Nestlé, der weltgrösste Kaffeekonzern, verspricht, ab 2025 nur noch «verantwortungsvoll» beschafften Kaffee zu verkaufen. Der 2010 lancierte Nescafé Plan soll weltweit das Leben von Hundertausenden Kaffeebäuerinnen und -Arbeitern verbessert haben.
Ein neuer Public Eye Bericht zeigt auf: In Brasilien und Mexiko können diese vom Kaffeeanbau kaum leben – daran hat auch Nescafés Vorzeige-Programm nichts geändert.
Während Millionen Kaffeebäuerinnen und -bauern weltweit in bitterer Armut leben und unzählige Arbeiter*innen zu unwürdigen Bedingungen auf Kaffeefarmen schuften, werden mit dem Verkauf von Kaffee jedes Jahr mehrere Hundert Milliarden US-Dollar umgesetzt. Der globale Markt wächst kontinuierlich, und bis 2050 könnte sich die Nachfrage verdoppeln; insbesondere Detailhändler und Röstkonzerne erzielen anhaltend hohe Gewinne.
Das profitable Röstgeschäft ist weltweit in den Händen von immer weniger multinationalen Getränke- und Lebensmittelkonzernen. Unangefochtene Nummer 1 ist der Westschweizer Konzern Nestlé, vor dem US-amerikanischen Konzern Starbucks und dem niederländischen Konglomerat JDE Peet’s.
Nestlé röstet mindestens jede zehnte geerntete Kaffeebohne auf der Welt und erzielt mit dem Wachstumsgeschäft Kaffee, seiner grössten Produktsparte, ein Viertel des Konzernumsatzes: 22,4 Milliarden Franken im Jahr 2021. Der Export seiner Nespressokapseln, die ausschliesslich im Inland hergestellt werden, trägt dazu bei, dass die Schweiz gemessen am Handelswert zur Exportweltmeisterin von geröstetem Kaffee wurde. Die wichtigste Kaffeemarke des Konzerns aber ist Nescafé: Deren Fabriken, die hauptsächlich löslichen Pulverkaffee, aber unter der Marke Dolce Gusto auch kostengünstigen Kapselkaffee herstellen, verschlingen weltweit mindestens 80% der von Nestlé beschafften Kaffeemenge – mehr als 800.000 Tonnen jährlich. Vor allem dank der weltgrössten Kaffeemarke lässt Nestlé, insbesondere beim Verkauf von Pulverkaffee, die Konkurrenz weit hinter sich.
Schweizer Kaffee – what else?
Röstkonzerne wie Nestlé kaufen ihren Kaffee in der Regel nicht direkt von Produzent*innen oder Bauernkooperativen, sondern bei lokalen Zwischenhändlern oder internationalen Händlern, also wiederum bei Grosskonzernen, die den Ex- und Import und häufig auch die Primärverarbeitung, zum Teil sogar den Anbau in den Produktionsländern kontrollieren.
Der weltgrösste Kaffeehändler, die Neumann Kaffee Gruppe mit Sitz in Hamburg, steuert in Zug einen grossen Teil seines Handelsgeschäfts. Die fünf nächstgrössten Konzerne – Ecom, OFI, Sucafina, LDC und Volcafe – haben entweder ihren Sitz oder ihr operatives Zentrum in der Schweiz. Das gilt auch für viele kleinere Kaffeehändler. Unseren Schätzungen zufolge – offizielle Zahlen gibt es nicht – wird über die Hälfte des globalen Rohkaffeevolumens über die Schweiz gehandelt. Dies macht die Alpenrepublik zum grössten Kaffeehandelsplatz der Welt.
Obwohl der Kaffee dabei in den meisten Fällen physisch nicht in die Schweiz gelangt, ist das Land heute – gemessen am Handelswert – nach Brasilien auch die zweitgrösste Kaffeeexporteurin. Und mit einem Exportwert von fast 3,3 Milliarden Franken im Jahr 2022 ist das Land sogar Exportweltmeister von geröstetem Kaffee. Dieser Wert ist beinahe 1,5-mal so hoch wie die Werte für die Exporte der grössten Konkurrenten Italien und Deutschland. Die Ausfuhrmenge ist seit 2002 fast um den Faktor 19 auf 109,4 Millionen Kilogramm explodiert, dazu hat sich der Wert pro Kilogramm verdoppelt. Massgeblichen Anteil an diesem beispiellosen Aufschwung hat Nespresso, dessen weltweiter Umsatz seit 2002 um das 18-Fache gestiegen ist und dessen Fabriken in der Schweiz unseren Schätzungen zufolge mehrheitlich für den Export jährlich etwa 7 Millionen Kapseln produzieren.
