Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Philip McMichael

Das Projekt ‚Entwicklung‘ entstand Mitte des 20. Jahrhunderts infolge der wirtschaftlichen Depression, des Weltkriegs und der Entkolonialisierung als Blaupause für den Aufbau von Nationen und als Strategie für eine Weltordnung im Rahmen des Kalten Krieges. Die Vereinigten Staaten haben den Wiederaufbau der Nachkriegszeit angeführt, um den Weltkapitalismus zu stabilisieren und ihr Wirtschaftsimperium auf die postkoloniale Welt auszudehnen. Dadurch, dass die Kulturen der sogenannten Dritten Welt als unterentwickelt dargestellt wurden, wurde die Rolle der kolonialen Ausbeutung während des Aufstiegs des Westens ausgeblendet. Darüber hinaus wurde eine idealisierte industrielle Entwicklung nach westlichem Vorbild als universeller Standard durchgesetzt, wie er in den Maßstäben des Bruttosozialprodukts zum Ausdruck kommt. Als Stellvertreter der Ersten Welt dienten die Bretton Woods­Institutionen (Weltbank, Internationaler Währungsfonds) als zentrale Finanzagenturen, die die Hilfsprogramme der USA ergänzten, indem sie die Staaten der Dritten Welt als kommerzielle Kunden ins Visier nahmen und sich in einem antikommunistischen Kreuzzug Zugang zu strategischen Ressourcen verschafften. In diesem Zusammenhang wurde Entwicklung zwar als nationales Wirtschaftswachstum verstanden, entwickelte sich aber gleichzeitig als weltweite Herrschaft des Marktes.

Als zivilisatorische Verbesserung gegenüber der Vergangenheit und Teilhabe an einer Zukunft des grenzenlosen Konsums wird Entwicklung im modernen Diskurs als verführerische Unvermeidlichkeit normalisiert. Aber Entwicklung wird nur auf der positiven Seite des materiellen Kontos gedacht und gemessen. Doch sie hat sich als Paradoxon entpuppt und ihr ursprüngliches Versprechen gebrochen. Die Aussicht auf endlosen materiellen Wohlstand für alle durch einen expandierenden globalen Warenmarkt wird durch die globale Ungleichheit, mit einer wohlhabenden Minderheit auf der einen Seite und einer übermäßig ausgebeuteten Erwerbsbevölkerung sowie den überbeanspruchten Ökosystemen auf der anderen Seite, zunichte gemacht. Anstelle des Massenkonsums steht selektive Bereicherung inmitten prekärer Beschäftigungsverhältnisse, steigender Schulden und ungebundener Arbeit (footloose labour)[1] für das Paradoxon.

Darüber hinaus zeigt sich die zunehmende Entropie nun in der Verschlechterung der ökologischen Bedingungen und der Schwäche sozialer Institutionen, während die politischen und wirtschaftlichen Eliten sich in Selbsterhaltung üben und die Bedürfnisse der Öffentlichkeit sowie den drohenden Klimanotstand ignorieren. Eine Welt, die von Rohstoffen überschwemmt wird, hat keine Umweltsensoren – wie der britische Stern Review on the Economics of Climate Change (2006) feststellte, ist der Klimawandel heute das größte Marktversagen der Welt.

Die gegenwärtige neoliberale Entwicklung verstärkt den Fokus des Kapitalismus auf kurzfristigen Gewinn durch die Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit von Kapital und Waren, indem sie die kurzfristige „wirtschaftliche Zeit“ neben die langfristige „geochemische biologische Zeit, die von den Rhythmen der Natur gesteuert wird“ stellt (Martinez­Alier 2002: 215). Wenn beispielsweise die Aquakultur mit Shrimps die Mangroven an der Küste zerstört, untergräbt diese Entwicklung nach dem Motto „all the shrimp you can eat“ nicht nur die Fischbrutstätten und die lokalen Lebensgrundlagen, sondern auch die Speicher der biologischen Vielfalt, die Kohlenstoffsenken und den Schutz der Küsten vor dem steigenden Meeresspiegel (ebd.: 80). Während die wirtschaftliche Zeit eine lineare Verbesserung gegenüber der Vergangenheit vorgibt, ist ihre Vergangenheit allgegenwärtig – im Klimawandel:

Mit jedem Jahr, in dem sich die Erderwärmung fortsetzt und die Temperaturen weiter ansteigen, werden die Lebensbedingungen auf der Erde stärker von den Emissionen von einst bestimmt, so dass sich der Einfluss des Gestern auf das Heute verstärkt – oder, anders ausgedrückt, die kausale Kraft der Vergangenheit unaufhaltsam zunimmt bis zu dem Punkt, an dem es tatsächlich ‚zu spät‘ ist. Die Bedeutung dieses schrecklichen Schicksals, vor dem im Klimawandel-Diskurs so oft gewarnt wird, ist der endgültige Einbruch der Geschichte in die Gegenwart. (Malm 2016: 9; Hervorhebung im Original).

Leider sind die Menschen, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind, auch am meisten gefährdet, da sie durch die Entwicklung an den Rand gedrängt wurden: von verbliebenen ländlichen Kulturen und Klimaflüchtlingen bis hin zu Slumbewohner*innen (ein Drittel der weltweiten Stadtbevölkerung). Aus biophysikalischer Sicht hat das Millennium Ecosystem Assessment der UN (Jahrtausendstudie der UN zur Bewertung der Ökosysteme) festgestellt, dass die jüngste wirtschaftliche Entwicklung „zu einem erheblichen und weitgehend irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens auf der Erde geführt hat. Wenn diese Probleme nicht angegangen werden, wird der Nutzen, den künftige Generationen aus den Ökosystemen ziehen können, erheblich geschmälert werden“ (Vereinte Nationen 2005: 1).

Als Reaktion darauf stellte das High Level Panel for the UN’s Sustainable Development Goals (Hochrangiges Politisches Forum für Nachhaltige Entwicklung der UN) fest, dass „Umwelt und Entwicklung nie richtig zusammengebracht wurden“, und fügte den etwas fragwürdigen Vorschlag hinzu, dass „da wir ‚schätzen, was wir messen‘, es ein wichtiger Bestandteil der angemessenen Bewertung des natürlichen Reichtums der Erde ist, ihn in die Rechnungslegungssysteme einzubeziehen“ (UNDESA 2013). Eine solche Vision weitet eine bestimmte Art der Kontrolle über die Natur im Namen privater Interessen aus, schließt andere Bedeutungen und Nutzungen von Land aus und privilegiert die Rechte von Investoren gegenüber den Rechten der Landnutzer*innen. Darüber hinaus vertieft sie die Externalisierung der Natur, indem Elemente interaktiver biophysikalischer Prozesse als ‚Ökosystemleistungen‘ ausgegliedert werden, die im Namen von Umweltmanagement und ‚nachhaltiger Entwicklung‘ zu Waren gemacht werden, möglicherweise aufgrund der Illusion, dass es noch ausreichend natürliche Umwelt gibt, die erhalten bleiben könnte. Die Aufrechterhaltung der Entwicklung in einer gefährdeten Umwelt ist ein schlechter Ersatz für die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme und die Förderung biodiverser Praktiken.

