Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.
von Ana Garcia und Patrick Bond
Die BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – wurden ursprünglich nicht als potenzieller geopolitischer Block betrachtet, bis Jim O‘Neill von Goldman Sachs Asset Management im Jahr 2001 das Akronym BRIC einführte, um die kommende Gruppe von wachstumsstarken Volkswirtschaften zu kennzeichnen. Die Weltfinanzkrise 2008/09 hatte die G20, zu der auch alle BRICSLänder gehören, zusammengeführt, um eine weltweite Antwort auf die finanzielle Instabilität zu finden, die auf den kurzlebigen keynesianischen Grundsätzen der staatlichen Defizitfinanzierung, der lockeren Geldpolitik und der Koordinierung der Kreditvergabe zur Bankenrettung beruhte. Im Jahr 2009 fand der erste BRICGipfel in Jekaterinburg, Russland, statt und weckte die Erwartung, dass die Dominanz der westlichen Länder in den multilateralen Institutionen künftig in Frage gestellt werden würde (Bond und Garcia 2015). Auf Geheiß Pekings kam 2010 Südafrika hinzu, um ein kontinentales Gleichgewicht zu schaffen. Seitdem ist ein Widerspruch zwischen dem wirtschaftlichen Potenzial der BRICS und ihrer politischen Rolle bei der Sicherung des westlich orientierten Multilateralismus offensichtlich geworden. So bot die Weltwirtschaftskrise vier BRICS-Staaten die Möglichkeit, sich für mehr Stimmrecht im Internationalen Währungsfonds (IWF) während der ‚Quotenreform‘ 2010 bis 2015 einzusetzen, für die die BRICS 75 Milliarden Dollar an Rekapitalisierungsmitteln beisteuerten. Chinas Stimmenanteil stieg von 3,8 Prozent auf 6,1 Prozent der Gesamtstimmen, aber dies geschah durch die Senkung des Beitrags zu Lasten ärmerer Länder wie Nigeria (dessen Stimmenanteil um 41 Prozent sank), Venezuela (um 41 Prozent) und sogar Südafrika (um 21 Prozent).
Hohe Rohstoffpreise und niedrige Löhne haben das beschleunigte Wachstum der BRICS-Staaten vor dem Höchststand der Preise im Jahr 2011 und den anschließenden Einbrüchen im Jahr 2015 angeheizt. BRICSUnternehmen sind zudem zu großen internationalen Investoren geworden. Die wirtschaftliche Modernisierung eröffnet den BRICS-Staaten einen kapitalistischen Entwicklungsweg, der auf der Ausbeutung von Arbeitskräften und Natur beruht. Das Wirtschaftswachstum der BRICS ist von extremer Ungleichheit geprägt, obwohl ihre führenden Köpfe eine größere Gleichheit im internationalen System fordern.
Die Vereinbarung der BRICS-Staaten zur Gründung einer Neuen Entwicklungsbank (NDB – New Development Bank) wurde auf dem Gipfel in Fortaleza 2014 unterzeichnet, im selben Jahr, in dem Peking die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank gründete. Beide Banken konzentrieren sich auf Infrastruktur und Energieprojekte und dienen letztlich den Interessen der Rohstoff und Agrarindustrien (Garcia 2017). Neue Logistikkorridore innerhalb und nahe bei den BRICSStaaten verbinden Gebiete und natürliche Ressourcen mit ausländischen Märkten, so beispielsweise die Initiative Chinas Neue Seidenstraße, die zu einem schweren Konflikt mit Indien wegen der Passage durch das von Pakistan kontrollierte Kaschmir führt, und Mosambiks Nacala-Korridor.
Die rasche Einführung dieser neuen Banken ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass es anfangs keine sozioökologischen Standards gab, die Folgenabschätzungen oder Verhandlungen mit den lokalen Gemeinschaften vorsahen, obwohl bereits die ersten Kredite für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien vergeben wurden. Der Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten unterscheidet die NDB von traditionellen multilateralen Finanzinstitutionen wie der Weltbank. Andererseits hat die NDB 2016 eine weitreichende operative Zusammenarbeit mit der Weltbank begonnen, die eine gemeinsame Beteiligung an der Projektvorbereitung, Kofinanzierung und am Austausch von Mitarbeiter*innen umfasst.
Ebenso kann das Contingent Reserve Arrangement (CRA – Vereinbarung über Sicherheitsrücklagen), das mit einem Startkapital von 100 Milliarden Dollar ausgestattet ist, im Falle einer Zahlungsbilanzkrise eines BRICSLandes aktiviert werden, allerdings nur in Ergänzung zum IWF. Ein kreditnehmendes Land muss ein Strukturanpassungsprogramm des IWF durchführen, ansonsten kann es nur 30 Prozent seiner Quote an CRAMitteln aufnehmen. Im Falle Südafrikas, das als erstes Land einen Kredit benötigte, um seine Schulden in Höhe von 150 Milliarden Dollar zu bedienen, beträgt diese Quote nur 10 Milliarden Dollar. Sowohl die NDB als auch die CRA funktionieren also komplementär zu den Bretton-Woods-Institutionen.
