Die argentinische Agentur Tierra Viva startet „Minga“, eine kostenlose Bilddatenbank, die das Leben und die Produktion kleinbäuerlicher Familien, indigener Gemeinschaften, des landwirtschaftlichen Genossenschaftssektors und sozioökologischer Versammlungen widerspiegelt. In dieser ersten Phase haben zwölf Fotografinnen und Fotografen Bilder beigesteuert, die die Vielfalt Argentiniens zeigen, die zu Ernährungssouveränität und Buen Vivir, dem guten Leben, beiträgt.
Von Nicolás Pousthomis*
„Sie sehen es nicht“. Mit der Gewandtheit eines jugendlichen Streamers rezitierte Javier Milei, Argentiniens ranghöchster Manager, den Satz von seinem Handy aus, so dass diese Worte in die virtuelle Galerie der sozialen Netzwerke, der künstlichen Intelligenz, der verschiedenen „Löwen“ und der Selfies mit Donald Trump und Elon Musk auf seinem Konto im X-Netzwerk (früher Twitter) hinzugefügt werden konnten.
In den letzten Wochen hat sich der Slogan, der ausgerechnet auf Twitter, dem Lieblingsterritorium des Präsidenten, geboren wurde, über den virtuellen Raum der Netzwerke hinaus in den Alltagsdiskurs eingeschlichen. Während Fotografen bei jeder Demonstration systematisch angegriffen werden, lohnt es sich zu fragen: Was ist es, was sie „nicht sehen“? Warum zeigen sie mit dem Finger auf diejenigen, die angeblich „kurzsichtig“ sind, und verfolgen gleichzeitig diejenigen, die zeigen wollen?
Repression ist die Schaumkrone eines Phänomens, das alles andere als unschuldig ist, sondern ganz bestimmte Ziele verfolgt. Die Wirkung des Tränengases verpufft nicht auf der Straße, sondern erstreckt sich auf den symbolischen Kampf, den die Herrschenden an allen Fronten zu führen bereit sind. Ohne Fotos sind die Statistiken die einzigen, die aus diesem irritierenden Dunst auftauchen.
In ihrem Buch Ch’ixinakax Utxiwa weist die bolivianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui darauf hin, dass „Worte im Kolonialismus eine ganz besondere Funktion haben: Sie bezeichnen nicht, sondern verbergen“, als Vorboten einer Geschichte des Vergessens. Fotografie ist unwiderruflich Erinnerung. Sobald sie aufgenommen ist, wird sie zu einer Aufzeichnung der Vergangenheit. In einem Land wie Argentinien, in dem der Strudel der Ereignisse uns zu einem selektiven Gedächtnis zwingt, um uns daran zu erinnern, was erst vor ein paar Tagen passiert ist: Wie sollen wir da eine kollektive Geschichte konstruieren, wenn wir nicht einmal die richtigen Bilder haben, um die Geschichte der Gegenwart zu erzählen? Vor diesem Hintergrund und mit diesen Fragen im Hinterkopf haben die Mitglieder der Genossenschaft Tierra Viva Minga ins Leben gerufen: die erste Bilddatenbank für die familiäre, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft.
Es wäre anmaßend zu behaupten, die Initiative habe eine andere Funktion als die Bereitstellung von kostenlos herunterladbaren Fotos für ländliche Organisationen, Forschende, Journalisten – für alle, die daran interessiert sind, die Geschichte des ländlichen Raums aus der Perspektive derjenigen zu erzählen, welche die Nahrung produzieren und verarbeiten, die auf den Tischen der Bevölkerung landet. Die fünfhundertsiebzig Bilder, die den ersten Upload vervollständigen, vermitteln dem Betrachter das Gefühl, vor einem Projekt von größerem Umfang zu stehen – einem Projekt, das geboren wurde, um zu wachsen.
Die Titelseite der Website, die jetzt online und in Betrieb ist, funktioniert wie ein Chorgespräch von Autoren aus dem ganzen Land in einem Schmelztiegel frischer und geschmackvoller Fotos. Bilder, die die Genossenschaft Tierra Viva nach bestimmten Kriterien ausgesucht hat, um eine Galerie zu schaffen, die sich auf das Land bezieht, auf das, was ihm entspringt und was es am Leben erhält.
In dieser ersten Phase trugen zwölf Fotografinnen und Fotografen mit ihren Bildern zu dieser Fotogalerie bei und bauten eine Website mit vielfältigem und hochwertigem Material auf. Die Website, die ihren Namen von den gemeinsamen Treffen zur Durchführung einer kollektiven Aufgabe mit sozialem Nutzen hat, benötigte mehr als ein Jahr für die Vorbereitung und erforderte neben den Autorinnen und Autoren ein ganzes Team für die Programmierung der Website, die Ausarbeitung der Lizenzen, die Bearbeitung der Fotos, die Katalogisierung des Materials und den Aufbau der Projektidentität.
Minga ist somit ein leistungsfähiges Instrument, das sowohl als präzise Suchmaschine für praktische Zwecke als auch als umfassende visuelle Darstellung des Lebens auf dem argentinischen Land funktioniert.
In dieser Welt der Bilder spielt die Fotografie eine immer wichtigere Rolle bei der Bedeutungskonstruktion. Vor kurzem ist ein neuer Begriff aufgetaucht, um die Unersättlichkeit zu beschreiben, mit der wir Bilder im ständigen Fluss der sozialen Netzwerke und der Massenproduktion konsumieren. Ikonografie bezeichnet das permanente Verschlucken von Bildern und suggeriert gleichzeitig ihre Fähigkeit, sich von ihren Produzenten zu ernähren und neue Fotos mit der gleichen Fähigkeit zur Aufnahme und Selbstreproduktion hervorzubringen. Der Überfluss an Bildern verbirgt in Wirklichkeit einen Mangel an Erzählung. Der ständige und unstillbare Hunger ist nicht ein Produkt der Knappheit, sondern der Qualität der Nahrung.
Dieses „Saatbeet der Bilder“, wie die Mitglieder von Tierra Viva es im Gegensatz zur lukrativen Idee der „Bank“ definieren, soll einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Kommunikation der Agrarökologie, des ländlichen Raums, der Lebensmittel produziert, und aller Protagonisten dieses ländlichen Modells leisten, das für Ernährungssouveränität und gutes Leben eintritt.
*Bildredakteur bei Agencia Tierra Viva und Minga.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Anja Schlegel und Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!