Bestrebungen, Orbán für seine Reise nach Moskau und Beijing und sein Werben um Frieden zu bestrafen, führen zu Streit in der EU. Unterdessen führt der ukrainische Außenminister in China Gespräche über Wege zum Frieden.

Bestrebungen, Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán für seine Reisen nach Russland und China zu bestrafen, führen zu neuen Streitigkeiten in der EU. Orbán hatte kürzlich Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin, Chinas Präsident Xi Jinping und Donald Trump geführt und anschließend berichtet, er habe dabei Möglichkeiten für Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg ausgelotet. Die EU hat bereits begonnen, ihn dafür zu maßregeln, indem Minister und EU-Spitzenbeamte Treffen boykottieren, die Ungarn im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft organisiert. Am Montag kam es darüber allerdings zu heftigem Streit: Die Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, fürchten, wenn man Orbán isoliere, könne man ihm damit neue Sympathien zutreiben. Ursache ist auch, dass diejenigen Teile der Bevölkerung der EU, die ein Ende des Ukraine-Kriegs wünschen, sich von den Regierungs- wie auch den maßgeblichen Oppositionsparteien der meisten Mitgliedstaaten nicht repräsentiert sehen. Orbán bietet sich nun als Alternative an. Kurz nach seiner massiv kritisierten Reise nach China ist am gestrigen Dienstag der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, in Beijing eingetroffen.

Mit zweierlei Maß

Die Bestrebungen, Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán für seine Reisen nach Moskau, Beijing und Mar-a-Lago zu bestrafen – letzteres zu einem Gespräch mit Donald Trump –, haben die EU in neue Auseinandersetzungen gestürzt. Ursache dafür ist nicht die offen zutage getretene Ungleichbehandlung großer und kleiner Mitgliedstaaten. Während Orbáns Reisen mit großer Empörung von der überwiegenden Mehrheit der EU-Mitglieder verurteilt wurden, war dies nicht der Fall, als etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ankündigte, französische Truppen in die Ukraine entsenden zu wollen. Auch dies lief dem Konsens in der EU zuwider und drohte darüber hinaus faktisch die gesamte Union in den Krieg zu ziehen; es wurde aber als eine zwar nicht von allen gebilligte, doch Paris im Sinne eigenständiger Außenpolitik fraglos zustehende Entscheidung toleriert. Dass die großen Mitgliedstaaten sich derlei außenpolitische Alleingänge leisten dürfen, kleine aber nicht, wird in der EU weithin akzeptiert.

Ins eigene Fleisch

Hauptursache für die neuen Streitigkeiten in der EU um Orbán sind taktische Erwägungen. Boykottmaßnahmen gegen Ungarn hatten schon wenige Tage nach Orbáns Besuch in Moskau eingesetzt. So ließen sich beim informellen EU-Ministerrat zum Thema Wettbewerbsfähigkeit am 8./9. Juli in Budapest zahlreiche Minister durch Ministerialbeamte vertreten; auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton blieb dem Treffen fern.[1] Bereits damals warnte EU-Ratspräsident Charles Michel, die informellen EU-Ministertreffen seien kein überflüssiges Freizeitvergnügen, sondern vielmehr anberaumt worden, um die Abstimmung untereinander zu verbessern; treibe man die Boykotte auf die Spitze, dann schneide man sich nur ins eigene Fleisch. Ähnliches gilt für die Ankündigung der EU-Kommission vom 15. Juli, zu Zusammenkünften in der ungarischen Hauptstadt in Zukunft keine hochrangigen Beamten mehr entsenden zu wollen: Auch damit schadet die Union vor allem sich selbst.[2]

Nicht repräsentiert

Es kommt hinzu, dass Orbán aus den Bestrebungen der Union, ihn zu isolieren, politisch womöglich Profit ziehen kann. Außerhalb einiger weniger EU-Staaten – Polen, die baltischen Länder, Finnland und Schweden – spricht sich laut Umfragen ein signifikanter Anteil der Bevölkerung dafür aus, die Lieferungen von Waffen und Munition an die Ukraine zumindest nicht auszuweiten und den Krieg nach Möglichkeit zu beenden. So halten in Deutschland 40 Prozent, in Tschechien 42, in Italien 53 und in Bulgarien 63 Prozent der Bevölkerung die Aufstockung der Waffen- und Munitionslieferungen an die ukrainischen Streitkräfte für eine „schlechte Idee“.[3] Dafür, Kiew zu Verhandlungen mit Moskau zu drängen, sprechen sich in Deutschland 41, in Italien 57 und in Griechenland 59 Prozent der Bevölkerung aus. In Frankreich waren mit 36 Prozent deutlich mehr Menschen für Friedensverhandlungen als für die Fortsetzung des Kriegs (30 Prozent). Von den regierenden Parteien werden sie in so gut wie keinem EU-Staat repräsentiert; Ausnahmen bilden Ungarn und in einem gewissen Ausmaß die Slowakei.

