Das ist gesichertes Menschheitswissen: Einer Tiermutter sollte man nicht in die Quere kommen, weder Mutter Wildschwein noch Mutter Bär. Auch kleinere Tiere entwickeln ein furchterregendes Potenzial, wenn es darum geht, ihre Kleinen zu schützen. Niemand wage eine ungesicherte Attacke auf ein Wespennest. An diese Energie könnten wir Menschen erfolgreich anknüpfen, denn wir tragen sie alle in uns.

Aber ist das nötig? Gibt es denn geschütztere Wesen als uns Menschlein? Besteht nicht ein erheblicher Teil unserer Zivilisation aus Schutz, von der Geburtsabteilung bis zum Mutterschutz, von der Kinderkrippe bis zum Hort, von der Grundschule bis zum Gymnasium, von der Lehre bis zum Studium? Von der Intensivstation bis zum Friedhof? Ist unsere Gesellschaft nicht ein einziger Schutzwall gegen – ja, wogegen eigentlich? Beziehungsweise: wovor?

Der Einnordungsprozess

Sind diese Arten von Schutz nicht letztlich Blockaden? Behindern sie nicht mehr als sie schützen? Auch eine Gefängniszelle kann man zweifellos als Schutz des Gefangenen betrachten. Und wenn er sie fünf, zehn, dreißig Jahre bewohnt hat, ist er wahrscheinlich gebrochen genug, dieser Betrachtungsweise zuzustimmen. Man darf ihn nur vorher nicht rauslassen.

Die Geburtsabteilung ist Teil des Krankenhauses und schützt die Mütter vor der Erkenntnis, ein starkes, gebärfähiges Wesen zu sein, das für seinen Körper und den des Kindes volle Verantwortung übernehmen könnte. Die Krippe schützt das kleine Mädchen und den kleinen Jungen vor dem Krabbeln in Gras und Erde, vor dem erdverbundenen Matschen und einer innigen Vertrautheit mit allem, was ist. Es schützt die Kleinen vor Disteln und Wespen, vor Dornen und Düften, vor Schnee und Sonne – und mittelt sie ein. Der Kindergarten schützt sie vor Wildheit und Wunden, vor aufgeschlagenen Knien und blutenden Nasen, vor Tränen und Übermut – und zähmt Ronja Räubertochter zu Heidi auf der Alp, verwandelt Pippi Langstrumpf in Barbie. Ab jetzt wird gelernt, was gelernt werden soll, und nicht, was das Leben an Lernenswertem bereithält. Schule und Studium norden uns endgültig ein – zum Glück und wider alles Erwarten aber bei Weitem nicht uns alle.

Ist das nun als Attacke gegen Säuglingsschwestern, behütende Eltern, Erzieherinnen, Pädagogen und Professorinnen zu verstehen? Oh nein, sie alle waren, wenigstens anfangs, guten Willens; sie alle wollten gute Mädchen und gute Jungs sein, sie alle bemühten sich um einen „guten“ Job nach einer „guten“ Ausbildung, um eine mehr oder weniger erfolgreiche Karriere. Sie alle wurden gebildet, um ihre jeweiligen Funktionen optimal zu erfüllen. Dafür erhielten sie gute Noten, wurden gelobt, gefördert und befördert, wurden zu Oberschwestern, Leiterinnen, Direktorinnen, Chefinnen und Präsidentinnen in einem geschlossenen System. Wurden zu „bricks in the wall“.

Wir müssten uns nicht mehr fürchten

Zu ergänzen bleiben die Fragen: Wogegen werden sie geschützt? Und wovor? „Wie schallt’s von der Höh?“, textete Wolfgang Ambros. „Watzmann, Watzmann, Schicksalsberg| Du bist so groß und i nur a Zwerg | Der Berg, der lasst halt niemand aus, | D’rum steigt′s net aufi, bleibt′s liaber z’Haus.“ Wir werden geschützt vor dem Ruf der Wildnis, vor dem Erwachsenwerden angesichts von Gefahr, vor dem Wiederaufstehen nach dem Stürzen. Wir tun alles, damit kein Schmerz entsteht – und wenig bis nichts, damit der Schmerz nachlässt, der ewige, stille, gedeckelte Schmerz.

Und was wäre, wenn wir dem „Ruf“ folgen dürften, folgen könnten, zu folgen in der Lage wären? Wir würden begreifen, dass dieser Ruf nicht von außen, sondern von innen erschallt – und dass er für alle gilt und für alle Zeit. Die Mutter-Stärke würde von innen in unsere Gliedmaßen und Herzen wachsen, flösse durch unsere Lymph- und Blutbahnen bis ins Mark, ins Genital, ins Gehirn und in die Fingerspitzen. Wir müssten uns nicht mehr fürchten, wir hätten keine Furcht vor den Tränen, weil wir wüssten: Wir sind stark genug. Wir könnten leben und lieben, wie es uns und wie es einander gefällt. Wir wären Herrinnen über uns und verlangten keine künstlichen Sicherheiten.

