So wie es eine Hierarchie der Grundbedürfnisse gibt, so gibt es auch eine Hierarchie der Vorurteile. Denn Vorurteile sind letztlich nichts anderes als eine Funktion unseres Bedürfnisses nach Abgrenzung. An der Spitze der Pyramide steht das Vorurteil gegen uns als Mensch, das sich zum Beispiel so ausdrückt: Der Mensch ist ein Irrtum der Evolution. Wir lassen mal beiseite, ob das ein Vorurteil ist oder ob es sich um eine Tatsache handeln könnte. An zweiter Stufe der Vorurteilshierarchie dürften schon die nationalen Vorurteile kommen.
Von Bobby Langer
Familie als Form des Widerstands I
So gut wie jede Nation scheint in Vorurteilen gegen eine andere zu schwelgen. Beispiel: Deutsche und Österreicher. Innerhalb der nationalen Vorurteile gibt es selbstverständlich auch eine Rangfolge. An oberster Stelle stehen solche, die uns aggressionsbereit und folglich kriegstauglich machen. Ich habe einen Verwandten, dessen Augen gefährlich zu glitzern beginnen, wenn die USA auch nur erwähnt werden.
Wasser bricht den Stein
Was das alles mit Familie zu tun hat? Ich beginne mal mit Klein-Klein, um dann zu Groß-Groß zu kommen. Mein Bruder ist ein ganz anderer Mensch als ich. Wäre ich mir nicht sicher, dass es sich um meinen genetischen Bruder handelt, würde ich auf eine extraterrestrische Rasse tippen. Das Verblüffende an der Sache: Wir mögen uns. Manchmal machen wir sogar zusammen Urlaub, nur er und ich. Wie lässt sich dieses intergalaktische Rätsel aufklären? Das Geheimnis liegt im Kosmos (oder sollte ich sagen: im Schwarzen Loch?) unserer Familie. Von außen, soziologisch betrachtet, war sie kleinbürgerlich, von innen erlebt war sie ein Hort der Zuwendung. Der unausgesprochene, aber immer präsente Kernsatz hieß: Family first. So verschieden wir waren, wir wurden geliebt, unterschiedlich zwar, aber doch unterschiedslos. Füreinander durch dick und dünn zu gehen, war klar wie Kloßbrühe und ist es heute noch. Und genau das ist der Grund, weshalb mein Bruder und ich miteinander eine gute Zeit haben können – ein gutes Glas Malt Whisky inklusive.
Meine Hypothese lautet: Klein-Klein ist stärker als Groß-Groß. Wasser bricht den Stein, oder wie Laotse schon vor rund 2400 Jahren formulierte: „Nichts in der Welt ist weicher und schwächer als Wasser, und doch gibt es nichts, das wie Wasser Starres und Hartes bezwingt, unabänderlich strömt es nach seiner Art.“ Darum geht es in der folgenden Familiengeschichte.
Gemischte Gefühle
Sie endet mit einer Szene aus dem Jahr 1992: Mein Bruder, meine Eltern und ich fuhren nach Westpolen. Nachdem die Mauer gefallen war und meine Eltern mehrfach in „ihrer Heimat“ Schlesien gewesen waren, wollten sie ihren Söhnen die Stätten ihrer Kindheit und Jugend zeigen. Ich fuhr mit gemischten Gefühlen mit. Wie würden uns die Polen begegnen? Immerhin hatten die Nazis ihr Heimatland mit beispielloser Brutalität besetzt, galten Polen doch als rassisch minderwertig. In den ersten Wochen nach dem deutschen Angriff hatten SS- sowie Polizei- und Militäreinheiten Tausende von polnischen Zivilisten erschossen; die ganze Nation sollte versklavt werden. Was konnte mich nach so einer Vorgeschichte schon erwarten?
