Der Begriff „Multikulturalität“ ist Anfang der 90er Jahre im deutschsprachigen Raum bekannt geworden und prägt seitdem vorrangig die Diskurse moderner Einwanderungsgesellschaften. Es handelt sich dabei um die politische und soziale Absicht, das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen innerhalb einer Gesellschaft sicherzustellen. Auch wenn die Definition ein hehres Ziel verfolgt, so verbirgt sich hinter dem Konzept ein Grenzdenken, das nicht zuletzt in Anbetracht unserer heutigen Lebenswelten als kritikwürdig und problematisch erscheint. Ein Umdenken ist längst überfällig.

Von Sarah Ostrycharczyk

Zumal wegweisende Gedankengänge bereits existieren. So hat Wolfgang Welsch 1995 die Idee der „Transkulturalität“ als ein alternatives Kulturverständnis ausgeführt, das die Verflechtung und Heterogenität von Kulturen in den Blick nimmt. Multikulturalität basiert hingegen auf der traditionellen Auffassung, dass Kulturen an Nationalstaaten, eine geographische Lage und eine Muttersprache gekoppelt sind. Kulturelle Vielfalt entsteht damit durch eine Ko-Existenz in sich homogener und daher geschlossener Einzelkulturen. Auch, wenn das Paradigma der Multikulturalität nach Möglichkeiten eines respektvollen, friedlichen, anerkennenden Kontakts zwischen Kulturen sucht, so attestiert Welsch dem Konzept –wie auch der Interkulturalität– eine grundlegende Ineffizienz. Die Beschreibung von Kulturen als begrenzte Entitäten ist seines Erachtens falsch und obsolet.

Die Verfassung moderner, globaler Gesellschaften zeigt sich hingegen in der Überschreitung, sie ist transkulturell. Wir leben in einer Netzwerkgesellschaft und damit dauerhaft in der Entgrenzung. Globale wirtschaftliche Wechselbeziehungen, digitale Vernetzung, Migrationsbewegungen: Es sind insbesondere kulturelle Verflechtungen, die unsere Gegenwart prägen. Vielfalt wird so zu einem Resultat kultureller Austauschprozesse und zeigt sich nicht in einer ko-existierenden, sondern in einer hybriden Vielheit. Hierfür reicht oftmals allein der Blick auf die Herkunft des eigenen Vor- und Nachnamens. Bei Menschen mit Migrationshintergrund werden hybride Identitäten besonders evident, da eine einzelne, konkrete kulturelle Zuordnung aufgrund des Grads an ethnischer Vielfalt, mit der sie im Rahmen ihrer Sozialisation in Berührung kommen und sich identifizieren, unmöglich erscheint. Da Transkulturalität, im Gegensatz zu Multikulturalität, die Heterogenität von Kulturen berücksichtigt, handelt es sich hierbei um einen inklusiven Ansatz.

Kollektive kognitive Dissonanz

Das der Multikulturalität zugrundeliegende Bild von abgeriegelten Nationalkulturen wird unserer Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Dennoch fungiert das Prinzip der Multikulturalität in weiten Teilen als vorherrschendes Konzept: Nicht nur der Blick in gängige Medien zeugt von seiner Omnipräsenz, auch Parteien dient es als politische Forderung (vgl. bpb), insofern sie dem entsprechenden politischen Spektrum angehören. Hier reiht sich ein, dass ebenso die Suche nach „Transkulturalität“ im Duden und beispielsweise auch im Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung fehl führt. In beiden Fällen ist allein das Lemma „Multikulturalität“/ „Multikulturalismus“ zu finden.

Dass sich alternative, zeitgemäße Kulturmodelle nicht im kollektiven Bewusstsein merklich niedergeschlagen haben, ist ein Indiz dafür, dass wir in diesem Fall der Globalisierung und damit bedingten Weltläufigkeit nicht mit der gebotenen geistigen Weltläufigkeit begegnen. Wir befinden uns, mit den Worten Martin Burckhardts gesprochen, in einer kognitiven Dissonanz.

Dabei nehmen wir die Möglichkeiten einer vernetzten, entgrenzten Welt allzu gerne an. Über Social Media teilen wir minutiös unsere Meinung, Erfahrung, unseren Alltag, Reisen oder Lifestyle. Wir agieren in der Netzwerkgesellschaft, erneut mit Burckhardt gesprochen und im transkulturellen Sinn, als Dividuum. Das Moment der Entgrenzung ist vor allem dann attraktiv, wenn wir es kontrolliert in der Hand haben: wenn wir selbst entscheiden können, wann und welchen Content wir mit dem Rest der Welt teilen; solange wir uns in anderen Ländern so bewegen, wie es uns genehm und das Fremde ein Faszinosum ist.

