Er ist ein mitreissender Redner auf den Bühnen der Welt und seit 2019 Träger des Alternativen Nobelpreises. Er wirkt als ein Brückenbauer, der das indigene Wissen nutzt, um einen Weg in die Zukunft zu bahnen. Im September kommt er nach Deutschland.
von Geseko von Lüpke
Es geht eine eigene Aura von dem stämmigen, eher kleinen Mann mit dem stillen Lächeln und den warmen und scharf beobachtenden Augen aus. Seine Bewegungen sind bedacht, seine Wahrnehmung nimmt den ganzen Raum ein, die Sprache ist langsam und präzise. Im Betondschungel der westlichen Metropolen ist er nur Gast, sein Zuhause ist das lebendige Gewebe des Amazonas-Waldes voller Wesenheiten – Flora, Fauna, Ahnen, unsichtbare beseelte Kräfte, die er Shapiri nennt.
Davi Kopenawa ist nach seiner eigenen Schätzung 64 Jahre alt und hat Umwälzungen seines Volkes erlebt: Zu seiner Geburt war der Stamm der Yanomami noch unentdeckt, wenigen Waldläufern bekannt als kriegerisches «unsichtbares Volk» hinter dem Rand der bekannten Welt. Die Angehörigen seines Volks galten den brasilianischen Siedlern bis in die 1960er als gefährliche Kannibalen, die jede Annäherung mit Giftpfeilen beantworteten. Dschungelmythos oder Wahrheit?
Davi Kopenawa erinnert sich an die ersten Ethnologen in seiner Kindheit, die sein Volk erforschen wollten, gefolgt von Goldsuchern und Desperados. Sie brachten nicht nur Perlenschmuck, Kleidung und Metall ins verborgene Paradies, sondern auch Malaria, Grippe, Typhus. Davis Eltern starben, wie so viele, an den Krankheiten der Städter, die in der Waldwelt zu tödlichen Seuchen wurden.
Zu seiner Geburt war der Stamm der Yanomami noch unentdeckt, wenigen Waldläufern bekannt als kriegerisches «unsichtbares Volk» jenseits des Randes der bekannten Welt.
Verzweiflung und Neugier trieben den jungen Krieger aus dem Wald in die Städte, wo er Portugiesisch lernte und seine Wurzeln fast verlor. Doch die Einsicht, dort auf Wegen einer toten Welt zu laufen, liessen den Ruf des Waldes wieder lauter werden. «Ich sah Orte voller Verschmutzung und Zerstörung», erzählt Davi Kopenawa. «Das hat mich dazu bewegt, zu meiner Gemeinschaft zurückzukehren, um ihnen klarzumachen, dass es in den Städten der Weissen kein gutes Leben gibt und wir Yanomami lieber im Wald bleiben sollten.»
Seinen Leuten berichtete er warnend von den Weissen, ersann Strategien des Schutzes und versuchte, gegen die Übermacht der Eindringlinge gewaltfreie Wege zu gehen. Er organisierte sein Volk, wuchs an der Gefahr, wurde Häuptling, Schamane – und internationaler Aktivist. Als solcher setzte er Land- und Selbstverwaltungsrechte für sein Volk durch, schuf mit der Organisation «Hutukara» eine eigene Vertretung der 40’000 Stammesmitglieder, machte die Yanomami mit seinem Buch «The Falling Sky» weltbekannt, engagiert sich für Klimaschutz und Menschenrechte. Er vernetzte sich mit weltweit agierenden Organisationen wie «Survival International» und der «Gesellschaft für bedrohte Völker» und organisierte den indigenen Widerstand der First Nations in Brasilien und Venezuela.
Davi ist zu verdanken, dass die Welt heute begreift, dass die indigenen Waldbewohner die erfolgreichsten Regenwaldschützer sind und internationale Unterstützung verdienen. Als Weltenwanderer stärkte er die Identität seines Volkes: «Unser Wald ist ein Ort der Schönheit. Aber die Strassen der Städte sind kein Platz für uns. Aus unserer Perspektive sind die Stadt-Menschen verrückt.»
In den letzten Jahren wurde Davi Kopenawa dringend gebraucht: Als Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens war, gerieten die indigenen Völker mehr denn je in existenzielle Gefahr.