Gleichermaßen haben innerhalb der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen vier der BRICS-Länder – Brasilien, Südafrika, Indien und China – eine zentrale Rolle an der Seite von US-Präsident Barack Obama bei der Beendigung des KyotoProtokolls mit seinen verbindlichen Emissionskürzungen gespielt. Diese Allianz begann auf dem UN-Gipfel 2009 in Kopenhagen und wurde 2011 in Durban fortgesetzt. Sie gipfelte 2015 in einem unverbindlichen Klimaabkommen in Paris mit zahlreichen fatalen Schwachstellen, zu denen auch das Verbot der Haftungen für Klimaschulden gehört. Dieses Abkommen kommt vor allem den historischen Verschmutzern sowie den BRICSLändern zugute, deren Volkswirtschaften allesamt eine hohe KohlendioxidIntensität aufweisen.
Die BRICS-Staaten haben durchaus das Potenzial, die westliche Hegemonie herauszufordern. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht der Kampf um geistige Eigentumsrechte an Arzneimitteln im Rahmen der WTO, bei dem Brasilien und Indien in den 1990er Jahren den westlichen Regierungen und Pharmaunternehmen gegenüberstanden. Im Jahr 2001 feierten HIV+Aktivist*innen die generischen AIDSMedikamente, welche aufgrund einer WTOAusnahmeregelung hinsichtlich geistigen Eigentums nun hergestellt werden können, und dies führte allein für Südafrika zu einem enormen Anstieg der Lebenserwartung (von 52 im Jahr 2004 auf heute 64 Jahren). Darüber hinaus werden sich die ernsthaften geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und mindestens zwei der BRICSStaaten, Russland und China, weiterhin in Vorfällen äußern – wie Edward Snowdens Moskauer Asyl 2013, der russischen Invasion auf der Krim 2014, chaotischen Kriegsallianzen in Syrien, der Stationierung von Raketen in Polen und der wirtschaftlichen Expansion Chinas sowie den Konflikten im Südchinesischen Meer. Doch diese Spannungen waren Ausnahmen, und der Gesamtbeitrag der BRICS zum Multilateralismus ist ein Entgegenkommen gegenüber der westlichen Hegemonie. Als Projekt der nationalen Eliten und ihrer multinationalen Unternehmen haben die BRICS keine ideologische Alternative zur neoliberalen Globalisierung formuliert, deren weltweit führender Vertreter derzeit China ist. Vielmehr arbeiten sie innerhalb der kapitalistischen Ordnung und nehmen einen zunehmend wichtigen Platz in der erweiterten Reproduktion des globalen Kapitals ein.
Um dies zu erklären, entwickelte der brasilianische Dependenztheoretiker Ruy Mauro Marini (1965) in den 1960er Jahren das Konzept des Subimperialismus, um Länder zu identifizieren, die bei der Expansion des Imperialismus eine Schlüsselrolle spielen. Heute stärkt die Rolle des Hilfssheriffs die im Imperialismus fortschreitende Kommerzialisierung aller Dinge, die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Ausbeutung von Bodenschätzen und Erdöl sowie die repressive Kontrolle von regimekritischen Bevölkerungsgruppen. Infolgedessen mobilisieren sich oppositionelle Kräfte sowohl aus den BRICSStaaten als auch aus ihrem Umfeld in Solidarität, um echte Veränderungen auf lokaler und globaler Ebene im Rahmen eines noch im Entstehen begriffenen Prozesses „BRICS von unten“ zu fordern (Bond und Garcia 2015).
Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.
Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.
Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.
Weitere Quellen
Bond, Patrick and Ana Garcia (eds) (2015), BRICS: An Anticapitalist Critique. Johannesburg: Jacana Media.
Garcia, Ana (2017), BRICS Investment Agreements in Africa: More of the Same?, Studies in Political Economy. 98 (1): 24–47.
Marini, Ruy Mauro (1965), Brazilian Interdependence and Imperialist Integration, Monthly Review. 17 (7): 10–29.
Ana Garcia ist Professorin für internationale Beziehungen an der Federal Rural University von Rio de Janeiro und Mitarbeiterin des Institute of Alternative Policies for the Southern Cone of Latin America. Sie promovierte an der Pontifical Catholic University von Rio de Janeiro.
Patrick Bond ist außerordentlicher Professor für politische Ökonomie an der Universität von Witwatersrand in Johannesburg. Seine Bücher befassen sich mit der städtischen Umwelt, dem Klimawandel, der globalen Finanzkrise sowie der politischen Ökonomie Afrikas, Simbabwes und Südafrikas.