Nescafé trinken und die Welt verbessern?
Auf der Nescafé-Website verspricht der Schweizer Konzern: «Mithilfe unserer Grösse möchten wir die Welt zum Guten verändern.» Dies hauptsächlich mit seinem Vorzeige-Nachhaltigkeitsprogramm, dem Nescafé Plan, der 2010 lanciert wurde, um weltweit die Wertschöpfung «vom Produzenten über den Konsumenten bis hin zu uns» zu verbessern, wie es der damalige Nestlé-CEO und heutige VR-Präsident Paul Bulcke formuliert hatte. 2022 verkündete Nestlé, dass im Rahmen des Nescafé Plan Investitionen von über 350 Millionen Franken getätigt, 270 Millionen Kaffeesetzlinge verteilt und 900.000 Schulungen durchgeführt worden seien. Damit sei das Leben und das Einkommen unzähliger Bäuerinnen und Bauern vor allem in Brasilien, Vietnam, Mexiko, Indonesien, Honduras, Côte d’Ivoire und Kolumbien verbessert worden. Gleichzeitig kündigte der Konzern an, den Nescafé Plan mit neuem Fokus auf klimafreundlicher Landwirtschaft bis 2030 fortzusetzen. Mit jeder getrunkenen Tasse Nescafé könnten die Konsument*innen «die Welt ein kleines bisschen besser» machen, heisst es in der Werbung. Für betroffene Kaffeebäuerinnen und -bauern sieht die Realität jedoch anders aus, wie wir in der Reportage aus der Kaffeeregion Soconusco im mexikanischen Bundesstaat Chiapas aufzeigen. Dort sind heute viele vom Programm bitter enttäuscht und protestieren gegen die desaströse Einkaufspolitik von Nestlé, die sie in Armut hält und den Jungen die Zukunftsperspektive raubt.
Die Kaffeebäuerinnen und -bauern in Chiapas müssen mit billigem Robusta-Kaffee konkurrieren, den Nestlé in grossen Mengen aus Vietnam und vor allem Brasilien importiert. Dank Bewässerung, viel Dünger und schattenlosen Intensivmonokulturen wird der Robusta-Kaffee, den Nestlé zur Herstellung des Nescafé-Pulverkaffees benötigt, dort besonders kostengünstig produziert. Robusta-Sorten gelten im Vergleich zu Arabica-Sorten als widerstandfähiger und pflegeleichter, aber auch als qualitativ minderwertiger. Fast 70% des weltweiten Robusta-Kaffees stammen heute aus Vietnam und Brasilien, ein Fünftel der Gesamtmenge allein aus dem brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo, wo das im Gegensatz zu den meisten anderen Kaffeeanbaugebieten flache Land eine Teilmechanisierung der Ernte erlaubt.
Auch Nestlé beschafft in Espírito Santo grosse Mengen des Kaffees, der in Brasilien Conilon genannt wird. Zwei Journalistinnen des brasilianischen Reporterkollektivs Repórter Brasil sind für uns während der Erntesaison 2023 in die Region gereist, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen der laut Nestlés Angaben ebenfalls «verantwortungsvoll» produzierte Kaffee dort angebaut wird.
Der Preis der Mechanisierung
Im Mai 2022 verlor die damals 41-jährige Kaffeebäuerin Rogéria Silveira ihren linken Unterarm. Die Plane der Kaffee-Erntemaschine auf ihrer Farm in Espírito Santo war verrutscht; um sie wieder zurechtzurücken, musste sie ihren Arm in das Gerät stecken. Doch ihre Hand verhakte sich, in Panik liess sie die Steuerung los und dann «drehte sich der Zylinder und riss mir den Arm ab», erzählt Rogéria Silveira. Im Juni desselben Jahres verunfallte auch der 24-jährige Landarbeiter Pablo Henrique Souza Fabem. Er musste mit seinen Kollegen die Plane mit einem Seil verstärken, weil die darauf liegenden Kaffeezweige vom Regen des Vortags zu schwer waren. «Es ging alles sehr schnell», sagt Claudio Rizzo, Inhaber der Farm Santa Luzia in Nova Venécia, wo sich der Unfall ereignete. «Seil und Plane wickelten sich um sein Bein, und er wurde in die Maschine hineingezogen.» Rizzo meint, er habe sich beeilt, die Maschine auszuschalten, was mangels Notfallknopf aber nicht sofort klappte. «Pablos Bein wurde abgetrennt, und er erlitt schwere innere Verletzungen», so der Kaffeebauer. Am nächsten Tag verstarb der Arbeiter im Krankenhaus.