Das bereitwillige Teilen hat aber seine Grenzen. Vor allem dann, wenn das Fremde sich in unserem Lebensraum autonom und damit unkontrolliert bewegt. Die Schwelle zwischen Faszinosum und Tremendum ist leicht überschritten. Um hier wieder Herr der Lage werden, werden Begriffe wie „Gastarbeiter“ oder „Leitkultur“ bemüht, die eine genaue Rollenverteilung vorsehen: Das Hausrecht liegt beim Gastgeber und dieser bestimmt über Zutritt und Verweildauer. Eine Leitkultur haben andere Kulturen zu akzeptieren und es gilt, sich hieran auszurichten. Kurzum: Mit beiden Begriffen wird eine Hierarchie statuiert, um sich des Fremden zu bemächtigen.

Auch, wenn Multikulturalität und die Idee der Leitkultur als gegensätzliche Konzepte gelten, so weisen sie dennoch eine gemeinsame Basis auf: Ihnen liegt ein separatistisches Kulturverständnis zugrunde. Damit führt der multikulturelle Ansatz die öffentliche Diskussion und kollektive Wahrnehmung in eine Sackgasse.

Ethik des Wissens

Wir können uns der Netzwerksgesellschaft nicht entziehen. Vielmehr sind in den kommenden Dekaden tiefgreifende Bewegungsströme und Entgrenzungserfahrungen absehbar: Laut Schätzungen der Weltbank besteht die Gefahr, dass bis 2050 bis zu 143 Millionen Menschen flüchten müssen, da der Klimawandel verheerende Auswirkungen auf ihren Lebensraum haben wird. Damit steigt auch das Risiko, dass sich bestehende Konflikte verschärfen und neue hinzukommen (vgl. Welthungerhilfe).

Auf vielerlei Ebenen entwickeln wir bereits Lösungen, um globalen Herausforderungen zu begegnen. Es geht aber auch darum, unsere Geisteshaltung nachhaltig zu kultivieren, die kognitive Dissonanz abzubauen und letztlich auch auf dieser Ebene weitere Entgrenzungserfahrungen im Sinne des Gemeinwohls zu verarbeiten. Lebensraum wird angesichts der klimatischen Veränderungen zu einer begrenzten Ressource. Deutungskonzepte, die kulturelle Schranken in unserem Kopf fördern, können daher als eine fatale Triebfeder wirken.

Wissen und uns zur Verfügung stehende Erkenntnisressourcen kommen angesichts dessen eine ethische Bedeutung zu. Dies bedeutet, dass wir eine Verantwortung für kollektive Deutungsschemata übernehmen, diese überdenken und an unseren realweltlichen Bedarf anpassen müssen. Miranda Fricker zeigt in ihrem Werk „Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens“ eindrücklich, wie hermeneutische Lücken, d.h. fehlende Begrifflichkeiten, uns daran hindern, Erfahrungen sinnvoll einzuordnen und sogar gerecht zu handeln. So konnte auf das Phänomen des Stalkings erst ab dem Moment adäquat, mithin strafrechtlich, reagiert werden, als es als ein Tatbestand anerkannt, somit ein entsprechendes Deutungsschema etabliert sowie letztlich auch eine juristische Leerstelle gefüllt wurden. Betroffene Opfer verfügen damit über einen Bezugsrahmen, der zuvor fehlte, um das ihnen widerfahrene Unrecht geltend zu machen.

Dies legt nicht nur nahe, welches Potenzial, sondern auch welche Macht der Einführung gewisser Begriffe als kollektive Deutungsressource innewohnt. Der Übergang von der reinen deskriptiven, linguistischen Ebene hin zu Konsequenzen für unserer tatsächliches Handeln wird sichtbar, wir werden unserer Lebenswelt und schließlich unseren Mitmenschen im wahrsten Sinne des Wortes gerecht. Laut Fricker nehmen gewisse gesellschaftliche Institutionen und Bereiche, wie Politik, Journalismus oder aber Wissenschaft eine zentrale Funktion dabei ein, Deutungsschemata ins kollektive Bewusstsein zu erheben. So kodifizieren, standardisieren und normieren beispielsweise Referenzwerke wie der Duden unseren Sprachgebrauch. Als institutionalisierte Deutungsressource dienen sie der Sprachgemeinschaft als eine kollektive Quelle und wirken damit auf die Worte ein, mit der wir unsere Welt erschließen.

Ein transkulturelles Verständnis birgt das Potenzial, kulturelle Schranken in unserem Kopf zu überwinden, künftige Entgrenzungserfahrungen sinnvoll einzuordnen, unserer Welt und der kulturellen Dynamik auf eine humane Weise gerecht zu werden. Hierfür ist es notwendig, dass wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen und notwendige hermeneutischen Lücken füllen. Denn es geht um eine Zukunft in Würde und Frieden. Transkulturalität als Erkenntnisschema im kollektiven Bewusstsein zu verankern ist nicht nur ein gemeinschaftliches, es ist auch ein zutiefst ethisches Ziel.