In der Opferrolle

Außenministerin Annalena Baerbock wurde am Montag vom Treffen mit ihren EU-Amtskollegen mit der Äußerung zitiert, man dürfe Budapest keinesfalls „in eine Opferrolle drängen“.[4] Tatsächlich lässt sich bei weiteren Bestrebungen, Ungarn zu isolieren, eine Solidarisierung mit Orbán nicht ausschließen. Deren Potenzial ist deutlich erkennbar im Europaparlament, wo die kürzlich von Orbán gegründete ultrarechte Fraktion Patrioten für Europa (PfE) mit 84 Abgeordneten die drittstärkste Kraft nach der Europäischen Volkspartei (EVP) sowie den Sozialdemokraten ist.[5] Eine Solidarisierung mit Orbán wäre Wasser auf ihre Mühlen. Als am Montag der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf dem regulären Treffen der Außenminister dafür plädierte, deren Ende August bevorstehendes informelles Treffen nicht wie geplant in Budapest abzuhalten, sondern es kurzfristig nach Brüssel zu verlegen, sperrten sich außer Baerbock die Außenminister zahlreicher weiterer Staaten dagegen; Borrell musste „eine ziemlich starke Spaltung“ einräumen.[6] Nach einem, wie es heißt, beinahe zehnstündigen Treffen, auf dem keine Einigung zu erzielen war, entschied Borrell aus eigener Vollmacht und gegen die EU-Außenminister die Verlegung des Treffens nach Brüssel. Der Unmut darüber hält unter anderem in Berlin an.

Verpasste Chance

Das Vorgehen gegen Orbán könnte auch deshalb ein Eigentor werden, weil die politische Entwicklung jenseits der EU womöglich seinen Forderungen entspricht. Nach seiner Reise hatte Ungarns Ministerpräsident ein Schreiben an EU-Ratspräsident Charles Michel gesandt, in dem er sich dafür aussprach, wieder direkte diplomatische Beziehungen zu Russland aufzunehmen sowie in „ranghohe“ Verhandlungen mit China über eine Friedenskonferenz einzutreten.[7] Die USA seien bis zur Präsidentenwahl im November wohl nicht in der Lage, bei der Beendigung des Krieges eine Führungsrolle zu übernehmen [8]; der mögliche Biden-Nachfolger Donald Trump aber habe dafür einen klaren Plan. Bis zu seinem möglichen Amtsantritt habe die EU die Chance, eine „europäische Initiative“ zu entfalten, ganz im Sinn der vielfach geforderten „strategischen Autonomie“, schlug Orbán in dem Schreiben an Michel vor.[9] Die EU nimmt diese Chance nicht wahr.

Möglichkeiten für Frieden

Stattdessen suchen andere sie zu nutzen – China beispielsweise. Die Volksrepublik hat sich seit je für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg stark gemacht (german-foreign policy.com berichtete [10]). Am gestrigen Dienstag ist der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, zu ausführlichen Gesprächen in Beijing eingetroffen, wo er sich bis Freitag aufhalten will. In Kiew hieß es dazu, Kuleba werde in der chinesischen Hauptstadt „Möglichkeiten zur Beendigung der russischen Aggression“ sowie „Chinas mögliche Rolle“ als Vermittler zwischen Moskau und Beijing ausloten.[11] Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat kürzlich erklärt, er befürworte die Teilnahme russischer Delegierter an einer baldigen Friedenskonferenz und schließe sogar Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht aus.[12] Eine aktuelle Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology belegt, dass in der Bevölkerung der Ukraine der Anteil derjenigen, die zu territorialen Zugeständnissen bereit sind, um einen raschen Frieden zu erreichen, von zehn Prozent vor einem Jahr auf 32 Prozent gestiegen ist; der Anteil derer, die dies kategorisch ablehnen, ist schon auf 55 Prozent gesunken.[13] Berlin und Brüssel aber befeuern den Krieg und verwahren sich unverändert mit eiserner Härte gegen jegliches Streben nach Frieden.

 

[1] Scharfe Kritik an Orbán. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.07.2024.

[2] Rache der Kriegsallianz. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.07.2024.

[3] Ivan Krastev, Mark Leonard: The meaning of sovereignty: Ukrainian and European views of Russia’s war on Ukraine. ecfr.eu 03.07.2024.

[4] Thomas Gutschker: Die EU entzweit sich über eine Bestrafung Ungarns. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.07.2024.

[5] S. dazu Die Brandmauer rutscht.

[6] Thomas Gutschker: Die EU entzweit sich über eine Bestrafung Ungarns. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.07.2024.

[7] Rache der Kriegsallianz. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.07.2024.

[8], [9] Letter by Viktor Orbán Addressed to EU Leaders Surfaces Detailing the Hungarian PM’s Peace Initiative. hungarytoday.hu 10.07.2024.

[10] S. dazu Auf der Seite des Krieges und Hart wie Kruppstahl.

[11] Vermittlungsversuche in Peking. Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.07.2024.

[12] Ella Strübbe: Kreml lobt Selenskyj. tagesspiegel.de 22.07.2024.

[13] Poll says 32% of Ukrainians open to territorial concessions for quick peace. reuters.com 23.07.2024.

 

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