In der Erntesaison 2022 kam es in Espírito Santo nach Angaben der Behörden zu insgesamt sieben Amputationen und zwei Todesfällen. Von Januar bis Juli 2023 wurden in der Region wiederum 16 Unfälle registriert. Die umgebauten und ursprünglich für die Bohnenernte entwickelten Maschinen wiegen etwa 4 Tonnen und verfügen über bis zu 100 Meter lange Planen, auf die Arbeiter*innen die Zweige der Kaffeepflanzen werfen. Das Gerät zieht die Plane ein, zerstückelt die Zweige und separiert den Kaffee. Obwohl diese Geräte schon über zehn Jahre eingesetzt werden, wurden die Behörden erst kürzlich durch vermehrte Unfallmeldungen auf das Problem aufmerksam. «Die Maschine hat oft Mühe, die Kaffeezweige einzuziehen, der Arbeiter muss dann nachhelfen», erklärt Staatsanwältin Fernanda Barreto Naves in São Mateus. Unfälle betreffen daher meist die oberen Gliedmassen. «Viele dieser Maschinen verfügen nicht einmal über eine Notfallabschaltung», so die Staatsanwältin.
Die Erntemaschinen, über die vor allem die grösseren Farmen verfügen, sowie die chemieintensive Produktion ermöglichen erhebliche Kosteneinsparungen, sodass die Bäuerinnen und Bauern insgesamt etwas besser dastehen als diejenigen im mexikanischen Chiapas. Doch auch ihr Einkommen ist bescheiden. Eine aktuelle Analyse der Global Coffee Platform deutet darauf hin, dass besonders kleinere Produzent*innen mit weniger als 50 Hektar Land nicht genug verdienen, um einen würdigen Lebensstandard zu halten. Aufgrund der geringen Anzahl untersuchter Robusta-Betriebe lassen sich die Ergebnisse nicht verallgemeinern. Aber sie sind ein Hinweis darauf, dass Conilon-Bäuerinnen und -Bauern in Brasilien deutlich weniger verdienen als Arabica-Produzent*innen.
Daran vermag offenbar auch der Nescafé Plan nichts zu ändern, wie mehrere Teilnehmende des Programms bestätigen. Im Gegenteil: Weil Nestlé respektive seine Zwischenhändler – darunter sind lokale Zwischenhändler und internationale Handelskonzerne wie Volcafe aus Winterthur – häufig tiefere Preise bezahlten, würden sie meist andere Abnehmer bevorzugen, so die Bäuerinnen und Bauern, die im Gegensatz zu den Produzent*innen in Chiapas zwischen mehreren Robusta-Abnehmern auswählen können.
Wer kann, sucht eine andere Arbeit
Idalino Agrizzi schätzt, dass er seit der Mechanisierung seiner Farm etwa dreimal weniger Erntehelfer*innen benötigt. Dennoch klagt er wie sämtliche befragten Nescafé-Plan-Bäuerinnen und -Bauern in der Region über einen akuten Arbeitskräftemangel. Erntearbeiter João Santos erklärt denn auch, dass er und seine Kolleg*innen wenn immer möglich eine andere Arbeit suchten. Die Löhne seien tief und die Kaffee-Ernte sehr anstrengend. Ausserdem gebe es keinerlei Lohnsicherheit, weil – wie weltweit üblich– nach der gepflückten Menge Kaffeekirschen und bei der teilmechanisierten Ernte nach geschnittenen Kaffeesträuchern gezahlt werde. Diese variiere stark, je nach Wetter, der Produktivität der jeweiligen Pflanzen und der körperlichen Belastbarkeit der Arbeiter*innen. Hinzu kommen intransparente Lohnabzüge für die meist sehr rudimentären Unterkünfte und die häufig einseitige, ungesunde Verpflegung.
