Mit der Überwaschung des Personenverkehrs über das Mittelmeer durch Sicherheitsbehörden ist Frontex in den Vordergrund gerückt – und das nicht mit guten Ergebnissen.

Der Schiffbruch bei Pylos im vergangenen Juni, eine der größten modernen Tragödien in griechischen Gewässern, forderte mehr als 600 Menschenleben. In der Zeit nach diesem Unglück erreichte die Kritik an der Arbeit der Grenzschutzagentur der Europäischen Union, Frontex, in Griechenland einen historischen Höchststand. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung der EU-Bürgerbeauftragten Emily O’Reilly über das Vorgehen von Frontex bei Such- und Rettungsaktionen kritisierte die Agentur, weil sie es versäumt habe, eine „aktivere Rolle“ zu übernehmen, und kam zu dem Schluss, dass Frontex nicht in der Lage sei, die Werte der EU zu wahren.

Der Direktor von Frontex, Hans Leijtens, erklärte daraufhin, Frontex sei eine Suchorganisation mit der Aufgabe, Grenzen zu sichern, und keine Rettungsorganisation. Dies wurde vom griechischen Minister für Migration, Dimitris Kairidis von der regierenden konservativen Partei Neue Demokratie, unterstützt, der sagte, die Organisation sollte weiter gestärkt werden, aber nicht in der von O’Reilly vorgeschlagenen Weise, sondern „in Richtung Grenzschutz“.

Unzureichend und unangemessen

Nach der Schiffskatastrophe kündigte Frontex an, eine eigene Untersuchung in Form eines Berichts über „schwerwiegende Vorfälle“ (SIR) durchzuführen, um mögliche Menschenrechtsverletzungen zu ermitteln. Der Bericht wurde Anfang Dezember fertiggestellt und Ende Januar von der Journalistin Eleonora Vasques veröffentlicht. In dem Bericht wurde festgestellt, dass die griechischen Behörden „unzureichende und unangemessene Mittel“ zur Rettung der Menschen an Bord der Adriana eingesetzt und sich erst darum bemüht hatten, als es „zu spät war, alle Migranten zu retten“.

Um zu untersuchen, wie Frontex intern über Menschenrechtsverletzungen berichtet, hat I Have Rights die Agentur im Rahmen einer Informationsfreiheitsanfrage um alle SIR-Berichte von den Inseln Samos und Lesbos (wo sie Küstenpatrouillen einsetzt) von September 2020 bis September 2023 gebeten. Wir erhielten 38 SIRs, aber uns wurde mitgeteilt, dass zwei weitere SIRs nicht veröffentlicht werden können, da sie „Gegenstand laufender Untersuchungen“ seien.

Das Grundrechtsbüro von Frontex, dessen Aufgabe es ist, die Einhaltung der Grundrechte durch die Agentur unabhängig und „wirksam zu überwachen“, untersucht mutmaßliche Rechtsverletzungen. Kommt das Büro zu dem Schluss, dass es zu „schwerwiegenden oder wahrscheinlich anhaltenden“ Verstößen gekommen ist, kann gemäß Artikel 46 der Frontex-Verordnung die Tätigkeit der Agentur in einem EU-Mitgliedstaat ausgesetzt oder sogar beendet werden. Die Wirksamkeit des Büros wird jedoch von den Mitgliedstaaten bestimmt, die entscheiden, wo, wann und wie Frontex und seine Rechtsbeobachter tätig werden.

Gemäß den Arbeitsverfahren von Frontex sollte ein SIR (Serious Incident Report) erstellt werden, wenn ein „schwerwiegender Vorfall“ eingetreten ist, z. B. eine Verletzung der Menschenrechte oder des Völkerrechts. Das Ziel ist es, das „Problembewusstsein “ von Frontex zu erhöhen, und ein SIR kann Anlass für Folgemaßnahmen sein.

Mit diesem „Situationsbewusstsein“ verteidigt Frontex seine Operationen und sein ständig wachsendes Budget, das für 2021-27 auf fast 11,3 Milliarden Euro gestiegen ist. Im Jahr 2022 gab Frontex 79 Millionen Euro für Abschiebungen aus, aber nur 2,8 Millionen Euro für Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte. Die EU-Mittel für Griechenland in den Bereichen Polizei, Grenzen, Asyl und Integration wurden unterdessen massiv auf knapp über 1,5 Mrd. EUR für den Zeitraum 2021-27 aufgestockt.

