Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Jeremy Gould

Entwicklungshilfe – auch Entwicklungsunterstützung oder Entwicklungszusammenarbeit genannt – umfasst ein vielfältiges Bündel staatlicher und diskursiver Maßnahmen, die erstmals in der geopolitischen Krise nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Auflösung der europäischen Kolonialreiche zum Tragen kamen.

Im historischen Kontext betrachtet, spiegelt die Entwicklungshilfe konzertierte strategische Anstrengungen der westlichen Industriemächte wider, um die wirtschaftlichen und politischen Privilegien eines Imperiums in einer radikal veränderten postkolonialen Weltordnung zu erhalten. Die Rhetorik, mit der die Entwicklungshilfe begründet wird, stellt sie andererseits als Versuch dar, Bevölkerungsgruppen zu helfen, die versehentlich zurückgelassen wurden auf dem unvermeidlichen Weg der Menschheit in die Moderne. Die Verquickung von purem Eigeninteresse mit dem erklärten Willen, Gutes zu tun, ist ein strukturelles Paradoxon, das sich durch alle Facetten der Entwicklungshilfe zieht.

Verschiedene Motivationen spielten beim Entstehen der Entwicklungshilfe eine Rolle. Einerseits bot die Entkolonialisierung den Vereinigten Staaten die einmalige Gelegenheit, sich ein durch Krieg und interne Konflikte stark geschwächtes Europa zunutze zu machen. Im Einklang mit ihrem Streben nach globaler Vorherrschaft setzten die Vereinigten Staaten die Entwicklungshilfe ein, um ihre Interessen in den neu befreiten Ländern Asiens und Afrikas durchzusetzen. Gleichzeitig waren die imperialen Metropolen Europas bestrebt, ihre Interessen in ihren ehemaligen Kolonien zu wahren. Die Hilfe war ein technisches Mittel, um ihre wirtschaftliche (und ideologische) Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. Ein dritter Faktor war die Art und Weise, wie eine aufkommende Agenda des Multilateralismus es ermöglichte, die Vereinten Nationen als Instrument der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und Autorität zu konsolidieren, und zwar inmitten der sich verschärfenden Nachkriegskonkurrenz zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Lagern. Es ist bemerkenswert, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten zwar vielen ehemaligen Kolonien umfangreiche wirtschaftliche Unterstützung zukommen ließen, diese Investitionen jedoch nicht unter der Schirmherrschaft der Official Development Assistance (ODA – Öffentliche Entwicklungshilfe) verbucht wurden. In diesem Sinne war die ODA ein ausschließlich kapitalistisches Unternehmen.

Inmitten dieses Mischmaschs aus ideologischen Auseinandersetzungen, kommerziellem Wettbewerb und geopolitischer Strategieentwicklung erhielt der Diskurs über die Entwicklungshilfe eine verblüffend technische Fassade. Er ist durch zwei stillschweigende Prämissen gekennzeichnet. Die eine ist die grundsätzliche Wertschätzung des Kapitalismus, der wirtschaftlichen Effizienz, der Produktivität und des zunehmenden Konsums als zwangsläufigem historischem Ziel aller Völker; die zweite Prämisse ist der immanente moralische Imperativ der fortschrittlichen Bevölkerungen, denjenigen zu helfen, die noch nicht ‚entwickelt‘ sind. Die Tatsache, dass die ‚unterentwickelten‘ Bevölkerungen der Exkolonien die Urheber*innen anspruchsvoller kontextbezogener Technologien und die Hüter einer komplexen und fragilen Umwelt sind, wurde ebenso ignoriert wie ihr Status als politische Subjekte unabhängiger souveräner Staaten. Dieses Schweigen und die stillschweigenden Unterstellungen heben eines von mehreren konstitutiven Paradoxen der Entwicklungshilfe hervor: Der strategische Einsatz der Hilfe zur Förderung westlicher Eigeninteressen wird systematisch durch eine technische Sprache verschleiert, die gleichzeitig ontologisch dekontextualisiert, moralisch unangreifbar und politisch neutral erscheint.

Viele Wissenschaftler*innen haben den widersprüchlichen Charakter der Wissenspraktiken innerhalb des Entwicklungshilfe­Apparats hervorgehoben. Trotz des gut dokumentierten Scheiterns der Entwicklungshilfe beim Erreichen ihrer primären Ziele sowie der zahlreichen Belege für deren ‚perverse‘ Auswirkungen strahlt der selbstreferentielle Diskurs, der in „Aidland“ (Apthorpe 2011) zirkuliert, einen unerschütterlichen Glauben an ihre Verbesserungsfähigkeit und ihren letztendlichen Erfolg aus. David Mosse (2005) hat tatsächlich behauptet, dass das Ziel, ein Projekt als erfolgreich darzustellen, Vorrang haben kann gegenüber der Erzielung substanzieller Entwicklungsergebnisse.