Systematische Erhebungen zum Verdienst der Erntearbeiter*innen in Espírito Santo fehlen. Erhebungen aus Minas Gerais, wo ein Grossteil des brasilianischen Kaffees produziert wird, zeigen aber, dass die Durchschnittslöhne bei Weitem nicht existenzsichernd sind. Aus den Gesprächen vor Ort wird klar, dass für die Arbeiter*innen nur ein Bruchteil der Wertschöpfung abfällt: Sie erhalten umgerechnet etwa 10 Franken für vier Säcke (240 Kilogramm) Kaffeekirschen, die dann zu einem 60-Kilo-Sack Rohkaffee verarbeitet werden. Der Zwischenhändler bezahlt den Kaffeebäuerinnen und -bauern dafür ungefähr 120 Franken und verkauft den Sack nach der Aufbereitung der Kaffeebohnen für etwa 170 Franken an Nestlé weiter, der daraus schätzungsweise 25 Kilogramm Pulverkaffee herstellen kann. Der Verkaufspreis dieser Menge an fertigem Nescafé im Einzelhandel beläuft sich je nach Produkt geschätzt auf etwa 700 bis 1000 Franken in Brasilien oder 1700 bis 2000 Franken in der Schweiz.
Der Arbeiter João Santos (Name auf Wunsch geändert) erklärt, dass die Ernte von Hand anstrengender sei, die mechanisierte aber gefährlicher; wegen der Sicheln, mit denen er und seine Kolleg*innen die Kaffeezweige abschneiden, sowie der Erntemaschinen, die eine Gefahr seien für alle, die sie bedienen oder die sich in der Nähe der Plane aufhielten. Zwar haben sich die Kaffeeproduzent*innen und die Maschinenhersteller im Herbst 2022 freiwillig zu minimalen Sicherheitsstandards inklusive einer Vorrichtung, um die Maschine im Notfall zu stoppen, verpflichtet. Doch gemäss den lokalen Behörden werden diese kaum umgesetzt. Auch auf Agrizzis Nescafé-Plan-Farm wurde im Juli 2023 der Einsatz nicht sicherheitskonformer Maschinen festgestellt. Produzent Fernando Catelan, der Nestlé ebenfalls mit Robusta beliefert, ist einer der wenigen, welche die alten Maschinen durch regelkonforme ersetzt haben. Danach seien die Unfälle um 90% zurückgegangen, sagt der Produzent. Die mangelhaften Maschinen bleiben jedoch meist im Umlauf. Auch Fernando Catelan hat seine verkauft – an einen anderen Bauern in der Gegend.
Sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen
Die Region ist nicht nur geprägt durch tiefe Löhne und ein hohes Unfallrisiko, es kam auch wiederholt zu Verstössen gegen das Arbeitsrecht. 2022 und 2023 wurden mindestens zwei Farmbesitzer, die Teil des Nescafé Plan sind, von den Behörden gebüsst, etwa weil sie den Arbeiter*innen keine Toiletten zur Verfügung gestellt, nicht die nötige Schutzausrüstung bereitgestellt oder ihnen bei anstrengenden Tätigkeiten keine Ruhepausen genehmigt hatten. In den beiden Jahren wurden zudem 30 Kaffeearbeiter*innen in Espírito Santo aus sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen befreit. In ganz Brasilien waren es im selben Zeitraum mehrere Hundert, und Expert*innen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Betroffene erhalten kein Trinkwasser, wohnen in primitivsten Unterkünften, zum Teil ohne Toiletten, arbeiten ohne Vertrag oder werden unregelmässig bezahlt. Einigen wird zudem der Pass abgenommen, sodass sie auf den Farmen festsitzen.
Solche Zustände wurden wiederholt auch auf zertifizierten Farmen festgestellt, die Kaffeehändler aus der Schweiz belieferten, im Jahr 2019 auch auf einer mit dem Nespresso-AAA-Nachhaltigkeitssiegel ausgezeichneten Farm. Ob Nestlé 2022 und 2023 in Espírito Santo bei betroffenen Produzent*innen Kaffee eingekauft hat, lässt sich nicht eruieren.