Liebe haben wir alle bekommen

Sind das nun alles kühne, nie verwirklichbare Träume? Schäume der Phantasie? Ich denke nicht, denn es gibt sie noch und immer wieder und gar nicht so selten: jene Uneingenordeten, die durchgehalten haben auf dem Weg nach Süden, jene, die aufrecht stehen, die sich der Sonne und dem Mond entgegenrecken, die noch den Morgentau glitzern sehen im Gras, die Knospenkraft und das Verlangen der Blüte nach Befruchtung. Es gibt sie, die uns sogar dann Hoffnung machen, wenn wir uns selbst keine Hoffnung sind.

Und es gibt eine Verbindung zwischen ihnen und uns, auf die wir uns beziehen, an die wir anknüpfen und auf der wir aufbauen können: die viel beschworene Liebe. Damit meine ich nicht die romantische oder die göttliche Liebe, keine spirituell vage Dimension, sondern die ganz einfache Liebe, die Mutter und Vater ihren Kindern schenken vom Anbeginn unserer Entwicklung im Mutterleib, vom ersten Schluck Muttermilch bis zur Umarmung des uns anerkennenden Vaters.

Wir alle wissen um die Kraft und Bedeutung dieser Liebe. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns gern über ihren Mangel beklagen. Und doch haben wir sie alle bekommen, neun Monate im Mindesten – die meisten von uns in satten Portionen sehr viel länger, und gar nicht wenige ein Leben lang.

Mühelos steinige Wege gehen

Inwieweit wir Kontakt zu ihr aufnehmen und wir ihre Pforten auftun können, inwieweit diese Liebe keine bloße Sehnsucht bleibt, sondern stärkende Wirklichkeit wird, das alles hat mit uns zu tun, damit nämlich, ob wir zu ihr hinschauen und sie – trotz mancher Mängel in uns – als unsere Herrin anerkennen, ob wir Dankbarkeit begreifen können als Resilienzwerkzeug für uns selbst. Je mehr uns das gelingt, desto widerstandsfähiger werden Geist und Herz und desto liebesfähiger werden wir selbst. Und desto mehr erschließen wir uns eine Quelle der Kraft, die mit dem Beginn der Evolution zu strömen begann und noch strömen wird, wenn wir selbst längst nicht mehr sind. Solche Liebe ist keine Verpflichtung und kein Gepäck; sie macht uns leichter und lässt uns, mit ihr als Marschverpflegung, die weitesten und steinigsten Wege erstaunlich mühelos gehen – und sie an unsere Kinder, Freunde und Weggefährten weiterreichen.

Die Familie ist der letzte gute Rest des Stammes, zu dem wir einmal gehörten und der uns einstmals alles war: soziales Nest, aber auch physische Sicherheit, Ichbezug, Mitwelt- und Jenseitsverständnis. Der stabile Blick nach innen festigt uns für einen stabilen Umgang mit der Welt da draußen, wie auch immer sie uns begegnen mag. Und – meine Erfahrung: Je angstfreier wir der Welt begegnen, desto weniger furchteinflößend schaut sie zurück. Die Familie schützt uns vor den manchmal subtilen, oft aber massiven Sachzwängen und Zwängen von Welt und Gesellschaft. Wir lernen dann, dass die Liebe in uns und die Gaben der Natur für uns ineinanderfließen und unnötig zu trennen sind. Dass wir weder Ersatz noch Krücken brauchen, um aufrecht zu stehen und zu gehen. Dass eine unfassbar starke, über Jahrhunderte tragende Therapie und Heilung in uns der Entdeckung und Erschließung harrt. Dass wir als Teil einer Familie – und das muss nicht notwendig Blutsfamilie, Gruppe oder Nation sein – weder Konsum noch Kirche, weder Hierarchie noch Autorität brauchen, dass wir Übergriffe des Staates nicht fürchten müssen und im besten Fall auf ihn pfeifen können. Denn „Familie“ bedeutet in einem anderen Wort „Solidarität“.

So verstanden ist Familie eine mächtige Form weltweiten Widerstands. Am Ende wären wir Gleiche unter Gleichen und alle Moden, ob sozial, physisch oder psychisch, wären uns egal. Wir wären Demokraten, die die Autorität des Besseren, Fähigeren, Kommunikativeren oder Empathischeren anerkennen und nicht die Herrschaft des Mächtigeren, der wir sonst so gerne selbst wären, weil uns die Stärke im Herzen und die Familienzugehörigkeit fehlt.

Familie als Form des Widerstands II