Lange schien es, als verliefen die Planungen für eine Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad im Sande. Doch nun ist Bewegung in die Sache gekommen. Überraschend kündigte der chilenische Präsident Gabriel Boric am 1. Juni in seiner Regierungserklärung die geplante Teilenteignung der ehemaligen deutschen Sektensiedlung an.
Vor dem versammelten Parlament erklärte er „Menschenrechte und Erinnerungskultur sind eine Herausforderung, die keine Grenzen kennt“, und führte aus, dass die Regierungen von Chile und Deutschland seit vielen Jahren gemeinsam daran arbeiteten, das „frühere Gelände des Terrors und des Todes in einen Ort der Erinnerung und der Zukunft zu verwandeln“. Als Ergebnis dieser Kooperation habe die chilenische Regierung Ende Mai einen Prozess zur Enteignung von Teilen des Geländes der Ex Colonia Dignidad, der heutigen Villa Baviera in Gang gesetzt. „Wir machen jetzt einen großen Schritt auf dem Weg zu einem Gedenkort und senden aus Chile und Deutschland gemeinsam die Botschaft des ‚Nie Wieder‘ in die Welt“, so Boric unter lautem Applaus und „Nunca Más“ (Nie wieder) Rufen der chilenischen Abgeordneten.
1961 hatte eine Gruppe von Deutschen rund um den pädophilen Laienprediger Paul Schäfer die sektenartige Gemeinschaft in einem entlegenen Andental, 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago, gegründet. Die Mehrzahl der rund 300 Colonos, wie die Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung genannt werden, mussten jahrzehntelang Zwangsarbeit verrichten und waren sexualisierter Gewalt unterworfen. Bundesdeutsche Behörden unterbanden diese Verbrechen nicht. Die deutsche Botschaft in Santiago bot Personen, denen unter großen Mühen eine Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelungen war, oft keinen Schutz.
Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Führung der Gruppe eng mit dem Geheimdienst DINA, der ein Gefangenen- und Folterlager auf dem Gelände errichtete. Amnesty International und die UNO veröffentlichten ab 1976 Berichte von Überlebenden dieser Folter. Etwa hundert politische Gefangene wurden in der Colonia Dignidad ermordet und verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt. Sie gelten als Verschwundene, ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt.
Vor der deutschen Justiz blieben die Verbrechen der Colonia Dignidad allesamt straflos. Trotz jahrzehntelanger strafrechtlicher Ermittlungen wurde nie Anklage erhoben, es kam zu keinem einzigen Strafprozess. Eine zentrale Rolle spielt Hartmut Hopp. Der frühere Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad, der gute Kontakte zum Geheimdienst DINA unterhielt und in Chile rechtskräftig zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung verurteilt ist, lebt seit 2011 weitgehend unbehelligt in Krefeld. Der chilenische Antrag, Hopp solle diese Strafe in Deutschland verbüßen, wurde 2018 abgelehnt. Eigenständige strafrechtliche Ermittlungen wurden von der deutschen Justiz eingestellt.
In der deutschen Siedlung, die inzwischen Villa Baviera heißt und als Firmenholding privater Aktiengesellschaften organisiert ist, leben derzeit rund 130 Personen. Sie betreiben Forstwirtschaft, Hühnerfarmen, Immobilienunternehmen, Landwirtschaft und – für die Angehörigen der Verschwundenen besonders verletzend – einen Hotel-Restaurant-Betrieb in bayerischem Stil auf dem Gelände. Einen Gedenkort gibt es bislang nicht. Angehörige von Verschwundenen und Menschenrechtsgruppen organisieren seit Jahren Gedenkveranstaltungen und Proteste. Sie fordern Aufklärung, einen Ort zum Trauern und den Stopp des Tourismus.
