Die Menschheit müsse aus dem blutigen Chaos des 20. Jahrhunderts lernen und sich als ein Volk begreifen. Sonst werde sie sich, so der Dalai Lama in Indien, nicht aus dem Teufelskreis der Gewalt befreien können.
Deutsche Welle: Wie sehen Sie die Terroranschläge von Paris?
Dalai Lama: Das 20. Jahrhundert war von Gewalt geprägt, mehr als 200 Millionen Menschen sind durch Kriege und kriegerische Konflikte ums Leben gekommen. Wir erleben jetzt die Auswirkungen dieses Blutvergießens des vergangenen Jahrhunderts in unserem. Wenn wir stärker auf Gewaltlosigkeit und Harmonie achten, können wir einen Neuanfang einleiten. Aber solange wir nicht ernsthaft versuchen, Frieden zu schaffen, werden wir nur eine Wiederholung des schrecklichen Chaos erleben, das die Menschheit bereits im 20. Jahrhundert durchmachen musste.
Die Menschen möchten ein friedliches Leben führen. Terroristen haben eine begrenzte Sichtweise, einer der Gründe für die zahllosen Selbstmordanschläge. Wir können dieses Problem nicht nur mit Gebeten lösen. Ich bin Buddhist und ich glaube an die Kraft der Gebete. Aber es sind Menschen, die dieses Problem geschaffen haben, und jetzt wir verlangen von Gott, dass er es für uns löst. Das ist unlogisch. Gott würde sagen, regelt das selbst, denn ihr habt das Problem erst geschaffen.
Wir brauchen einen systematischen Ansatz, um humanistische Werte wie Einheit und Harmonie zu pflegen. Wenn wir jetzt damit anfangen, dann besteht die Hoffnung, dass dieses Jahrhundert anders als das vorangegangene sein wird. Das wäre im Interesse aller. Also lasst uns gemeinsam Frieden in der Familie und in der Gesellschaft schaffen und nicht auf Hilfe von Seiten Gottes, Buddhas oder der Regierungen warten.
Ihre zentrale Botschaft handelt von Frieden, Mitgefühl und religiöser Toleranz, die Welt scheint sich jedoch in eine gegensätzliche Richtung zu entwickeln. Ist Ihre Botschaft nicht bei den Menschen angekommen?
Dem stimme ich nicht zu. Ich denke, dass nur ein kleiner Teil der Menschen sich diesem gewalttätigen Diskurs verschrieben hat. Wir sind alle Menschen, und es gibt keinen Grund und keine Rechtfertigung, andere zu töten. Wenn man andere als seine Brüder und Schwestern betrachtet und ihre Rechte respektiert, dann gibt es keinen Raum für Gewalt. Im übrigen sind unsere heutigen Problemen das Ergebnis oberflächlicher Differenzen über religiöse und nationale Fragen. In Wirklichkeit sind wir aber alle ein Volk.
Sie propagieren den sogenannten „mittleren Weg“ für die Lösung der Tibet-Frage. Glauben Sie, dass diese Strategie irgendwann einmal erfolgreich sein wird?
Ich glaube es ist der beste Weg. Viele meiner Freunde, inklusive indische, amerikanische und europäische Spitzenpolitiker, halten dies für den realistischen Weg. Auch in Tibet unterstützen politische Aktivisten, chinesische Intellektuelle und Studenten unsere Politik des „mittleren Wegs.“
Wenn ich chinesische Studenten treffe, sage ich ihnen, dass wir nicht Unabhängigkeit von China suchen. Sie verstehen unsere Herangehensweise und fühlen sich unserer Sache nahe. Es geht nicht nur um Tibet; wir leben im 21. Jahrhundert und jegliche Art von Konflikt sollte durch Dialog und nicht Gewalt gelöst werden.
Wer wird Ihnen als Dalai Lama nachfolgen?
Das ist nichts, was mich beschäftigen würde. Ich habe 2011 angekündigt, dass es die Entscheidung der Tibeter sei, ob sie die Institution des Dalai Lama beibehalten möchten. Wenn die Menschen der Meinung sind, dass diese Institution nicht länger relevant ist, sollte sie abgeschafft werden. Ich bin nicht mehr mit politischen Angelegenheiten beschäftigt. Mich interessiert allein Tibets Wohlergehen.
Indien wird zunehmend Schauplatz religiöser Intoleranz. Was denken Sie darüber?
Das ist ein falsches Bild von Indien. Nur ein paar Individuen verursachen dieses Problem. Die Wahlen im Bundesstaat Bihar haben gezeigt, dass die Mehrheit der Hindus an Harmonie und Koexistenz glaubt.
Der Dalai Lama ist der spirituelle Führer des tibetischen Volkes.