Deutsche Versuche, den Nord Stream-Anschlag aufzuklären, scheitern an der Sabotage enger Verbündeter. Dabei ist die plausible These einer staatlichen US-Täterschaft grundsätzlich von den Ermittlungen ausgeschlossen.

Enge Verbündete Deutschlands blockieren die Aufklärung des Anschlags auf die Nord Stream-Pipelines und nennen die Erdgasleitungen ein „legitimes Ziel“. Wenn der Anschlag mit der klaren Absicht begangen worden sei, den Verkauf russischen Erdgases an Westeuropa zu unterbinden, dann sei er vollkommen gerechtfertigt, behauptete in der vergangenen Woche Tschechiens Präsident Petr Pavel. Zuvor hatte Polens Ministerpräsident Donald Tusk verlangt, alle, die jemals den Bau einer der zwei Nord Stream-Pipelines begünstigt hätten, sollten sich jetzt „entschuldigen und … schweigen“. Polen sabotiert seit einiger Zeit Ermittlungen deutscher Behörden, die den Anschlag einer Gruppe von Privatpersonen zuschreiben, darunter mehrere Ukrainer. Laut Medienberichten hatten der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sowie möglicherwiese auch polnische Stellen Kenntnis von den Anschlagsplänen. Bei alledem bestehen ernsthafte Zweifel an der deutschen Ermittlungsthese fort; gewichtige Argumente sprechen unverändert für einen staatlichen Täter – nach Lage der Dinge die Vereinigten Staaten. Ermittlungen, die in diese Richtung zielen, werden in Deutschland nicht geführt.

Staatliche Täterschaft plausibel

Plausibilität besitzen auch beinahe zwei Jahre nach den Anschlägen auf die Nord Stream-Pipelines Recherchen des investigativen US-Journalisten Seymour Hersh, der – basierend auf Informationen von Insidern – rekonstruiert hatte, die Erdgasleitungen seien im Auftrag der US-Regierung von US-Stellen gesprengt worden. Insbesondere entsprach das der von Anfang an von Experten geäußerten Auffassung, eine Aktion, bei der mit derart großen Mengen an Sprengstoff in so großer Wassertiefe operiert worden sei, könne nur von Personen mit Zugriff auf staatliche Kapazitäten durchgeführt werden. Die Sprengsätze seien im Juni 2022 während des Großmanövers BALTOPS an den Pipelines angebracht und im September 2022 unter Rückgriff auf eine Sonarboje gezündet worden. Hershs Recherchen sind von Politikern sowie von Leitmedien in Deutschland unmittelbar zurückgewiesen worden. Unvergessen ist etwa ein sogenannter Faktenfinder der öffentlich-rechtlichen ARD, der den renommierten US-Journalisten als „Meister … der Fantasien“ diffamiert hatte. Die Begründung: Hersh habe die „unwahrscheinlich[e]“ Behauptung getätigt, es sei „Sprengstoff in Pflanzenform“ eingesetzt worden.[1] Der „Faktenfinder“ war offenkundig unfähig, Hershs Formulierung „[to] plant shaped C4 charges“ korrekt als „C4-Hohlladungen anbringen“ zu übersetzen.[2]

Die Privattäterthese

Kurz nach der Publikation von Hershs Recherchen legten deutsche und US-amerikanische Medien eine alternative Theorie vor, die sich erklärtermaßen auf ungenannte Mitarbeiter der inkriminierten US-Regierung und auf Ermittlungen deutscher Behörden stützte. Demnach sei der großkalibrige Anschlag von nur sechs Privatpersonen durchgeführt worden – von „einer Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin“, hieß es. Die Gruppe habe am 6. September 2022 in Rostock eine kleine Jacht mit Sprengstoff beladen und sei von dort aus zu einer kleinen Rundreise in der Ostsee aufgebrochen. Nach Stationen auf Wieck auf der Halbinsel Darß, auf der dänischen Insel Christiansø, im schwedischen Sandhamn sowie im polnischen Kołobrzeg sei sie letzten Endes nach Rostock zurückgekehrt. Zwischendurch hätten die Taucher die Sprengsätze angebracht.[3] Experten äußerten sich in ersten Stellungnahmen skeptisch; so hieß es etwa, der Umgang mit Sprengstoff sowie das Tauchen in extremen Tiefen erforderten eine oft „jahrelange Ausbildung, insbesondere im Militär“.[4] Unklar blieb auch, wieso hochprofessionell operierende Täter Sprengstoffspuren und Fingerabdrücke in der Jacht nicht beseitigt haben würden. Die Durchsuchung der Jacht begann darüber hinaus erst am 18. Januar 2023 – Zeit genug, das Boot zwischendurch zu präparieren.

Mitwisser, Mittäter?