Boric zu Gast in Deutschland
Im Juni war Gabriel Boric auf Deutschlandbesuch. Währenddessen präsentierte Bundeskanzler Olaf Scholz Deutschland in der Angelegenheit der Gedenkstätte als Partner: „Ich habe Präsident Boric meinen vollen Respekt und meine Unterstützung für die chilenische Entscheidung versichert (…). Ich würde mich freuen, wenn dieser Prozess jetzt Fahrt aufnimmt“, erklärte Scholz, denn die Bundesregierung stehe „weiter als Partner bereit, einen Beitrag für ein solches Gedenk- und Dokumentationszentrum zu leisten“.
Der Forscher und Colonia Dignidad Experte, Jan Stehle, begrüßt die Enteignungsinitiative als konkreten Schritt hin zu einer Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstätte. Es dürfe jedoch nicht bei Willensbekundungen bleiben. „Beide Staaten tragen Mitverantwortung für die jahrzehntelange Verbrechensgeschichte und stehen bei der Aufarbeitung gleichermaßen in der Pflicht“, so Stehle.
2016 hatte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – damals als deutscher Außenminister – selbstkritisch zu einer moralischen Verantwortung Deutschlands bekannt. 2017 beschloss der Bundestag, die Bundesregierung solle die Verbrechen der Colonia Dignidad aufklären. Seit 2017 tagt eine chilenisch-deutsche Regierungskommission mit dem Ziel der Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums.
Im Auftrag dieser „Gemischten Kommission“ erstellten deutsche und chilenische Expert*innen 2021 ein Konzept für eine Gedenkstätte. Sie wiesen historisch relevante Orten aus, die für die Unterdrückung verschiedener Opfergruppen stehen und an denen Ausstellungen die Geschichte und das Leid der verschiedenen Opfergruppen abbilden sollen.
Ausstellungen in historisch relevanten Gebäuden
Dazu gehört der sogenannte Kartoffelkeller, wo politische Gefangene gefoltert wurden, sowie das frühere Wohnhaus von Paul Schäfer, wo dieser Kinder vergewaltigte, ebenso das jetzige Restaurant und Hotel, wo Bewohner*innen der Siedlung Prügel und Demütigung ausgesetzt waren und auch das Krankenhaus, wo Menschen mit Psychopharmaka und Elektroschocks misshandelt wurden. Der jetzige Enteignungsprozess umfasst all diese Gebäude.
Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, ist eine der Autor*innen des Gedenkstättenkonzepts. Sie hält die Erklärung von Präsident Boric für „einen sehr wichtigen Schritt, weil er die Entwicklung hin zu einer Gedenkstätte am historischen Ort positiv beeinflussen kann“. Seit zehn Jahren führen sie und andere Expert*innen Dialogseminare mit verschiedenen Betroffenengruppen rund um das Thema Colonia Dignidad und Errichtung einer Gedenkstätte durch. Die Workshops und Diskussionen haben zur Annäherung der sich früher feindlich gesinnten Gruppen der Angehörigen der Verschwundenen und der Siedlungsbewohner*innen geführt und zu einem weitgehenden Konsens für die Errichtung einer Gedenkstätte beigetragen. „Damit man das Potential der erreichten Arbeit der letzten Jahre auch für diese Entwicklung nutzen kann“, sollten jetzt möglichst bald Gespräche mit den heutigen und den ehemaligen Bewohner*innen der Villa Baviera und auch mit den anderen Opfergruppen geführt werden, so Gryglewski.
In Chile zeigten sich Verbände von Angehörigen von Verschwundenen erfreut. „Zum ersten Mal greift eine Regierung unsere Forderungen auf“, heißt es in einer Erklärung von drei Gruppen aus der Region. Gleichzeitig kündigen sie an, den Prozess aufmerksam zu beobachten und fordern, daran beteiligt zu werden. Es dürfe keine Zeit mehr verloren werden, denn viele Angehörige von Verschwundenen sind bereits verstorben.
