Seitdem im sächsischen Heidenau hunderte Bürger mit Steinen und Flaschen gegen ihre neuen Nachbarn protestierten, ist in Deutschland wieder die Rede, von der Masse der Anständigen, die sich dem rechten Mob entgegensetzen müsse. Ein Besuch in der Stadt zeigt: Es ist viel schlimmer. Ein Artikel von Fabian Köhler bei unserem Partner Migazin veröffentlicht.
Es ist schwer in Heidenau jene Menschen zu finden, die man braucht, um anschließend schreiben zu können, dass nicht alle in Heidenau so sind. Nicht so sind wie die rund 1.000 Neonazis, die in den letzten Wochen Flüchtlinge mit Böllern, Flaschen und Steinen begrüßten. Der untersetzte Mann auf den Stufen vor der Flüchtlingsunterkunft hilft da auch nicht weiter: Bierbauch, Bierflasche, Jogginghose, sächsischer Dialekt bis zur Unverständlichkeit.
Es ist nicht einfach, ihn zu beschreiben, ohne das Klischee vom rassistischen Provinz-Ossi zu bestätigen. Sobald er den Mund aufmacht, tut er es ohnehin selbst: „Der Baumarkt wird nicht mehr lange stehen, das ist klar“, sagt er und grinst in sich hinein. Ja, er habe etwas gegen Flüchtlinge. „Weil die nicht arbeiten und wir Deutschen haben nichts.“ Oder: „Weil die uns die Arbeit wegnehmen und wir Deutschen haben nichts.“ Wie lang er hier noch sitzenbleiben wolle? „Bis die Ausländer weg sind.“
Wie eine bitterböse Parodie auf Lichtenhagen
Hätte man zum 23. Jahrestag von Rostock Lichtenhagen eine bitterzynische Parodie auf die Ausschreitungen von damals geschrieben, die Realität von Heidenau hätte sie wohl noch übertroffen: Hunderte Neonazis wüten zwei tagelang nahezu ungestört. Die Polizei zwischen überfordert und untermotiviert. Trotz 33 Verletzten in ihren eigenen Reihen, gibt es nur eine Festnahme. Ein Journalist. Und als schließlich doch noch die Wasserwerfer rollen, gelten diese linken Gegendemonstranten.
„Als wir mit Bus am Samstag hier ankamen, hab ich nur gebetet, bitte lass uns nicht hier anhalten“, erzählt Mahmud von dem Tag, als er nach Heidenau gebracht wurde. Ob man ihm gesagt habe, warum? „Nein“. Erklärt, was in Heidenau auf ihn wartet? „Nein, nichts“. Vor zwei Monaten flüchtete er aus der syrischen Stadt Aleppo. „Ich dachte, der Krieg sei vorbei“, ist einer der Sätze, die aus dem Mund eines Kriegsflüchtlings erst übertrieben wirken bis sie dann doch die ganze dramatische Realität von Flüchtlingen in Deutschland offenbaren.
Hinter welchem Busch versteckt sich die schweigende Mehrheit?
600 von ihnen sollen in Heidenau untergebracht werden. Umgeben von Bauzaun und Sichtschutzplanen. Von der Außenwelt abgeschottet durch Polizeiwannen und Bundesstraße. Jenseits dieser stehen die Gaffer hinter den Büschen vom Real-Parkplatz und auf der kleinen Anhöhe zum Märchenpfad. Eine junge Frau in Steno: Nichts gegen Flüchtlinge… Aber wir Deutschen… Warum gerade bei uns… Wir kriegen doch auch nichs… Wer weiß, was die hier anstellen, die Flüchtlinge… Sind das patriotische Europäer? Besorgte Bürger? Ganz normale Deutsche? Nazis? Pack? Und hinter welchem Busch versteckt sich eigentlich diese Mehrheit von Menschen, die nicht nur eigentlich, sondern wirklich nichts gegen Flüchtlinge hat?
Auf dem kleinen Parkplatz diesseits der Absperrungen zur Flüchtlingsunterkunft versucht sich Sigmar Gabriel an diesem Montagvormittag mit einer Antwort. Vor dem Baumarkt, in dem 300 Menschen auf enggestellten Pritschen in einem einzigen Schlafsaal leben, sagt er: „Wir sind ein ganz mitfühlendes Land.“ Ein bisschen klingt das, als würde Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Tatenlosigkeit der Polizei in Heidenau mit „gesamte Härte des Rechtsstaates“ kommentieren. Jene, die am Montag Böller, Flaschen und Steine auf Polizisten warfen und Flüchtlinge seien: „Leute aus dem Rand der Gesellschaft. … Das ist Pack, das sich hier herumtreibt.“ Auf der anderen Seite der Gesellschaft: Leute wie Heidenaus Bürgermeister Jürgen Opitz, der „kein Millimeter zurückgewichen“ sei.