Nachhaltigkeit zum Billigtarif
Als «Nachweis», dass der unter dem Nescafé Plan beschaffte Kaffee «nachhaltig» ist, verwendet der Konzern in erster Linie die Zertifizierung durch 4C. Dieser Branchenstandard wurde in den Nullerjahren von dem von Röst- und Handelskonzernen gegründeten Deutschen Kaffeeverband und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung lanciert und von Nestlé miterarbeitet. Die Anforderungen des Codes gehen kaum über gesetzliche Vorschriften hinaus, und Studien zeigen, dass seine Durchsetzung im Vergleich zu anderen Zertifizierungen schwach ist. Die Gründer zeigten sich damals überzeugt, dass gerade ein solch niederschwelliges Angebot – für Röstkonzerne wie Nestlé ist die 4C-Zertifizierung vergleichsweise kostengünstig – es ermöglichen werde, ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit in den Massenmarkt zu bringen. 4C sah sich damals selbst als «Einsteigerstandard», der Unternehmen dazu bewegen werde, später auf stärkere Zertifizierungen zu wechseln.
Im Fall von Nestlé sollte sich diese Voraussage jedoch nicht bewahrheiten: Der Konzern stützt sein Versprechen, bis 2025 zu 100% «verantwortungsvoll» beschafften Kaffee zu verwenden, bis heute in allererster Linie auf 4C. Allein 2022 kaufte Nestlé 629.000 Tonnen an 4C-Rohkaffee.
Auch der Kaffee, den Nestlé im mexikanischen Chiapas und in Espírito Santo unter dem Nescafé Plan beschafft, ist 4C-zertifiziert und damit angeblich «nachhaltig». Vor Ort zeigte sich jedoch ein anderes Bild: Bäuerinnen und Arbeiter profitierten kaum oder gar nicht von der Zertifizierung, deren Umsetzung scheinbar auch wenig kontrolliert wird.
So bestätigten die Bäuerinnen und Bauern in Espírito Santo, dass es zwar Audits gebe, diese aber vergleichsweise «entspannt» seien. Auch sogenannt «unangekündigte» Audits würden mindestens 24 Stunden im Voraus kommuniziert – eine absurde Praxis, die schon lange kritisiert wird. Punkto Arbeitsbedingungen und Entlöhnung von Arbeitskräften sind die Anforderungen von 4C schwach, wie Expert*innen vor Ort bestätigen. Und generell erschwert bis verunmöglicht die fehlende Transparenz unabhängige Kontrollen, gibt die Organisation 4C doch die Namen der zertifizierten Farmen nicht bekannt.
Insbesondere aber macht der freiwillige und jeweils vor Ort ausgehandelte 4C-Preisaufschlag weder für die zertifizierten Bäuerinnen und Bauern in Mexiko noch in Brasilien einen Unterschied. In Espírito Santo erhalten sie gerade mal 1 Rappen pro Kilogramm Kaffee. Die für die Zertifizierung notwendigen Massnahmen sind aber mit Kosten verbunden, und der Preis für den Kaffee ist schlicht zu tief, als dass sie ihr Einkommen damit verbessern könnten, wie sie bestätigen.
Studien zeigen, dass freiwillige Zertifizierungen generell bestenfalls marginale positive Auswirkungen auf das Einkommen von Kaffeebäuerinnen und -bauern haben. Hinzu kommt, dass anforderungsarme Standards wie 4C die Wirksamkeit von Zertifizierungen grundsätzlich untergraben: Das Streben der Röstkonzerne nach möglichst 100% «verantwortungsvollem» Kaffee zum Billigtarif hat damit nicht Nachhaltigkeit im Massenmarkt, sondern einen Unterbietungswettbewerb bei den Zertifizierungen ausgelöst, der zu schädlichen Qualitätseinbussen führt. Nestlé und 4C sind das Paradebeispiel für diesen fatalen Mechanismus. Der Schweizer Konzern verspricht Nachhaltigkeit im Kaffeeanbau, priorisiert aber in der Praxis den Einkauf des Rohstoffs zu möglichst billigsten Preisen.
Für Produzent*innen bedeutet dies anhaltend tiefe Einkommen, die wiederum tiefe Löhne für Arbeiter*innen und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen auf den Plantagen zur Folge haben. Und in Chiapas müssen Kleinbäuerinnen und -bauern zusehen, wie ihre Kinder auswandern, weil sie im Kaffeeanbau, der ihre Familien einst mit Stolz erfüllte, keine Zukunft mehr sehen.