Während rasch die Vermutung geäußert wurde, es könne sich bei der offiziösen Tatversion um eine gezielt gelegte und genährte falsche Fährte handeln, setzten die deutschen Behörden ihre Ermittlungen gegen die Gruppe, die auf der Jacht in die Ostsee gestochen war, fort. Mitte August erweiterte ein Bericht des Wall Street Journal die Version um weitere Elemente. Demnach sei der Gedanke, die Nord Stream-Pipelines zu sprengen, im Mai 2022 entstanden, als einige ukrainische Militärs und Geschäftsleute die Erfolge der damaligen ukrainischen Gegenoffensive mit größeren Mengen alkoholischer Getränke feierten. Präsident Wolodymyr Selenskyj habe dem Plan zunächst zugestimmt, die Genehmigung aber auf eine Intervention aus Washington zurückgezogen. Daraufhin habe der damalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, die Planungen auf eigene Faust fortgesetzt.[5] Saluschnyj streitet dies selbstverständlich ebenso ab, wie Selenskyj seine ursprüngliche Involvierung in die Anschlagspläne in Abrede stellt. Auch Polens Regierung weist jede Form einer Mitwisserschaft oder gar Tatbeteiligung zurück. Dass es eine „Verabredung zwischen den höchsten Spitzen in der Ukraine und in Polen“ gegeben habe, den Anschlag auszuführen, hatte zuvor Ex-BND-Präsident August Hanning geäußert.[6]

Ermittlungen sabotiert

Nicht nur der Anschlag auf die Nord Stream-Pipelines selbst, auch seine Nachwehen bringen die Bundesregierung in eine immer bemerkenswertere Situation. Schon unmittelbar nach dem Anschlag hatte die Tatsache Aufsehen erregt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz es umstandslos hinnahm, dass US-Präsident Joe Biden auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 7. Februar 2022 ankündigte, im Fall eines russischen Einmarschs in die Ukraine werde es „kein Nordstream 2 mehr geben“.[7] Aktuell ruft Erstaunen hervor, dass ein von den deutschen Behörden verdächtigtes und mit Europäischem Haftbefehl gesuchtes Mitglied der Jacht-Crew offenkundig in der Lage war, sich aus seinem Wohnort westlich von Warschau in die Ukraine abzusetzen. In Warschau heißt es dazu, man habe den Mann nicht aufhalten können, da die deutsche Seite es versäumt habe, den Mann in das Schengen-Register einzutragen, auf das an der Grenze bei Kontrollen zugegriffen werde.[8] Träfe das zu, dann täten sich neue Fragen auf. Interessant ist nicht zuletzt, dass der Mann, wie auch zwei weitere Verdächtige, von deutschen Journalisten ohne weiteres kontaktiert werden konnten – vermutlich in der Ukraine –, dass sie aber von Kiew nicht an die deutschen Behörden überstellt werden. Demnach sabotiert Kiew Berlins Versuche, einen Anschlag auf die Energieinfrastruktur der Bundesrepublik aufzuklären.

„Entschuldigen und schweigen“

Ähnliches gilt für Polen, das unter anderem nicht bereit ist, Videoaufnahmen aus dem Hafen von Kołobrzeg, die zur Aufklärung des Geschehens um die erwähnte Jacht beitragen könnten, an die deutschen Behörden weiterzugeben. Im Hinblick auf vorsichtige Kritik an der polnischen Verhinderungstaktik erklärte Ministerpräsident Donald Tusk kürzlich auf X: „An alle Initiatoren und Schirmherren von Nord Stream 1 und 2: Das einzige, was ihr jetzt tun solltet, ist, euch zu entschuldigen und zu schweigen.“[9] Tschechiens Präsident Petr Pavel hat jüngst die Nord Stream-Pipelines zu einem legitimen Angriffsziel erklärt. Sollte der Anschlag mit der Absicht begangen worden sein, die Erdgasflüsse aus Russland nach Europa und die folgende Bezahlung des Gases an die liefernden russischen Unternehmen zu verhindern, dann sei dies „ein legitimes Ziel“, äußerte Pavel.[10] Dass enge Verbündete Anschläge auf die deutsche Energieinfrastruktur für zulässig erklären und Kritik daran komplett zum Schweigen bringen wollen, zeigt, dass die weitreichende Kontrolle über die EU, die Berlin einst besaß, mit hohem Tempo schwindet.

 

[1] ARD blamiert sich mit Übersetzungsfehler. t-online.de 24.02.2023.

[2] S. dazu Tatort Ostsee (III).

[3] S. dazu Tatort Ostsee (IV).

[4] Wie plausibel sind die Nord-Stream-Berichte? zdf.de 07.03.2023.

[5] Bojan Pancevski: A Drunken Evening, a Rented Yacht: The Real Story of the Stream Pipeline Sabotage. wsj.com 14.08.2024.

[6] „Es gab Verabredungen zwischen Selenskyj und Duda, den Anschlag auszuführen“, behauptet der Ex-BND-Chef. welt.de 20.08.2024.

[7] Biden nach Gespräch mit Scholz: „Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben“. rnd.de 08.02.2024.

[8] Erster Haftbefehl wegen Nord-Stream-Anschlägen. tagesschau.de 14.08.2024.

[9] „Sich entschuldigen und schweigen“. Donald Tusk kritisiert Nord-Stream-Befürworter. Tagesspiegel.de 17.08.2024.

[10] Ketrin Jochecová: If Ukrainians did destroy Nord Stream, they may have been justified, Czech president argues. politico.eu 21.08.2024.

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