«Fremde Menschen überfallen unser Land, vergiften die Flüsse, bringen Krankheiten und Tod», klagt er an. «Wir brauchen die Unterstützung von wohlmeinenden Stadtmenschen weltweit.»
Bolsonaros Regierung erlaubte es Goldsuchern, illegal im Yanomami-Land zu schürfen, forderte Siedler auf, indianisches Land für Viehfutteranbau zu roden und provozierte riesige Waldbrände. Die Gewalt gegen indianische Aktivisten nahm zu, zahlreiche Vertreter wurden ermordet, Ermittlungen behindert. Auch Davi Kopenawa wurde mit dem Tod bedroht – die Yanomami zogen sich immer weiter in den Regenwald zurück, ihre Tage schienen gezählt.
Auch kehrten die aggressiven Goldsucher heimlich zurück, vergifteten Wasser und Land weiter mit Quecksilber, verhinderten so den Anbau von Lebensmitteln und störten die Jagd.
Die indigenen Aktivisten setzten ihre letzten Hoffnungen auf den Präsidentschaftskandidaten Lula de Silva und unterstützten seine Wiederwahl – ein ungewöhnlicher, Schritt der Amazonasvölker. Zu seinem Amtsantritt 2023 erkannte Lula de Silva neun neue Indigenen-Schutzgebiete an, warnte vor einem Genozid, liess die Goldsucher vertreiben und gab Schutzmassnahmen für den Amazonas hohe Priorität. Doch der linke Präsident ohne Parlamentsmehrheit laviert zwischen den Menschenrechten für die indigenen Völker und der mächtigen rechten Agrarlobby, die zusammen mit den Bergwerkskonzernen immer weiter in den Amazonas vordringen will. Die Waldbewohner blieben bedroht.
Auch Goldsucher kehrten zurück, vergifteten Wasser und Land mit Quecksilber. 2022 starben 99 Kinder der Yanomami an Mangelernährung, Vergiftungen und Infektionen. Bis Ende Oktober 2023 stieg die Zahl der Todesfälle unter Kindern auf 215. Das uralte Volk ist auch unter Lula da Silva akut gefährdet.
Wir verteidigen den Wald, weil wir ihn lieben. Die lebendige Welt will uns indigene Völker, die aus ihrem Leib geboren sind!
Im April dieses Jahres suchte Davi Kopenawa Hilfe bei einer Privataudienz beim Papst. «Ich habe ihn gebeten, beim Präsidenten der Republik Brasilien zu intervenieren», erzählte er im Radio Vatikan. «Er möge ihn überzeugen, die Goldgräber und andere Ausbeuter zum Rückzug zu bewegen.» Der Papst versprach, auf Lula de Silva einzuwirken.
Kopenawa fordert Schutz für seine Kultur, Menschenrechte auch für andere ethnische Minderheiten, internationale Garantien für den eigenen Weg indigener Kulturen. Für ihn ist der Regenwald ein Organ der lebenden Erde.
«Der Wald ist uns tief vertraut, seine gute Energie, das saubere Wasser in den Wasserfällen. Er ist voller Tiere: Fische in den Flüssen, bunte Vögel, die durch die Luft fliegen. Ihr nennt es einen Wald, wir nennen es urichi: unmittelbare Schönheit.»
Der Amazonas als «Lunge des Planeten» brauche dabei besondere Aufmerksamkeit: «Wir verteidigen den Wald, weil wir ihn lieben. Die lebendige Welt will uns indigene Völker, die aus ihrem Leib geboren sind!»
Ein alter Mythos der Yanomami warnt davor, dass der Himmel auf die Erde falle, wenn die Wesen des Waldes zerstört werden. In seinem Ende August auf Deutsch erscheinenden Buch «Der Sturz des Himmels» (912 Seiten, Verlag Matthes & Seitz) greift Davi Kopenawa diese Prophezeiung auf. Er warnt sanft, aber deutlich: «Wenn die modernen Menschen weiterhin den Wald zerstören und uns vergessen, wird grosses Unglück über die nächsten Generationen kommen. Meine Botschaft lautet: Handelt! Jeder kann sich am Schutz der Erde beteiligen!»