Die Meinungen der Bewohner:innen der Villa Baviera sind ambivalent. Erst Ende 2023 wurde ein symbolischer Gedenkstein gestohlen, den Angehörige von Verschwundenen selbst errichtet hatten. Die „Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Würde der Ex Colonos“ (ADEC), in der sich einige frühere und jetzige Bewohner*innen der deutschen Siedlung zusammengeschlossen haben, jedoch dankt Boric für die Initiative, die sie als einen „symbolischen Akt der immateriellen und moralischen Wiedergutmachung und eine Anerkennung aller Opfer der Ex Colonia Dignidad“ bezeichnet. Manche Bewohner*innen sorgen sich darum, ob sie oder andere ihre Wohnung verlieren oder das Gelände verlassen müssen. ADEC fordert daher, eine Enteignung dürfe keinesfalls bedeuten, „diejenigen Bewohner zu vertreiben, die heute in Villa Baviera leben und versuchen, ihr beschädigtes Leben wieder aufzubauen“.
Auch der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, ist einer der Autor*innen des Gedenkstättenkonzepts. Für ihn kam die Ankündigung der geplanten Enteignung überraschend. „Noch kurz vorher hatte es seitens der chilenischen Regierung geheißen, dass erst einmal ein allgemeines Gedenkstättenkonzept für Chile erarbeitet werden solle“, erklärt er und ergänzt, insgesamt könne er sich „des Eindrucks nicht erwehren, dass die chilenische Regierung etwas erratisch agiert“.
Gedenkstättenkonzept liegt vor
Zwar hatten sich Boric und Scholz schon Anfang 2023 für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Dennoch schien die Aufarbeitung auch wegen komplexer Enteignungs- und Entschädigungsfragen lange blockiert. Dahinter steht die Frage, wie verhindert werden kann, dass staatliche Gelder an Personen gezahlt werden, die für Leid und Ausbeutung in der Colonia Dignidad verantwortlich sind. Chile habe die Möglichkeiten für eine Enteignung geprüft, sagte der chilenische Justizminister Luis Cordero, der Boric im Juni auf seiner Deutschlandreise begleitete. Überall auf der Welt werden Entschädigungszahlungen an die früheren Eigentümer gezahlt, ergänzt er. Aber im Fall der Colonia Dignidad handele es sich um ein Geflecht von Aktiengesellschaften. „Die Colonos haben uns den Zugang zu relevanten Informationen bisher verweigert“, erklärt Cordero. „Im Zusammenhang mit der Enteignung müssen wir nun genaueren Einblick in die ökonomische Struktur bekommen. Diese Struktur zu untersuchen und zu verstehen, wer deren Nutznießer sind, ist auch eine Aufgabe der Gemischten Kommission.“
Die Aufklärung und Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse der Villa Baviera ist nicht nur für die Errichtung einer Gedenkstätte relevant, sondern auch für die zukünftige Verfasstheit der Villa Baviera, wo nur wenige Personen leitende Positionen der Aktiengesellschaften halten und Macht und Vermögen besitzen. Im März hatte eine Gruppe, die sich selbst als „empörte Colonos“ bezeichneten, auf der Zufahrtsstraße zur Villa Baviera für die Zuteilung von Land und Nachzahlung von Löhnen demonstriert. Nach Angaben des Rechtsanwalts Winfried Hempel haben Leitungspersonen der Villa Baviera Strafanzeigen gegen die an den Protesten Beteiligten gestellt.
Für Wagner ist Borics Ankündigung einer Enteignung „natürlich eine gute Nachricht, wenngleich ich mir gewünscht hätte, dass man die Bewohnerinnen und Bewohner der Colonia Dignidad und auch die Verbände der chilenischen Folteropfer und auch der Verschwundenen vorher informiert hätte“. Nun komme es darauf an, die weitere Entwicklung in Abstimmung mit den Betroffenen innerhalb und außerhalb der heutigen Villa Baviera zu gestalten. „Ein Konzept liegt ja auf dem Tisch, nämlich das von uns vier chilenischen und deutschen Expert*innen erarbeitete Empfehlungspapier, und das muss nun umgesetzt werden.“
Der Leiter der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual, erklärt, Chile werde nun eine Trägereinrichtung gründen, die die Umsetzung der Gedenkstätte übernehmen soll. Den Regierungen von Boric und Scholz bleibt nur noch ein gutes Jahr ihrer Regierungszeit, um ihre Ankündigungen tatsächlich umzusetzen.
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