Pushbacks aus Griechenland

Von den 38 SIRs, die an I Have Rights weitergeleitet wurden, bezogen sich 32 (84 %) auf Vorfälle, bei denen Menschen auf der Flucht versuchten, Griechenland zu erreichen, und 19 (50 %) verwendeten den Begriff „Pushback„. Von den 19 Pushback-bezogenen SIRs:

  • 16 (84 %) konnten keine endgültige Aussage darüber treffen, ob während des Vorfalls Menschenrechte verletzt wurden, obwohl zehn (52 %) betonten, dass solche Anschuldigungen „glaubwürdig“ oder „plausibel“ seien;
  • zehn (52 Prozent) gaben an, dass die griechischen Behörden den Vorfall nicht aufzeichneten, sich weigerten, relevante Informationen weiterzugeben, oder anderweitig unkooperativ waren;
  • zwei (10 Prozent) konnten „zweifelsfrei nachweisen„, dass die griechischen Behörden oder „Personen, die in Abstimmung mit den griechischen Behörden handeln„, gewaltsame Pushbacks durchgeführt und Fakten falsch berichtet haben, was dazu beigetragen hat, „diese Realität zu verschleiern„, und
  • nur einer kam zu dem Schluss, dass sich die Behauptungen über Gewalttätigkeiten von Frontex-Beamten als falsch erwiesen haben.

Obwohl Frontex behauptet, die „Augen und Ohren“ Europas zu sein – mit einem riesigen Budget, das für Überwachungsdrohnen und Hightech-Ausrüstung ausgegeben wird, um das Geschehen an Europas Grenzen zu überwachen – waren die meisten dieser SIRs des Grundrechtebüros nicht in der Lage, Schlussfolgerungen über Menschenrechtsverletzungen zu ziehen, während sie durchweg die mangelnde Kooperation der griechischen Behörden dokumentierten. Dies wirft Fragen über die Stärke des Amtes auf – zumal OLAF, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, in einem Bericht über Frontex aus dem Jahr 2020 Beweise dokumentiert hat, die darauf hindeuten, dass die Institution es vorziehen würde, nicht Zeuge solcher Fälle von angeblicher Pushbacks zu werden.

Von den beiden SIRs, die zu dem Schluss kommen, dass es „keinen Zweifel“ daran gibt, dass die griechische Küstenwache gewaltsame Pushbacks durchgeführt hat, untersuchte einer einen viel beachteten Vorfall, der auf einem von der New York Times veröffentlichten Video festgehalten wurde, das zeigt, wie Männer, Frauen und Kinder von maskierten Männern aus einem nicht gekennzeichneten Lieferwagen auf Lesbos in ein Schiff der griechischen Küstenwache gebracht werden. Dieser Bericht kam zu dem Schluss, dass man sich auf die Berichterstattung der griechischen Behörden in diesem Fall nicht verlassen kann, da sie „irreführende Informationen über ihre Patrouillen“ lieferten und „die Aufnahmen anschließend gelöscht wurden“.

Der andere SIR kam zu dem Schluss, dass der Vorfall Teil eines „etablierten Musters“ von Pushbacks durch die griechische Küstenwache war. Dabei wurden 17 Personen von einer Gruppe maskierter Männer zurückgedrängt und misshandelt. Ihre Habseligkeiten wurden gestohlen, und sie wurden „letztendlich von griechischen Beamten und/oder Personen, die in Absprache und Koordination mit ihnen handeln, in die Türkei zurückgedrängt“. Der SIR kam zu dem Schluss, dass der von den Migranten beschriebene und durch andere Beweise untermauerte „Abschiebungsmechanismus im vorliegenden SIR nicht einzigartig oder neu ist“ und behauptete, die griechischen Behörden hätten den Vorfall falsch gemeldet, da sie die Gruppe „lediglich gesichtet“ hätten.

Mehrere SIRs deuten darauf hin, dass die Frontex-Bediensteten die Anweisungen der griechischen Küstenwache befolgt haben, schwerwiegende Vorfälle nicht zu melden. In einem heißt es, dass „die Frontex-Beamten ihren Verpflichtungen nicht nachkamen und den Vorfall nicht in ihre Berichte aufnahmen, nachdem sie entsprechende Anweisungen der griechischen Beamten befolgt hatten“. In einem weiteren Bericht wurde der Vorfall nicht erfasst und „der Ort der Entdeckung in griechischen Gewässern und die Beteiligung von Frontex“ ausgelassen.

