„Was lesen Sie da?“, fragt mich ein Mann an der Straßenbahnhaltestelle, als ich just Dror Mishanis auf Deutsch gerade erschienenes Buch „Fenster ohne Aussicht, Tagebuch aus Tel Aviv“ gezückt habe. Seit dem 7. Oktober 2023 führe ich selbst Tagebuch, um irgendwie mit „dem Krieg“ zurechtzukommen, also habe ich ohne Zögern 26 Euro für das Bändchen hingelegt.

Ich schaue hoch: Der Mann, seine so prompte Ansprache und sein gebrochenes Deutsch verblüffen mich, vielleicht ein Syrer oder Iraner?  – Normalerweise falle ich mit einem Buch in der Hand zwischen allen Handyspieler:innen nicht auf. Ich nenne den Titel und erläutere, dass es ein Tagebuch eines Israelis während des jetzigen Gazakrieges sei, eines Israelis, dessen Empathie mit den Menschen in Gaza ihn in Gefühls-, Gedanken- und Beziehungskonflikte führt.

„Was ist Aussicht?“, fragt mich der Mann und lädt mich mit einer Handbewegung ein, in der gerade angekommenen Straßenbahn ihm gegenüber zu sitzen. Ich hebe zu einer Interpretation des Titels an, bevor ich auch nur eine Zeile des Buches gelesen habe. Der Autor sähe wohl diesen Krieg ohne einen positiven Blick in die Zukunft, ohne Hoffnung. Verstört sehe ich, wie meinem Gegenüber Tränen in die Augen treten. „Sind Sie Palästinenser?“ Er verneint. „Ich verstehe nicht ohne Aussicht.“, wiederholt er. Ich führe mit weiteren einfachen Worten aus was ich meine. Die Bahn hält an der nächsten Haltestelle. Der Mann springt überraschend auf, sagt Auf Wiedersehen und geht.

Ich verschlinge das Buch in wenigen Stunden und setze rund fünfzig Marker an Stellen, die mich besonders berühren, meinen eigenen Tagebucheinträgen zu Ereignissen während des Gazakrieges ähneln.

Der Titel spielt allerdings, anders als von mir vorzeitig interpretiert, auf die schwarze Wand an, die der Krimi-Autor Dror Mishani von seinem Arbeitszimmer aus erblickt, die Rückseite des Gebäudes, in dem 1948 David Ben Gurion den Staat Israel proklamierte.

Der Autor wird auf einem Krimi-Festival in Frankreich früh morgens mit einer Nachricht seiner Frau geweckt „Hier geht’s drunter und drüber, aber so richtig.“ Das verstört ihn nicht, bis er auf dem Computer israelische Nachrichten sieht und begreift, dass dieses Mal etwas anderes losgeht. Im Flugzeug kommen ihm die ersten Zeilen eines Artikels wie von selbst:

Vielleicht sollten wir Gaza nicht ausradieren? … Vielleicht sollten wir die Härte des Schlags, den wir erlitten haben, anerkennen, das Ausmaß des Schmerzes, sollten die Niederlage eingestehen und nicht versuchen, sie umgehend durch einen vorgeblichen Sieg zu tilgen, der in Wahrheit nur eine Fortschreibung des Leids wäre, seine Übertragung an einen anderen Ort, nach Gaza mit seiner Bevölkerung – und damit nichts anderes als seine Perpetuierung? Denn klar ist, dieses Leid wird aus einem zerstörten und ausgehungerten Gaza gestärkt zu uns zurückkehren, in ein zwei oder fünf Jahren…

In sechs Kapiteln geht er von „Schock und Mobilisierung“ ab dem 7. Oktober durch die nächsten Phasen des Krieges und beendet sein Buch im März mit der Schlussfolgerung „Mit offenen Augen leben“. Er legt sich mit Mutter und Bruder in der Beurteilung der israelischen Reaktion auf den grauenvollen Hamas-Übergriff an: Sie befürwortet, dass seine Tochter sich mit den Videos vom 7. Oktober volldröhnt. Der Bruder spricht sich für einen atomaren Angriff auf den Iran aus. Im Laufe der Wochen und Monate kehren alle in der Familie zu ihrer Alltagsroutine zurück, was Dror Mishani inklusive seines eigenen Verhaltens weiter verstört.

Er schreibt, plant ein Buch über eine südisraelische Polizeistation, wo sich Israelis gegen eine Überzahl von Terroristen zur Wehr setzen, bis schließlich israelisches Militär alle erschießt. Mishani kämpft mit innerer Selbstzensur, ob er auch über die Beweggründe der Palästinenser schreiben darf. D. Mishani nennt es nicht beim Namen „Hannibal-Direktive“, aber deutet sie an, der entsprechend die israelische Armee Geiselnahme mit allen Mitteln verhindern muss, wobei der Tod der potentiellen Geisel mit in Kauf genommen wird.

Sein Tagebuch legt die Geschehnisse ebenso dar wie deren Darstellung in israelischen Medien. Mishani liest parallel Schriften von Stefan Zweig, das Buch Ezechiel und Frantz Fanon. Das Buch Ezechiel verwirrt ihn, weil Gott, erst nach einem katastrophalen Krieg, seinen Bund mit dem Volk Israel erneuert und sein Antlitz vor ihm nicht mehr verbirgt.

Mishanis Ehrlichkeit und Offenheit machen „Fenster ohne Aussicht“ zu einem lesenswerten Buch. Es lädt meines Erachtens alle ein, die sich verbittert auf die eine oder andere Seite geschlagen haben, wenigstens „mit offenen Augen zu leben“, auch „die anderen“ (empathisch / als Menschen) wahrzunehmen, zu überdenken und Zweifel, zumindest im eigenen Herzen zuzulassen, ob weitere Gewalt die Lösung sein kann.

Für mich eröffnet das Buch „Fenster ohne Aussicht“ doch einen Ausblick auf einen Schimmer von Hoffnung, weil es Menschen zu mehr solcher Ehrlichkeit und Empathie anregen kann.


Buchhinweis:

Fenster ohne Aussicht
Tagebuch aus Tel Aviv von Dror Mishani, ISBN 978-3-257-07308-9