Ein Interview mit Sven Lager, geführt von Hélène Vilalta
Sven Lager, 1965 geboren, leitet das Sharehaus Refugio in Berlin-Neukölln. Zehn Jahre lebte er mit seiner Frau Elke Naters und seinen Kindern in Südafrika, wo beide das erste Sharehaus (Sharehouse) gründeten. Das Schriftstellerpaar entwickelte dann ein Sharehaus in Berlin-Kreuzberg bis das Sharehaus Refugio im Juli 2015 eröffnete. Die Berliner Stadtmission e.V. ist Träger der Berliner Sharehäuser, die Sven Lager und Elke Naters beratend leiten und konzipieren.
H: Vor der Gründung des Sharehaus Refugio gab es das Sharehaus. Wie kam es dazu, und was ist ein Sharehaus?
S: Das Sharehaus ist ein Haus, in dem alle wertgeschätzt werden. Jeder Mensch kann etwas, jeder Mensch hat Talent, jeder Mensch ist einzigartig und kreativ. Von Südafrikanern, die wenig hatten, lernten wir, dass Teilen reich macht. Wir mieteten ein heruntergekommenes Fischerhaus, und gründeten das Sharehouse.
Im Sharehaus (damals Sharehouse) blühten Menschen auf; Musiker, Reisende, Künstlerinnen, Jugendliche aus allen Kulturen kamen zusammen, machten Musik, hielten Vorträge, legten den Garten an, eröffneten eine Holzwerkstatt, redeten Unsinn, halfen einander und wurden eine Gemeinschaft. Ein obdachloser und lahmer Drogensüchtiger verliess das Sharehaus seelisch und körperlich geheilt und versöhnt mit seiner Familie. Unser Sharehaus inspirierte viele. Kreative Projekte wurden umgesetzt.
In Deutschland zurückgekommen, entwickelten und leiteten wir das Berliner Sharehaus im Fürbringerkiez in Kreuzberg dank der Initiative von Andreas Schlamm, dem neuen Bildungschef der Berliner Stadtmission. Ein zweites, größeres Sharehaus wurde 2015 konzipiert und im Juli eröffnet, das Refugio: leben und arbeiten mit Geflüchteten. Der Gedanke dahinter: Die Werkstatt für Himmlische Gesellschaft. Das ist nicht religiös gemeint, sondern vom Glauben motiviert, dass jeder Mensch kostbar ist, und Himmel auf Erden tatsächlich gelebt werden kann, denn alle sind eingeladen.
H: Was hat dich persönlich dazu inspiriert?
S: Zum einen war es für mich als Einzelkind interessant zu sehen, wie funktioniert Familie, wie funktioniert Gemeinschaft, und dann die Probleme der Welt zu sehen und ich dachte, was stimmt hier nicht?
Zum anderen aus eigener Frustration heraus. Wir – meine Frau und ich, jeder einzeln für sich – können selbst so wenig, wir haben unser Leben lang alles mögliche versucht, Kunst, Photographie, Skulptur, Radio, verschiedene Jobs, und wir haben immer gemerkt, manche Sachen liegen uns einfach nicht. Wir haben beide dann das Schreiben entdeckt, und haben da gemerkt, auch beim Schreiben sind wir sehr limitiert, wir können nur über bestimmte Dinge schreiben. Der Mensch ist limitiert. Ich kann zum Beispiel verschiedene Sachen einfach nicht, die ich gerne können würde. Wir gingen auch durch Krisen, mal haben wir kein Geld verdient, mal Geld verdient. Wir haben uns gefragt: Wer sind wir eigentlich? Was können wir arbeiten? Was ist richtig? Und wir haben gemerkt, es geht um Gemeinschaft und Wertschätzung!
Wir haben gemerkt, man muss einfach die Menschen, jeden Einzelnen, wertschätzen und akzeptieren, wertschätzen, mit dem was sie können, dann kann auch eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft entstehen. Wir kamen auf die Idee, dieses Wertschätzen und die Einzigartigkeit des Einzelnen in einer Gemeinschaft einzubetten, um uns gegenseitig zu fördern. Ich glaube, die Einzigartigkeit, mit der Gott uns geschaffen hat, ist so toll, dass wir alle gleich wertvoll sind und auch unterschiedlich in unseren Fähigkeiten, Eigenschaften und Talenten. Und die sind alle gut. Das hat uns gefehlt!
Die meisten Gesellschaften sagen uns, was wir tun müssen: Du kannst dies oder jenes werden oder Du musst mit 14 heiraten oder Du musst studieren. Anstatt zu fragen: Was machst Du gern? Menschen sind ja alle kreativ, humorvoll und haben alle tolle Eigenschaften. Und die sollten gefördert werden.