Die Politik bleibt chronisch untätig, bis sie sich chronisch überfordert geben kann
Rassistische Minderheit vs. schlimmstenfalls schweigende aber eigentlich irgendwie doch ganz flüchtlingsfreundliche Mehrheitsgesellschaft. So lautet auch nach Heidenau wieder die gängige Einteilung. Einer dieser anständigen Deutschen könnte Mesbah sein, wäre er nicht Iraner. Ein paar Stunden nach dem Gabriel wieder verschwunden ist und längst wieder die Besorgten hinter den Real-Büschen ihre Parolen brüllen, kommt der Aktivist am Baumarkt an.
Mesbah ist selbst Flüchtling. Mit seiner Frau war er am Freitag einer der ersten Gegendemonstranten, die sich bis zu 1.000 Nazis entgegenstellten: „Die Polizei hat uns gesagt, dass sie uns nicht schützen können, ich denke, sie wollten es auch nicht“, sagt er und beginnt zu erzählen: von Zeltstadt und Chemnitz; von Pegida und Polizeigewalt; von den Flüchtlingen, die sich in diesem Moment in Leipzig weigern, nach Heidenau gebracht zu werden. Von seinem Bundesland Sachsen, das sich – wie viele andere Bundesländer – chronisch weigert, sich auf höhere Flüchtlingszahlen einszustellen. Um sich dann nach Turnhallen, Zeltlagern und Naziprotesten wie in Heidenau chronisch überfordert zu geben. Ob es an den letzten Abenden wirklich keine Unterstützung aus dem Ort gegeben habe? „Nein, ich kenne niemand“, sagt Mesbah.
Vier von Sechzehntausendeinunderteinundfünfzig
Vielleicht drei Dutzend Unterstützer ziehen an diesem Montag vor den Blechkasten, den Flüchtlinge „Lager“ und Heidenauer „unser Baumarkt“ nennen. Vier von ihnen stammen aus Heidenau. 4 von 16.151. Auch von den Teilnehmer des ökumenischen Friedensgebetes, dass am Abend in rund anderthalb Kilometer Entfernung stattfindet, kommt niemand. Um „verständliche Befürchtungen um Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ soll es dort gehen. Gemeint sind die Befürchtungen der Heidenauer, nicht die der Flüchtlinge. Aber auch um Solidarität mit den Flüchtlingen. Solidarität, dort wo sie niemand empfangen kann. Weit weg von Bundesstraße und Polizeiabsperrungen, dort wo die Heidenauer nicht zur zum Tanken hinfahren. Weit weg von den Flüchtlingen.
Die für die Flüchtlinge spürbare Heidenauer Realität steht am Abend immer noch hinter der Real-Hecke. Aus einem vorbeifahrenden VW Polo ruft jemand „Wer Heidenau nicht liebt, soll Heidenau verlassen“ und „Deutschland den Deutschen“. Es ist schon Nachts, als doch noch einer seinen Weg vom Friedensgebet ins Gewerbegebiet findet. Vor der beleuchteten Baumarktkulisse gibt Oberbürgermeister Jürgen Opitz seine täglichen Interviews. Auch er wählt starke Worte gegen jene, die nicht sein Heidenau seien. „Wenn ich die Gaffer hinter der Hecke sehe, kriege ich sonen Hals und sonen Kamm“, sagt er. Es wirkt wie die Einleitung dafür, was er eigentlich sagen will: „Neonazis gib es nicht nur in Heidenau, die gibt es in jedem Ort.“ Der Rest des Interviews dreht sich um Sorgen und Heidenauer Imagepflege.
Auch ein kleines Stück Rasen ist an diesem Abend voll mit Sorgen. Solche Sorgen, über deren Berechtigung man nicht diskutieren braucht. Dass in drei Wochen sein Kind auf die Welt kommen müsste, er aber nicht einmal wisse, ob seine Frau noch lebt, hatte Ahmad aus Syrien schon am Vormittag erzählt. Jetzt fragt er wieder, ob es „nicht doch eine Möglichkeit gibt, sie nach…“. Als seine Stimme bricht, dreht er schnell den Kopf weg. „In der Türkei, im Libanon, im Irak haben uns die Menschen Willkommen geheißen. Warum könnt ihr Deutschen das nicht?“, fragt Sami aus Aleppo. Vor ihm und den übrigen rund ein Dutzend Flüchtlingen wirft ein Peace-Zeichen aus Teelichtern etwas Licht auf den dunklen Baumarktparkplatz von Heidenau. Aufgestellt hat es eine Gruppe Afghanen.