Mandat nicht erfüllt

Frontex argumentiert oft, dass ihre Präsenz an den Grenzen die Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet. Die meisten der hier analysierten Berichte enthalten jedoch nicht genügend Beweise, um dies zu untermauern und legen nahe, dass das Grundrechtsbüro sein Mandat nicht erfüllt.

In seiner Antwort auf die Ergebnisse des EU-Bürgerbeauftragten behauptete Leijten, Frontex sei „in hohem Maße“ auf SIRs angewiesen, während er gleichzeitig deren Bedeutung herunterspielte: „Es ist ein Bericht über einen Vorfall. Es ist nicht etwas, das bewiesen wurde. Es ist ein Signal, das zu uns  gelangt ist.“

Aber das Signal, das sie erhalten haben, ist keines, das man ignorieren kann. Ihre eigenen Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass die griechischen Behörden eine eindeutige „Pushback-Politik“ betreiben, was ausreichen sollte, um sich auf Artikel 46 zu berufen und ihre Tätigkeit in den griechischen Gewässern einzustellen. Die Weigerung der Behörde, dies zu tun, spiegelt die Ineffektivität des Amtes für Grundrechte beim Schutz der Menschenrechte wider. Darüber hinaus hat OLAF bereits zwei von Frontex beobachtete Vorfälle festgestellt, die nicht zu angemessenen Maßnahmen, einschließlich der Einleitung eines SIR-Verfahrens, geführt haben.

Im Jahr 2021 kam der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments in seinem „Bericht über die Untersuchung von Frontex zu mutmaßlichen Grundrechtsverletzungen“ zu dem Schluss, dass Frontex Berichte von Menschenrechtsorganisationen über Verstöße „im Allgemeinen missachtet“ und „nicht angemessen auf interne Beobachtungen zu bestimmten Fällen wahrscheinlicher Grundrechtsverletzungen in den Mitgliedstaaten reagiert hat, die von der FRO, dem C[onsultative] F[orum of 13 transnational organisations and NGOs] oder durch Vorfallsberichte [sic] aufgeworfen wurden“.

Klares Muster

Drei Jahre später deuten Leijtens Kommentare darauf hin, dass dies immer noch der Fall sein könnte. Die Berichte des EU-Bürgerbeauftragten und von OLAF sowie die eigenen Vorschriften von Frontex fordern die Beendigung von Operationen in Mitgliedsstaaten, in denen es wiederholt zu Verstößen kommt. Leijten behauptet, dass dies „einige Überlegungen und eine gewisse Rechtfertigung“ erfordere und dass Frontex andere Optionen habe, wie zum Beispiel den beschuldigten Mitgliedstaat aufzufordern, „angemessene Maßnahmen“ zu ergreifen, um zukünftige Verstöße zu verhindern.

Die 19 ausgewerteten SIRs, die sich auf Pushbacks beziehen, zeigen jedoch, dass wiederholt eine Überprüfung der Meldevorschriften der griechischen Küstenwache gefordert wird, was auf ein klares Muster von Behörden hinweist, die versuchen, ihre Beteiligung zu verbergen. In den beiden SIRs, in denen Verstöße „zweifelsfrei“ festgestellt wurden, empfahl das Grundrechtebüro den griechischen Behörden jedoch höchstens, „eine konsequente Politik zu verfolgen und strenge Sanktionen gegen beteiligte griechische Beamte zu verhängen“.

Diese Berichte legen nahe, dass die griechischen Behörden, wie Frontex selbst zugibt, regelmäßig Pushbacks in ihren Einsatzgebieten durchführen und dass die Präsenz der Agentur in Griechenland nicht in der Lage ist, diese eindeutigen Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Diese internen Untersuchungen belegen den regelmäßigen Einsatz von Pushbacks in der Ägäis und damit die Notwendigkeit für Frontex, Artikel 46 auszulösen.

Wie der jüngste Bericht des EU-Bürgerbeauftragten zeigt, haben die Präsenz und das Bewusstsein von Frontex die Tragödie des Schiffbruchs von Pylos nicht verhindert. Die Antwort des Direktors, dass die Rettung von Menschen nicht zum Mandat von Frontex gehöre, offenbart die mangelnde Bereitschaft der Behörde, sich selbst zur Verantwortung zu ziehen.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


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