Postdevelopment begegnet diesen vielfältigen Widersprüchen, indem es die Prinzipien der natürlichen Reparatur und Regeneration aufgreift und beginnt vor Ort Verantwortung zu übernehmen. Eine Vielzahl ländlicher Kulturen mit Low-Input Farming Systemen[2], die mehr als die Hälfte der weltweiten Lebensmittel produzieren, verfügen über dieses Potenzial (Hilmi 2012). Dies ist die ursprüngliche, jahrhundertealte konventionelle Landwirtschaft. Das Entwicklungsnarrativ, das Kapital konzentriert und Kontrolle zentralisiert, hat sich den Begriff ‚konventionell‘ für die industrielle Landwirtschaft angeeignet und die Verfahren mit geringem Ressourceneinsatz als überholt erklärt. Aber auch das ist das Paradoxon der Entwicklung wie die 200 Millionen Mitglieder zählende internationale Vereinigung von Kleinbäuer*innen, La Via Campesina, erklärt: Mit Unterstützung können lokale landwirtschaftliche Systeme „die Welt ernähren und den Planeten kühlen“, indem sie mittels wiederherstellender agrarökologischer Methoden die landwirtschaftlichen Verfahren im Globalen Süden und Norden an die natürlichen Zyklen anpassen, und eine breite Bewegung für Ernährungssouveränität zur Demokratisierung der Ernährungssysteme verankern. Die urbane Variante umfasst verschachtelte Lebensmittelmärkte und Solidarische Ökonomien, die eng mit den über 300 Transition Towns verwandt sind, die in den letzten zehn Jahren in Großbritannien, Nordamerika, Südafrika, Europa und Australien entstanden sind und die Senkung des Energieverbrauchs über Permakultur, urbanes Commoning und gemeinschaftsübergreifende Bündnisse bewerkstelligen.

Solche Initiativen fördern die natürliche Regeneration, um die biologische Vielfalt wiederherzustellen, anstatt sie zu zerstören, Emissionen zu binden, anstatt sie freizusetzen, und Energie umzuwandeln, anstatt sie zu verbrauchen. Es handelt sich dabei um bereits existierende Postentwicklungsprinzipien, die sich grundlegend von der Konkurrenz des Marktes oder der Reduzierung der Natur auf eine Ware unterscheiden. Für das Überleben der Menschheit, ja allen Lebens auf der Erde, ist der Schutz dieser materiell und sozial bedeutenden Prinzipien für den Fortbestand der ländlichen und städtischen Umwelt unerlässlich. In diesem Sinne bedeutet Postdevelopment, den Fetischismus des Marktes zu beenden.

Übersetzung ins Deutsche von Elisabeth Voß.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Der Begriff footloose labour (ungebundene Arbeit) wurde von dem niederländischen Soziologen Jan Breman geprägt und bezeichnet informell arbeitende Tagelöhner*innen und Wanderarbeiter*innen (Anm. d. Übers.).

[2] Low-Input Farming Systeme: Landwirtschaftliche Methoden, die „… den Einsatz von Produktionsmitteln (d. h. außerbetrieblichen Ressourcen) wie zugekaufte Düngemittel und Pestizide minimieren …“ https://www.fao.org/family-farming/detail/en/c/1115210/ (Anm. d. Übers.).

Weitere Quellen

Hilmi, Angela (2012), Agricultural Transition: A Different Logic. The More and Better Network, https://ag-transition.org/pdf/Agricultural_Transition_en.pdf (Datei unter der Webseite ag­transition.org nicht mehr dokumentiert)

Malm, Andreas (2016), Fossil Capital: The Rise of Steam Po- wer and the Roots of Global Warming. London and New York: Verso Books.

Martinez­Alier, Joan (2002), The Environmentalism of the Poor: A Study of Ecological Conflicts and Valuation. Cheltenham: Edward Elgar.

Stern, Nicholas (2006), Stern Review: The Economics of Cli- mate Change. Cambridge: Cambridge University Press. United Nations (2005), Ecosystems and Human Well-being: Synthesis. Washington, DC: Island Press.

United Nations (UNDESA) (2013), ‚A New Global Partnership:EradicatePovertyandTransformEconomiesthrough Sustainable Development‘, https://sustainabledevelopment.un.org/index.php?page=view&type=400&nr=893&menu=1561 (abgerufen am 19.05.2023)


Philip McMichael ist Professor für Entwicklungssoziologie an der Cornell University, New York. Er hat mit der FAO, UNRISD, La Vía Campesina und dem Internationalen Planungs- komitee für Ernährungssouveränität zusammengearbeitet. Er ist der Autor von Settlers and the Agrarian Question: Found- ations of Capitalism in Colonial Australia; Development and Social Change: A Global Perspective und Food Regimes and Agrarian Questions. Seine aktuellen Forschungsarbeiten befassen sich mit Landnahme und Landrechten, Nahrungsmittelregimen und Ernährungssouveränität.

Der Originalartikel kann hier besucht werden