Das Ende des Kalten Krieges brachte einen bedeutenden Wandel in der Organisation von Entwicklungshilfe mit sich. Von den 1950er bis in die 1990er Jahre war die Hilfe überwiegend ein öffentliches, zwischenstaatliches Vorhaben; in den letzten beiden Jahrzehnten wurde sie dramatisch privatisiert. Dies spiegelt sich vor allem in der expandierenden Bedeutung reicher privater internationaler Hilfsorganisationen wider – Oxfam, ActionAid, Care International, Save the Children, World Vision und so weiter. Diese mächtigen Agenturen, deren Grundkapital in erster Linie aus privaten Spenden stammt, haben als Subunternehmer öffentlicher Entwicklungshilfeorganisationen eine bedeutende Rolle bei der Politikentwicklung und ­umsetzung übernommen. Typischerweise arbeiten diese internationalen privaten Einrichtungen mit oder über schwächere private Organisationen in den ‚Empfängerländern‘ zusammen und tragen so in erheblichem Maße zur NGOisierung der lokalen sozialen Bewegungen bei. Unter NGOisierung ist ein Prozess zu verstehen, bei dem eine lokale Einrichtung oder Bewegung ihre politische und intellektuelle Autonomie verliert, weil sie zum Vertragspartner einer internationalen Organisation wird. Die einflussreiche Rolle privater Agenturen – wie der Carnegie-, Ford-, Gates- und Rockefeller-Stiftungen – bei der Produktion von Wissen in Bezug auf den Globalen Süden und bei der Festlegung der globalen Entwicklungsprogramme ist eine weitere Facette der schleichenden Privatisierung der Entwicklungshilfe.

Die Vorstellung von Entwicklung als einem natürlichen und unvermeidlichen menschlichen Fortschritt bleibt verführerisch. In der Erzählung vom Aufstieg der Menschheit – ausgehend von Entbehrung hin zum Überfluss, von zermürbender manueller Arbeit zu einer Epoche der Muße und Kreativität, ermöglicht durch technologische Innovationen – liegt der Kern der Attraktivität der Moderne. Die Rhetorik von „Aidland“ stützt sich auf diese Vorstellung der historischen Unvermeidbarkeit und fügt ihr den universellen moralischen Imperativ der Hilfsbereitschaft hinzu. Das Volumen der für die Entwicklungshilfe bereitgestellten Mittel schwankt von Jahr zu Jahr, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie verschwindet. Im Jahr 2015 belief sich das Gesamtvolumen der öffentlichen und privaten Entwicklungshilfe auf 315 Milliarden Dollar.

Die Vormachtstellung der westlichen Entwicklungshilfe ist jedoch ins Wanken geraten. Das Auftauchen Chinas als wichtigem geopolitischem Akteur und sein dramatisches Eindringen in den Entwicklungshilfemarkt, insbesondere in Afrika, hat den Anspruch des Westens auf postkoloniale Vorherrschaft irreparabel in Frage gestellt. Noch wichtiger ist, dass zahllose Akteur*innen in den so genannten ‚Empfängerländern‘ – seien es Politiker­, Gemeindevorsteher­, Aktivist*innen, Journalist*innen, Künstler­, Akademiker­ oder Regierungsbeamt*innen – inzwischen ausgefeilte Strategien entwickelt haben, um sich Facetten des Hilfsapparats und seiner Ressourcen für eigene soziale, wirtschaftliche und politische Ziele zu eigen zu machen. In einigen Fällen werden mit diesen lokalen Strategien lediglich korrupte Praktiken aus „Aidland“ für andere Zwecke eingesetzt. Und dennoch ist es offensichtlich, dass überall im Globalen Süden militante Gerechtigkeitsbewegungen entstehen, oft angeführt von indigenen Völkern, um das Schweigen und die stillschweigenden Annahmen in Frage zu stellen, welche die Arbeit von ‚Entwicklung‘ naturalisieren.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Weitere Quellen

Apthorpe, Raymond (2011), With Alice in Aidland: A Seriously Satirical Allegory. In: David Mosse (ed.), Adventures in Aidland: The Anthropology of Professionals in International Development. New York and Oxford: Berghahn Books.

Escobar, Arturo (2011), Introduction to the Second Edition, Encountering Development: The Making and Unmaking of the Third World. Princeton: Princeton University Press.

Gould, Jeremy (2005), Timing, Scale and Style: Capacity as Governmentality in Tanzania. In: David Mosse and David Lewis (eds), The Aid Effect: Giving and Governing in International Development. London/Ann Arbor: Pluto Press. Mosse, David (2005), Cultivating Development: An Ethnography of Aid Policy and Practice. London: Pluto Press.


Jeremy Gould ist studierter Anthropologe und hat an den Universitäten Helsinki und Jyvaskyla, Finnland, Entwicklungsstudien gelehrt. Er war als Fachberater für mehrere internationale Entwicklungsorganisationen tätig und führte ethnografische Forschungen zur Entwicklungshilfe in afrikanischen Ländern durch, darunter Tansania und Sambia. Derzeit schreibt er über die Wechselwirkung von Recht und Politik im postkolonialen Sambia.

Der Originalartikel kann hier besucht werden