Ich glaube ja an die Umkehrung: die Gesellschaft sagt, wir brauchen 500 000 Mauer, 20 000 Architekten, also studieren sie doch Architektur oder machen sie eine Maurerlehre. Das ist unser Jobcenter-Ansatz. Eigentlich müsste das Jobcenter fragen: Was möchten Sie machen? Und daraus entsteht einen Job. Wir müssen unsere Jobs selber erfinden. Einen, den wir machen können. Und das ist für eine Gesellschaft viel besser, als irgendwo eine Leerstelle zu füllen.
Als wir, meine Frau und ich, in Südafrika in Kirchen gegangen sind, haben wir gemerkt, da ist Gemeinschaft, es ist Glaubensgemeinschaft und die funktioniert. Dann haben wir uns gedacht, das ist zwar toll, aber Religion hat manchmal was Einengendes, Kirchen haben sowas Ausschließliches. Wie kann man Gemeinschaft und Wertschätzung erweitert leben? Und da haben wir vom Sharehaus geredet, ein Haus, in dem man teilt. Wir haben ja alle genug (lacht). In Südafrika war es so, dass zwischen jung, alt, Schwarze, Weiße, Reiche, Arme, Talentierte und angeblich nicht-Talentierte Gräben waren. Und wir merkten, das stimmt nicht. Jeder kann was Tolles. Wir haben dann das „Sharehouse“ gegründet, und die Menschen ermutigten sich gegenseitig dort auf ganz wunderbare Weise und wuchsen.
Jeder Mensch ist wie eine einzigartige Pflanze und ich glaube, dass jede Pflanze, die schon gottgegeben eine einzigartige Pflanze ist, aufblühen kann und mit Hilfe ihrer Umgebung aufblüht. Es geht auch um einen tiefen Respekt vor dem Menschen, dass jeder Mensch so ist wie er ist. Nehmen wir hier jetzt die geflüchteten Menschen. Die gilt es nicht zu ändern.
Unsere Umgangsform, unsere Kultur, das Zusammenleben hier, das müssen wir zusammen erfüllen, aber die Identität der Person müssen wir nicht ändern.
H: Hat Dein Glaube mit dem Refugio zu tun?
S: Mein Glaube liegt alledem zu Grunde. Ich unterscheide zwischen Religion und Glauben. Religion ist eine vom Menschen gemachte Form, Glauben ist Dein eigenes Vertrauen in etwas Göttliches. Deshalb ist es etwas schwierig zu sagen! Ich betrachte mich als Christ und als jemand, der frei von Religion, frei von der Institution Kirche ist. Ich versuche ja sehr ursprünglich zu sein, hier im Haus interessiert mich die Konfession der Einzelnen nicht, mich interessiert der Mensch, ich sehe Gott in allen Menschen und ich diene Gott in allen Menschen. Das ist das Schöne.
H: Wo nimmst Du/Ihr die Kraft her, das alles hier in so kurzer Zeit zu schaffen?
S: Wir haben Jahre gebraucht, um dahin zu reifen. Das Schöne an göttlichen Prinzipien ist, man hat einen Traum, man wächst daran, man scheitert, man entwickelt sich, und dann ist man so weit, dass man es schaffen wird, und die richtigen Türen öffnen sich. Und so war es dann auch. Die Stadtmission hat das Budget und das Haus hier bereit gestellt, die richtigen Leute kamen zusammen, da war die Zeit auch reif. Und so entstehen Dinge zusammen, eine göttliche Orchestrierung. Deshalb gibt es auch wenig Reibereien, keine Ausbremsung…
H: Das Refugio bietet Zuflucht, Leben, Arbeiten mit Menschen unterschiedlichster Kulturen. Wie funktioniert das Zusammenleben, gibt es Bedingungen?
S: Wie in einer WG, begeisternd bis schwierig! Ja, eine sehr ambitionierte WG…
Was wir von Anfang an eingerichtet haben, ist, dass wir den Druck erhöhen. Wir haben einen Mietvertrag für 18 Monate, und innerhalb dieser Zeit sollten alle ein Ziel erreicht haben. Es ist eine begrenzte Zeit und wir wollen auch irgendwohin damit, eine Grenze, damit was passiert. Wir sind ja ganz am Anfang, es ist noch ein Test …
In anderthalb Jahren sollen die Leute hier an einen bestimmten Punkt sein. Es geht hier nicht nur um nettes Zusammenwohnen, sondern es geht darum zu sagen, in dieser Zeit habe ich bestimmte persönliche Ziele und gemeinschaftliche Ziele erreicht. Ein persönliches Ziel kann für die meisten geflüchtete Menschen Deutsch lernen sein. Deutsch lernen ist eine große Hürde für die meisten geflüchteten Menschen. Die Motivation eine Sprache zu lernen, ist sehr schwer zu haben, das kenne ich von mir selber! Und auch andere Ziele: Studieren, Job finden, Familie gründen, Selbständigkeit etc. Und da helfen wir alle dabei.
