werden keinen finden, der nicht mit beschleunigten Schritten der Auflösung und infolgedessen der Revolution entgegenginge. (…) Eine unheilbare Krankheit verzehrt sie alle: das Alter, der Niedergang. Der Staat, diese Organisation, in der man die allgemeine Besorgung sämtlicher Angelegenheiten aller Menschen in den Händen einiger Menschen lässt, diese Form der menschlichen Organisation hat sich überlebt. Die Menschheit arbeitet sich bereits neue Formen der Vereinigung aus.

Die Phasen der Abschwächung des Wachstums traf die Arbeiterklasse naturgemäß am härtesten. Aus den Erfahrungen mit der Verelendung, die die Industrialisierung begleitete, etablierte sich im Bewusstsein des Proletariats die Klarheit, dass die ökonomischen Verhältnisse und die Herrschaft der Kapitalisten untragbar sind. Der Streik wurde im Klassenkampf zum wichtigen Werkzeug, um soziale Forderungen gegen die Ausbeuter durchzusetzen, und gipfelte in Aufständen und Revolten.

Auch wenn Kropotkins Einschätzungen nicht auf die heutigen pazifistisch ausgerichteten Gesellschaften und die Bedingungen der „vierten industriellen Revolution“ übertragbar sind, besitzen sie dennoch eine tendenzielle systemische Gültigkeit. Gesellschaften folgen viel schneller den technologischen Entwicklungen und den ökonomisch geforderten Anpassungen, als es ein Staat mit seinen veralteten hierarchischen Strukturen und seinen parteipolitisch besetzten Institutionen tun kann. Als starres Gebilde kompensiert der Staat seinen ohnehin andauernden Rückstand, der sich in der digitalen Epoche dramatisch vergrößert, durch die Betonung seiner strukturellen Konturen aus nationaler Abgrenzung und externer Aggressivität auf der einen Seite und interner Repression, Bevormundung und Kontrolle der Bevölkerung auf der anderen.

Was sich ankündigt

Diese Herangehensweise, den schnell voranschreitenden Veränderungen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, korrespondiert in keiner Weise mit den Anforderungen, die die globale und verflüssigte Digitalgesellschaft an Kreativität, Flexibilität und die Reaktionsgeschwindigkeit stellt. Sie führt zu einer Lähmung jeder Dynamik, erstickt notwendige Kooperationen und verführt zur Agonie. Das begünstigt den Verfall.

Die Flucht in Überwachung und immer mehr „Sicherheit“, die keine Antwort auf die aktuellen und die noch bevorstehenden geopolitischen und sozioökonomischen Turbulenzen liefert, ist als Angst vor Kontrollverlust zu interpretieren, was die Entfremdung von Gesellschaft und Staat unterstreicht. Der Staat kann – in welcher Variante auch immer – auf die Gesellschaft nicht verzichten, um zu existieren, während Gesellschaften auch ohne Staat bestehen können.

Die Visionäre, die die Utopie einer Gesellschaftsordnung verfolgen, die keine Herrscher und Beherrschten kennt, trennen ihr Denken und Handeln von liebgewonnenen Bequemlichkeiten und zeitlichen Dimensionen aus Monaten, Jahren und der eigenen Lebenserwartung. Sie wissen, dass sie als Pioniere das Ziel erahnen, es aber nicht erreichen werden. Das macht nichts; jene Generationen werden es realisieren, die die Spuren der Utopie finden – diese müssen sich nur deutlich genug im Sand der Geschichte abzeichnen.

Die Motivation dazu ist gegeben durch die globale Lage und die Kriege, die vor der Haustür stehen. Die ökonomischen Verhältnisse als Eisberg zu verstehen und die Staaten als leckgeschlagene Titanic erfordert wenig Fantasie, jedoch die Gelassenheit des unbeteiligten Beobachters. Hand aufs Herz: Wer fährt schon gerne auf einem Seelenverkäufer über die stürmischen Meere des Kapitals mit ihren Finanzhaien, Vermögensungeheuern und Monopolmonstern? Die Erzählung von der Unsinkbarkeit ist jedenfalls eine Legende. Das Schiff hat im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rumpf riesige Löcher. Der moralische Maschinenraum steht seit dem Stapellauf unter Wasser. Der Kahn sinkt. Nicht heute, nicht morgen. Es dauert noch. Der Untergang zieht sich vermutlich über Jahrzehnte hin. Dann geht es plötzlich sehr schnell. Den finalen Wendepunkt fasste Kropotkin in einem Satz zusammen, in dem sich sein Gespür für die umfängliche Veränderung spiegelt, die sich seit dem 20. Jahrhundert in großen Teilen Europas auszubreiten begann:

Das Volk, das die Kraft ist, wird über seine Bedrücker siegen; der Sturz der Staaten ist bloß die Frage einer relativ kurzen Zeit unserer Geschichte, und der ruhigste Philosoph sieht den Schein einer großen Revolution, die sich ankündigt.

Der Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Der Verfall der Staaten“ auf manova.news.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Noam Chomsky (1999): Profit over People – Neoliberalism and Global Order. Verlag Seven Stories Press, New York, Toronto, London. Verfügbar als PDF auf https://ia903409.us.archive.org/21/items/ManufacturingConsent_201408/Profit%20Over%20People%20-%20Neoliberalism,%20Global%20Order.pdf, abgerufen am 25. August 2024.

(2) Neue Debatte (2017): Ein Film, den jeder sehen sollte: „Europa – Ein Kontinent als Beute“. Verfügbar im Webarchiv auf https://web.archive.org/web/20170106112152/https://neue-debatte.com/2017/01/06/ein-film-den-jeder-sehen-sollte-europa-ein-kontinent-als-beute/, abgerufen am 30. August 2024.

(3) Peter A. Kropotkin (1885): Der Verfall der Staaten. Entnommen aus: „Worte eines Rebellen“, rowohlt 1972, Seiten 16 bis 19. Französischer Originaltitel: „La décomposition des États“. Erschienen in dem Werk „Paroles d’un révolté“. Verfügbar auf https://anarchistischebibliothek.org/library/peter-kropotkin-der-verfall-der-staaten, abgerufen am 30. August 2024.