Eine Geschichte aus einer anderen Wirklichkeit
Wir fuhren ins heute polnische Dorf, wo mein Vater als Kind eines schlesischen Landwirts aufgewachsen war, und hielten vor seinem weiß gekalkten, großen Elternhaus. Es war ein Hufeisenhof, links vorne das Wohnhaus, dahinter Ställe, auf der Rückseite eine Riesenscheune und rechts Schuppen und Werkstätten. Geschlossen wurde das U zur Straße hin von einem doppelflügeligen Hoftor und links davon einer kleinen Tür für Besucher. Und eben die öffnete, in ihren Angeln knarrend, mein Vater. Vor uns, etwa 30 Meter entfernt, in der Mitte des Hofes lag ein Ziehbrunnen, aus dem halb links eine ältere Frau eben einen Eimer Wasser emporzog. Als sie das Knarren der Hoftür hörte, schwang sie den vollen Eimer auf den Brunnenrand und blickte zu uns herüber. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie meinen Vater erkannte. Dann hob sie die Arme und eilte auf ihn zu. Auf halber Strecke trafen sie sich und umarmten einander.
Ich war fassungslos. Wie war das möglich gewesen? Es war wie eine Geschichte aus einer anderen Wirklichkeit. Und möglich geworden war sie so:
Können wir zu Hause bleiben?
Wir schreiben das Jahr 1945. Die russische Front hatte Schlesien drei Monate zuvor überrollt, viele Menschen waren geflohen, aber viele auch geblieben in der Hoffnung, sie könnten ihr Hab und Gut retten. Dazu gehörten auch meine Großeltern. Ihre vier Söhne waren verschollen, die vier Mädchen, inzwischen hübsche junge Frauen und später meine Tanten, waren noch zu Hause in Woitz, unverheiratet und sorgfältig versteckt vor den Soldaten. Dann kam die polnische Flüchtlingswelle. Stalin beanspruchte, wie im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart, den östlichen Teil Polens und vertrieb die Menschen von dort. Wo sollten die Heimatlosen hin? In die schlesischen Häuser der Deutschen, die ihrerseits vertrieben wurden. Aber noch war es nicht so weit.
Verbindende Fluchterfahrung
Eines Tages stand also eine polnische Familie mit vier Kindern vor dem Haus meiner Großeltern und die russischen Soldaten machten unmissverständlich klar: Das ist jetzt das Haus der Polen, und ihr müsst bald verschwinden. Die eigentliche Ausweisung fand ein paar Wochen später statt (alle Deutschen mussten sich auf dem Dorfplatz einfinden und wurden später in Züge in Richtung Westen gepfercht). Da das Dörfchen Woitz – später Wójcice – ein paar Jahrhunderte von einer deutsch-polnischen Mischbevölkerung bevölkert gewesen war, konnten sich die beiden Familien gut verständigen: Die polnische Flüchtlingsfamilie sollte vorerst im Untergeschoss und die deutsche im Obergeschoss wohnen. Warum? Ganz einfach: Es würde sich vor den russischen Soldaten nicht verheimlichen lassen, dass hier vier hübsche junge Frauen wohnten. Sobald sie kamen, würde die polnische Familie die Männer ein paar Minuten aufhalten, und in der Zwischenzeit konnten die Mädchen aus Fenstern und über Dächer entkommen. Und so geschah es denn auch. Meinen Tanten gelang es regelmäßig, sich dank der Hilfe der polnischen Familie in Sicherheit zu bringen.
Die Rettung meiner Lieblingstante
Ein Höhepunkt in der Rettungsarbeit der polnischen Familie für meine Großeltern folgte noch. Klara, die Älteste, eine langhaarige dunkle Schönheit, bekam eine Lungenentzündung. Die polnischen Ärzte durften aber keine Deutschen mehr behandeln. Die Lage schien aussichtlos und Klara ging es immer schlechter. Da hatte die polnische Familie eine Idee. Am nächsten Tag verkleideten sie die junge Frau „polnisch“, setzten sie auf einen Pferdekarren und brachten ihre „taubstumme Tochter“ zu einem polnischen Arzt ein paar Dörfer weiter. Ohne diesen familiären Widerstand gegen ein hasserfülltes Regime, ohne das Wasser wider den Stein, wäre aus der jungen Frau nie meine Lieblingstante geworden, die sich neben den kleinen Jungen ans Bett setzte und ihm Gute-Nacht-Lieder vorsang.
So kam es also, dass ein deutscher Vater und eine polnische Mutter einander an einem Sommertag im Jahr 1992 in die Arme schließen konnten. Sie mussten sich nicht gegeneinander abgrenzen, weder Mensch wider Mensch, noch Nation gegen Nation; sie hatten einen gemeinsamen Nenner – stärker als Feindschaft und Krieg –, sie waren gute Menschen aus guten Familien.