Gemeinschaftsziele können zum Beispiel sein, dass das, was wir hier gemeinsam erleben und leben, woanders aufbauen, multiplizieren, weitere Sharehäuser aufbauen und wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen. Das Sharehaus ist die Idee der Gemeinschaft, das hat mit Menschen zu tun, und Refugio ist die Umsetzung, mit geflüchteten Menschen zu leben. Ein Sharehaus kann auch mit Jugendlichen sein, die Musiker sind zum Beispiel. Es werden im Haus Botschafter ausgebildet, die weitere Häuser aufbauen. Deshalb machen wir uns gegenseitig „positiven Druck“ und helfen uns gegenseitig, damit jeder was erreicht! Und es gibt natürlich hier Bedingungen, gesellschaftliche Bedingungen. Wenn wir keine Ghettoisierung wollen, müssen wir uns alle den gleichen Werten unterwerfen. Das ist unser Weg, unsere Herausforderung, ein Exempel schaffen, wie Zusammenleben sein kann, mit Respekt untereinander, sodass jeder seine Kultur behalten darf und sodass jeder hier im Haus gleich heimisch ist, der eine kürzer, der andere länger. Das ist genau das Gegenteil von: oh ja wir Deutschen helfen Geflüchteten! Natürlich ist es im ersten Moment nicht falsch, weil die Geflüchteten zunächst Hunger haben, frieren, in Not sind und traumatisiert herkommen. Aber sie brauchen auch eine Anerkennung als Mensch: Willkommen! Schön, dass du du da bist, entspann dich! Und nicht: jetzt geht‘s gleich weiter, deine nächste Registrierung dauert noch x Jahre etc … Das ist Terror!
Die Herausforderung und das Ziel hier im Refugio sind: Können wir mit einer kompletten anderen Haltung da rangehen? Geht es? Können wir sagen: Willkommen hier, wir brauchen Euch, lass‘ uns zusammen was aufbauen? Weil es ist der einzige Weg gegen Islamismus, Attentate, Überfremdung, Fremdenhass. Indem wir sagen, wir sind gleichwertig. Ihr seid zwar neu hier aber nicht schlechter oder besser als wir. Alles dazwischen in der Immigration ist falsch.
H: Das Projekt ist noch frisch. Wie ist Deine erste Bilanz?
S: Ja (lacht), wir leben seit Juli zusammen. Wir haben zwei leere Stockwerke bezogen mit Menschen, die sich nicht kannten (lacht). Ist schon hart ja. Und ja, es wird über Mülltonnen gestritten, über Sauberkeit! Die Strukturen sind nicht immer einfach, viele Freundschaften sind entstanden, manche vereinsamen ein bisschen, da müssen wir aufpassen. Es ist generell mehr Arbeit als wir dachten, und es ist ok, uns gefällt es gut! Es ist der Anfang!
H: Wie geht es Dir hier im Bezug auf die aktuelle Situation, die Gewalt, die Attentate? Fühlst Du Dich bedroht?
S: Überhaupt nicht. Gemeinschaft ist die Lösung für diese Probleme.
Jemand, der sich radikalisieren lässt, im Islamismus oder als Ausländerfeind oder als Rechter, kommuniziert nicht, hat nicht positiv erfahren, wie Gemeinschaft funktioniert. Also eine Gesellschaft mit einer starken multikulturellen Gemeinschaft der Anerkennung, hätte dieses Problem nicht.
Unsere Antwort kann nicht sein: mehr Bomben, sondern kann nur sein: Willkommen!
Es gibt bestimmte Werte und Grundlagen, die müssen hier alle einhalten, die Sprache lernen, das Grundgesetz und eben auch „Ihr seid willkommen, wir bauen das hier mit Euch auf!“ Wenn wir diese Anerkennung erfahren, dann müssen wir uns nicht an andere Vorbilder wenden, an anderen Strukturen festhalten, die extremistisch sind. Wir haben ja etwas Starkes zu vertreten und sehen oft trotzdem so aus, als hätten wir nichts, in dieser individuellen Kultur, in der die Menschen vereinsamen. Deshalb suchen wir uns eine Vater- oder Heldenfigur in radikalen Bewegungen, das ist das Traurige.
H: Und haben die Mitbewohner_innen Angst?
S: Nein … Es hat mit den Leuten im Haus nichts zu tun, die Syrer zum Beispiel sind gar nicht illusorisch und auch dermaßen gut informiert, sei es über die ISIS oder über die USA.
H: Was bedeutet für Dich zu Hause sein, was bedeutet für Dich Heimat?
S: Gemeinschaft. Es ist der Schlüssel zu allem, wie die verschiedensten Pflanzen gemeinsam in einem Beet stehen … Und es kann überall auf der Welt sein.
Vielen Dank für das Interview.